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„Ohne Führung müsste man ganz alleine sein ...“

Kerstin KELLERMANN

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„Hanswurst" und „Prahlhans" nannte Hannah Arendt Adolf Eichmann in ihrem Buch über den Prozess in Jerusalem,1 sie konstatierte, dass „Wichtigtuerei das Laster war, das ihn zugrunde richtete". Ein arroganter Tonfall wurde ihr für diese Ausdrücke unterstellt, sogar, dass sie den Mörder Eichmann lächerlich gemacht hätte, war auf der Wiener Eichmann-Tagung des Vereins Gedenkdienst2 im März 2013 zu hören.

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Adolf Frankl, Eichmann. Mit freundlicher Genehmigung Tommy Frankl.

Dabei versuchte Hannah Arendt in ihrem Buch Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen ausführliche  Erklärungsmuster zu liefern, die die grausigen und furchtbaren Taten Eichmanns beleuchten können. Erscheint es vielen leichter, die Philosophin anzugreifen, als eigene umfassende Gedankengebäude in die Welt zu setzen, wo denn die 250.000 nationalsozialistischen „Kern-Täter" und die mordlustigen „Eichmann-Männer" so plötzlich herkamen? Arendt hätte sich über Eichmann lustig gemacht, hiess es sogar von zwei Referenten. Auch in der aktuellen wissenschaftlichen Literatur wird sie eher kritisiert als für ihre Bemühungen gelobt.3 Vom Canetti-Freund und Kabbala-Forscher Gershom Scholem wurde ihr „Herzlosigkeit" bescheinigt, denn sie hätte den Shoah-Opfern bzw. deren Nachkommen nicht ihr Mitgefühl und eigenes Entsetzen ausgedrückt, sondern gegen Zionismus und für mehr Widerstand plädiert. Das mit dem Entsetzen stimmt auch - aber es könnte sich hier um ein Missverständnis handeln: Hannah Arendt, die in Jerusalem zum ersten Mal als Journalistin arbeitete, unterlag der Vorstellung, dass sie analog zur Wissenschaft im Journalismus keine persönlichen Gefühle ausdrücken dürfe - das wäre „unter ihrem Niveau". Eine „Flucht" in Gefühle sah die Philosophin ihrer Zeit gemäss als „Sentimentalität" an. Ausserdem schrieb sie nicht journalistisch in Bildern, sondern in Gedankengebäuden und Metaphern. Gershom Scholem antwortete sie in einem Brief mit dem Hinweis auf die Rolle des „Herzens" in der Politik und bittet ihn, sich das zweite Kapitel ihres Revolutionsbuches durchzulesen.4 Auf der Eichmann-Tagung in Wien klingt es auf jeden Fall seltsam, als ein Journalist der deutschen Wochenzeitung „Die Zeit", der über den John Demjanjuk-Prozess (Beihilfe zum Mord in Sobibor) berichtete, in Bezug auf die Shoah-Zeugen auf dem Podium sagt: „Mir standen die Tränen in den Augen." Wie journalistisch Mitgefühl ausdrücken?

Keine Anklage, sondern ein Beklagen

Hannah Arendt wurde auch Unverhältnismässigkeit in Bezug auf mögliche „Mittäterschaft" von jüdischen Menschen vorgeworfen, und es stimmt schon, dass sich das betreffende Jerusalem-Buchkapitel emotional und empört liest. Es scheint ihr aber eher um ein zorniges Beklagen als um eine Anklage zu gehen. Sie stellte eben sehr hohe und manchmal beinahe menschenunmögliche Ansprüche an die Verhaltensweisen jüdischer Menschen. In Israel sind eine Zeitlang Überlebende, die „KZ-niks", unter einer Art Verdacht gestanden, nicht „mit rechten Dingen" lebend die Zeit des Nationalsozialismus überstanden zu haben. Es gab vierzig Gerichtsprozesse gegen jüdische Mittäter in Israel - Eichmann war der erste Nicht-Jude, der in Israel vor Gericht kam. Diese Überlebenden wurden „lange abwertend als Flüchtlinge, auf hebräisch ‚Plitim, bezeichnet", wie die israelische Wissenschafterin Hanna Yablonka in Wien ausführt und erst ab 1960 endlich auch als „verfolgte Juden" bzw. als Opfer anerkannt. In den weltweiten Angriffen auf Arendt ging es aber auch um den Grad der Anpassung, der Integration, ja der Unterwerfung in eine Gesellschaft. Als Autorin von „Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik"5 wusste sie genau, wovon sie sprach. Arendt warf ihrer Eltern-Generation den Glauben an eine mögliche Integration vor, die sie selbst für sinnlos hielt, wie sie in „Menschen in finsteren Zeiten" ausführt. Der Abschnitt, in dem sie Moritz Goldstein aus der Zeitschrift „Der Kunstwart" von 1912 zitiert, klingt sehr bitter:

„Wir können unsere Gegner leicht ad absurdum führen und ihnen zeigen, dass ihre Feindschaft unbegründet ist. Was ist damit gewonnen? Dass ihr Hass echt ist. Wenn alle Verleumdungen widerlegt, alle Einstellungen berichtigt, alle falschen Urteile über uns abgewehrt sind, so bleibt die Abneigung als unwiderleglich übrig."

Ein anderer Vorwurf, den ein Referent in einem persönlichen Gespräch äußerte, betraf Arendts angeblichen Rassismus gegenüber JüdInnen aus dem Osten, der sich im Briefwechsel mit Martin Heidegger zeigen würde. Doch im Nachruf für Walter Benjamin stellt sie ihre Kritik an den bürgerlichen Anpassungsversuchen in Zusammenhang mit Distanz zu den armen „Ostjuden", denn es „handelte sich um das verlogene Leugnen der Existenz des Judenhasses, die mit allen Künsten des Selbstbetrugs inszenierte Absperrung dieser bürgerlichen Schichten von der Realität, zu der jedenfalls für Kafka auch die Absperrung gegen das jüdische Volk, gegen die sogenannten ‚Ostjuden gehörte, die man besseres Wissen für Antisemitismus verantwortlich machte" (6).

Apokalypse und Holocaust

Adolf Eichmann liess in nur zwei Monaten 434.351 ungarische Juden, die sich bis dahin gerettet hatten, in den Gaskammern von Auschwitz vernichten. Hannah Arendt bescheinigte ihm als Teil einer Erklärung seiner fürchterlichen Taten ein „mangelndes Selbst". Auf der Eichmann-Tagung glaubte ein Referent, dass Arendt mit dieser Bezeichnung nur „mangelnde Bildung" meinte, doch „kein Selbst" zu haben, bedeutet viel mehr als das. Die viel zitierte „Banalität des Bösen" bedeutet - an dieser Stelle versuchsweise nach der Kinder-Trauma-Therapie interpretiert - ein leeres Inneres, das sich an Führer anpasst und glaubt, ohne diese „ein Nichts" zu sein. Es wird eigentlich ein Beschützer gesucht gegen die wiederkehrenden Gespenster der Vergangenheit. Ein katastrophisches Innenleben durch Gewalterfahrung als Kind wird nach aussen gekehrt und richtet die eigenen Todes- und Selbstzerstörungsfantasien auf andere Menschen. Mortimer Ostow, ein US-amerikanischer Psychoanalytiker, formulierte in Bezug auf die extremen Apokalypse-Fantasien der Nationalsozialisten: „Ones apocalypse is the others Holocaust". Was dem einen die Apokalypse ist, wird dem anderen der Holocaust.7 Wie passiert es, dass ein Kind kein eigenes Selbst aufbauen und entwickeln kann? Durch ein Wechselbad der Gefühle zwischen „überbordender" Liebe, „Menschenbesetzung" und Ablehnung, Destruktion bzw. Hass, so dass das Kind nie weiss woran es ist? Durch den Tod geliebter Menschen, für den sich Kinder schuldig fühlen können? Durch nicht bearbeitete Todeserlebnisse und Nahtod-Erfahrungen der Eltern? Im Krieg zum Beispiel? Adolf Eichmann hatte nicht nur „kein Selbst", sondern er projizierte seine ganzen Selbstauflösungs- und Selbstvernichtungs-Phantasien auch noch auf jüdische Menschen - seine „Verarbeitungs-Versuche" landeten im Nationalsozialismus auf fruchtbarem Boden. Als Eichmann jüdischen  Menschen (und damit auch indirekt seinem „kleinen Selbst") ab 1941 keinen „Grund und Boden mehr unter den Füssen verschaffen" konnte - denn er sah die Vertreibung als Rettung an, und die war nach seinen Angaben in Jerusalem sein Hauptmotiv! -, transportierte er die armen Opfer enttäuscht, verbissen und mörderisch effizient in die Todeslager.

„Gnadentod" und Vernichtungswahn

Warum aber die 250.000 nationalsozialistischen „Kerntäter", inklusive der „Eichmann-Männer", dermassen fasziniert vom Morden waren, dass ihnen jeder Realitätsbezug verloren ging und sie ihre Todesgelüste ungeniert ausleben konnten, war auch für Arendt schwer zu fassen. Sie untersuchte Eichmann wohl als ein Exemplar seiner Generation. Es müssen sehr viele unbearbeitete Todes-Erfahrungen und Auslöser aus dem Ersten Weltkrieg stammen, die von den Vätern an die Söhne weitergegeben wurden, und statt dass die Kinder diese gegen sich selbst richteten oder auf andere Weise verarbeiteten, wurden jüdische, slawische und andere „Untermenschen" das Ziel. Arendt erwähnt in „Eichmann in Jerusalem" Interviews mit deutschen Frauen, in denen diese meinten: „Wir müssen uns nicht vor den Russen fürchten, denn der Führer gewährt uns den Gnadentod und vergast uns vorher!" Den eigenen Tod als Erlösung zu imaginieren, das sind wahre Selbstvernichtungs-Fantasien. Die Nazis boten aber genau dieses Modell, den Glauben, durch Vernichtung erlöst zu werden, als Umgang mit Todeserlebnissen an. Adolf Eichmann, der sich ohne Führung als Nichts imaginierte („Kadavergehorsam"), vernichtete Menschen „mit Selbst", die sich aber schlecht schützen konnten, weil sie auf so einen Abgrund an Brutalität und Hass nicht gefasst sein konnten. Das hätte niemand vermocht, und Hannah Arendt, deren Vater starb, als sie sieben war, und die mit ihrer Mutter im Ersten Weltkrieg flüchten musste, ahnte dieses gewaltige Loch in Eichmanns Selbst. Doch warum seine Todesphantasien und deren reale Umsetzung gesellschaftlich auf so fruchtbaren Boden fielen, konnte sie in ihrem Ausmass nur annäherungsweise andeuten. Eichmann faszinierte sie, und mit „Hanswurst" meinte sie wohl einen angeblich Getriebenen, der für sein Schicksal und seine Taten keine Verantwortung übernehmen will. In Argentinien freute sich Eichmann später, „wie gut, dass es Gtt gibt, denn ohne Führung müsste man ganz alleine sein".8

Jüdische Menschen als Ventil

Adolf Hitler bezeichnete seine Erfahrungen als Jugendlicher im Ersten Weltkrieg einmal als seine „schlimmsten, aber gefühlsintensivsten Erlebnisse", die er dringend wiederholen wollte. 250.000 NS-Täter gingen, anstatt sich gegen die Todes-Erlebnisse ihrer schweigenden Eltern-Generation und deren Folgen aufzulehnen, voller Tatendrang auf jüdische Menschen los, die als „ewige Opfer" bereits von früheren Generationen als Ventil und Blitzableiter für Trauma-Energie benutzt worden waren. Die aber über etwas verfügten, was vielen verwehrt worden war und für das die NS-Mörder keine Mühe aufwanden, um es sich langsam und Schritt für Schritt selber zu erarbeiten: ein facettenreiches Selbst, voller Kultur, Philosophie und verschiedener „Liebes-Formen" statt paranoidem, obsessivem und lustvollem Menschenhass und Todesliebe. Bei Hannah Arendt reichte ihr reiches Selbst trotz Emigration und Todes-Triggern als Kind zu einem ganzen Buch aus, wobei sie doch nur eine Reportage hätte schreiben sollen.

Anmerkungen:

1 Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, piper paperback, München 1964.

2 Eichmann nach Jerusalem. Hintergründe, Be-Deutungen und Folgen des Prozesses, 22.-24. März 2013, Aula am Campus der Universität Wien, Spitalgasse 2-4, 1090 Wien, Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien, Verein Gedenkdienst, Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien (VWI).

3 Werner Renz (Hg.): Interessen um Eichmann. Israelische Justiz, deutsche Strafverfolgung und alte Kameradschaften, Campus 2012, vgl. hier besonders den Beitrag von Bettina Stangeth.

4 Der Briefwechsel. Hannah Arendt, Gershom Scholem. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2010.

5 Hannah Arendt: Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik, Serie Piper, Neuausgabe 1981.

6 Hannah Arendt: Menschen in finsteren Zeiten. Piper, ungekürzte Taschenbuchausgabe 2012, daraus: „Walter Benjamin 1892-1940", Seite 235 bzw. 237. 

7 Zitiert nach dem Interview „Habitus ohne Mitleid. Rechtsextreme bauen sich gefährliche Gedankengebäude auf", mit Andreas Peham, Rechtsextremismusexperte des „Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands", Augustin, Mai 2013.

8 Nach Zvi Aharoni/Wilhelm Dietl: Der Jäger. Operation Eichmann: Was wirklich geschah, DVA, München 1996.