Die zweisprachige schweizerische Stadt Biel/Bienne, wunderschön gelegen an einem See und umgeben von Weinbergen, einst die Heimat Rousseaus, gilt allgemein als weltoffen. Das mag damit zu tun haben, dass die Einwohnerinnen und Einwohner schon von Kindsbeinen an gewöhnt sind, mit einer anderen Kultur umzugehen. Die Achtung voreinander, das mehr oder weniger friedliche Miteinander führt wohl zu einem toleranteren Umgang mit dem Fremden. Davon profitierten auch die Juden der Stadt, deren Geschichte die Historikerin Annette Brunschwig in einem akribisch recherchierten Buch nachgegangen ist.
Die Geschichte der Bieler Juden beginnt im Jahre 1305. Eine jüdische Witwe namens Guta erhielt in diesem Jahr eine Art Aufenthaltsbewilligung, die ihr einige religiöse und geschäftliche Freiheiten liess. Guta war als Geldverleiherin tätig. Sie war somit eine Geschäftsfrau. Im Schutzbrief wurde genau festgehalten, welchen Zins sie nehmen durfte. Erstaunlich ist, dass die Pest von 1348, welche die Obrigkeiten auf Brunnervergiftungen von Juden zurückführten und somit einen Sündenbock für die Katastrophe zur Hand hatten, für die Bieler Juden ohne Konsequenzen blieb. Zumindest haben sich keine Quellen über eine Verfolgung oder Auslöschung der kleinen Gemeinde erhalten, wie dies für die benachbarten Städte Bern, Solothurn oder Burgdorf dokumentiert ist. Bemerkenswert ist, dass sich der Rat in einer Auseinandersetzung mit Bischof Friedrich zu Rhein (1437-1451) nicht vorschreiben lassen wollte, wie er mit den einheimischen Juden umgehen solle. Man wollte dem Bischof nicht gehorchen und sich eher dem Recht der Eidgenossen anpassen. Im 15. Jahrhundert bot die Stadt einigen Juden Schutz, die aus Bern vertrieben worden waren. Doch bereits im Jahre 1450 wies auch die Stadt Biel die Juden aus, der letzte Jude ist für das Jahr 1451 belegt. Die Juden in der Eidgenossenschaft durften nur noch im aargauischen Surbtal wohnen. Dort blieben sie indessen weitgehend unbehelligt, zumindest gab es keine mörderischen Pogrome.
Bieler Synagoge an der Rüschlistrasse 3. Foto: Michael Richter.
Vom Elsass nach Biel
Zu den Errungenschaften der Französischen Revolution gehört die Verleihung des aktiven Bürgerrechts an die Juden. Doch kam es im Anschluss daran im Elsass zu Ausschreitungen. Die Lage der Elsässer Juden verschlimmerte sich, als Kaiser Napoleon ihnen am 17. März 1808 im so genannten Décret infâme die Gleichberechtigung aberkannte. Das Kreditwesen wurde eingeschränkt, die Handelslizenzen mussten jährlich beantragt werden, und für den Militärdienst durften Juden keinen Ersatzmann stellen. Zwar wurde das Dekret 1818 aufgehoben, und 1830 führte „Bürgerkönig" Louis-Philippe endgültig die Gleichberechtigung der französischen Juden ein. Doch kam es namentlich im ländlichen Elsass immer wieder zu kleineren und grösseren Pogromen. Diese Verfolgungen führten zu einem steten Exodus der Elsässer Juden in Richtung Schweiz, wo man sie jedoch auch oft nur widerwillig aufnahm. Immerhin stellte die Berner Verfassung von 1846 sämtliche Bürger unabhängig von ihrer Religion rechtlich gleich.
Für Biel ist ein Jude namens Picard im Jahre 1819 nachgewiesen. Mitte des 19. Jahrhunderts beschloss die Bieler Obrigkeit, Uhrmacher aus dem Jura unter Erlass des Einsassengeldes aufzunehmen. Dies lockte zahlreiche Juden in die Stadt. Im Jahre 1870 lebten bereits 167 „Israeliten" in der Stadt. In diesen Jahren konstituierte sich die Israelitische Cultusgemeinde Biel, die im Jahre 1883 auch für den Bau einer schönen Synagoge sorgte. Im Vorort Madretsch entstand zudem ein eigener Friedhof. Nun entfaltete sich ein reiches religiöses, kulturelles und auch sportliches Leben. Schon 1859 hatten Bieler Juden den Männerkrankenverein Bikkur Cholim gegründet, der auch für würdige Begräbnisse sorgte. Später gab es auch einen Frauenverein, das Näh- unnd Spitzkränzchen Malbisch arumim, sowie ab 1918 einen Makkabi-Verein.
Trödlergeschäft von Juliette Meyer-Picard, um 1896. Foto: Privatbesitz.
Politik und Wirtschaft
Im Jahre 1866 wählten die Bieler Louis Gerson als ersten Juden in die Deutsche Primarschulkommision. Interessant ist die Karriere des Uhrenfabrikanten René Blum-Goschler, Mitglied des Parti Radical Romand. Er wurde in verschiedene Kommissionen gewählt und errang 1908 einen Sitz im sechzigköpfigen städtischen Parlament. Auch andere Juden besetzten nun Ämter, Zeichen einer geglückten Integration. Einige fassten in der Uhrenfabrikation Fuss, so die Gebrüder Schwob aus La Chaux-de-Fonds, welche die Firma „Tavannes Watch Co." gründeten, im Jahre 1914 mit rund 1.200 Angestellten die grösste Uhrenfabrik der Schweiz! 1920 gab es in Biel über fünfzig jüdische Uhrenfabrikanten oder Uhrenhändler, unter ihnen die bereits 1880 gegründete recht bedeutende Firma „Léon Lévy et frères". Andere Bieler Juden arbeiteten im Detailhandel, als Trödlerinnen und Trödler oder auch als Reisende, Commis und Vertreter. Es gab indessen bis 1930 nur einen einzigen jüdischen Arzt, Dr. Camille Lévy, den einzigen jüdischen Freiberufler. Sehr bedeutend war die Warenhausgründung von Max/Moïse Nordmann von 1888, aus der die Kette Manor hervorging, eine heute noch bestehende bedeutende Firma.
Léon Nordmann mit Personal. Foto: Manorama AG.
War das Boot voll?
Wie anderswo auch kam es ab 1900 innerhalb der jüdischen Gemeinde zu Spannungen mit Zuzüglerinnen und Zuzüglern aus Osteuropa. Doch scheinen diese Spannungen bis zu den 1940er Jahren verschwunden zu sein, ganz im Gegensatz zu den Gemeinden in Zürich oder auch Bern. Die sozialdemokratischen Behörden unter Stadtpräsident Guido Müller ahndeten in den 1930er Jahren antisemitische Übergriffe kompromisslos und schützten somit Leib und Leben der Bieler Juden. Und als die Bieler während des Zweiten Weltkriegs mit dem Elend des „Concentrationslagers" Büren an der Aare konfrontiert waren, half die Bevölkerung bereitwillig beim Sammeln von Kleidern, Schuhen und weiteren Dingen des täglichen Bedarfs. Besonders verdient um das Wohl der Flüchtlingskinder machte sich Else Lauer, eine 1895 in Westpreussen geborene Krankenschwester. Sie kümmerte sich liebevoll um kranke Jugendliche und sprach ihnen auch moralisch zu.
Zu den traurigen Kapiteln der Schweizer Flüchtlingspolitik gehört aber die Wegweisung jüdischer Flüchtlinge, hauptsächlich an der Grenze, aber auch im Landesinneren. Besonders hart ging Major Heinrich Hatt, der Kommandant der Bieler Kantonspolizei, vor. Er übergab mehrmals jüdische Flüchtlinge direkt den Deutschen, so auch die Familie Sonabend, die in Belgien als Uhrenfabrikanten gewirkt hatte. Die Familie wurde nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Am Beispiel Hatts zeigt sich die unnachgiebige Seite der Schweizer Flüchtlingspolitik.
Heute gilt es als erweisen, dass noch mehr jüdische Flüchtlinge hätten gerettet werden können, das Boot war noch nicht voll.
Literatur:
Brunschwig, Annette. Heimat Biel. Geschichte der Juden in einer Schweizer Stadt vom Spätmittelalter bis 1945. Zürich: Chronos Verlag 2013.
Bennewitz, Susanne. Basler Juden - französische Bürger. Migration und Alltag einer jüdischen Gemeinde im frühen 19. Jahrhundert. Basel 2008.
Häsler, Alfred A. Das Boot ist voll. Die Schweiz und die Flüchtlinge, 1933-1945. Zürich 1976.
Hoerschelmann, Claudia. Exilland Schweiz. Lebensbedingungen und Schicksale österreichischer Flüchtlinge, 1938 bis 1945. Innsbruck 1997.
Huser, Karin. Schtetl an der Sihl. Einwanderung, Leben und Alltag der Ostjuden in Zürich, 1880-1939. Zürich 1998.
Kästli, Tobias. Das rote Biel 1919-1939. Probleme sozialdemokratischer Gemeindepolitik. Bern 1988.
Mattioli, Aram (Hg.). Antisemitismus in der Schweiz, 1848-1960. Zürich 1998.
Sibold, Noémi. „... mit den Emigranten auf Gedeih und Verderb verbunden". Die Flüchtlingshilfe der Israelitischen Gemeinde Basel in der Zeit des Nationalsozialismus. Zürich 2002.
Sibold, Noémi. Bewegte Zeiten. Zur Geschichte der Juden in Basel, von den 1930er Jahren bis in die 1950er Jahre. Zürich 2010.