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Generationen im Gespräch?

Nadja DANGLMEIER

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Aufgewachsen in der typischen österreichischen Mitläuferfamilie, in der die Ereignisse des Nationalsozialismus kaum Thema waren, wurde mir erst im Rahmen meines Pädagogik-Studiums an der Universität Klagenfurt bewusst, welche Themen in Gesprächen innerhalb meiner eigenen Familie ausgeklammert blieben. So hing in meiner Kindheit beispielsweise das Kameradschaftsbund-Bild meines Urgrossvaters im Wohnzimmer, was es mit diesem „Verein" allerdings auf sich hat, war mir als Kind nicht bewusst.

 

Über einen anderen Grossvater kursierten Mythen in der Familie, er sei von der Front geflohen und hätte sich irgendwo auf einer Alm versteckt, mithilfe seiner Mutter überlebt und später im Ort als Verräter gegolten. In einen geschichtlichen Kontext einordnen konnte ich diese Erzählung bis zu meinem 20. Lebensjahr nicht, als Kind machte sie mir Angst. Wenn ich allein zu Hause war, hatte ich oft das Gefühl, jemand würde mir auflauern.

Im Laufe meines Studiums entwickelte sich bei mir, auch in Anbetracht meiner eigenen Kommunikationserfahrungen in Bezug auf den Nationalsozialismus, das Interesse, dieses Thema in Hinblick auf Familien Überlebender des Holocaust zu untersuchen. Meine naive Überlegung war, den Opfern müsse es doch leichter fallen, mit ihren Kindern über ihre Vergangenheit zu sprechen, als den Tätern. Sie haben doch nichts zu verheimlichen, zu verdecken und unter den Teppich zu kehren. Doch nachdem ich begann, mich ein wenig näher mit der Thematik der intergenerativen Kommunikation in Familien von Holocaust-Überlebenden zu beschäftigen, wurde mir schnell klar, welche schwer überwindbaren Barrieren eine offene Kommunikation in den betroffenen Familien verhindern.

Die Grundlage meiner Forschung bildete ein dreimonatiger Aufenthalt in den USA. Dabei verfolgte ich vor allem zwei Schwerpunkte: Einerseits interviewte ich Holocaust-Überlebende österreichischer Herkunft und ihre Kinder und Enkel, andererseits arbeitete ich am Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies an der Yale University in New Haven (Connecticut) mit Videoaufzeichnungen von Interviews mit Holocaust-Überlebenden. Diese äusserten sich vor der Kamera zum Umgang mit ihren Erlebnissen innerhalb ihrer Familie. Das Ablegen eines Zeugnisses, sei es vor der Kamera für das Fortunoff Video Archive oder in einer Interviewsituation mit mir, ist für die Überlebenden ein schwieriger Akt. Nach einem oftmals jahrelangen Versuch des Verdrängens sollen die Erfahrungen nun in eine Geschichte verpackt werden. Vieles ist unbeschreiblich und unaussprechbar. Doch oft kommt es im Erzählprozess zu einer Kettenreaktion, von einer Erinnerung zur nächsten. Das Zeugnis ist also kein fertiger Text, sondern ein Prozess, der sich während des Sprechens vollzieht.1 Bedeutsam ist dieses „Sammeln" von Zeugnissen vor allem heute, wo die Holocaust-Überlebenden in ein hohes Alter eingetreten sind und nach Elie Wiesel „die am meisten gefährdete Menschenart der Welt"2 bilden.

Schweigen als Schutzmechanismus

In den Familien Holocaust-Überlebender herrscht ein wechselseitiger Schutzmechanismus vor, der zur völligen Blockade einer offenen Kommunikation führt. Die Überlebenden wollen ihre Kinder nicht mit ihrer Geschichte belasten und denken, durch ihr Schweigen wären die Kinder geschützt. Die Kinder hingegen beschäftigt die Vergangenheit der Eltern sehr wohl, sie sagen sogar, ihre gesamte Kindheit wäre von diesem Thema unausgesprochen überlagert gewesen. Schon immer sei ihnen bewusst gewesen, vor ihrer Geburt wäre etwas Schreckliches passiert, das man nicht ansprechen durfte, vor allem, um die Eltern nicht zu belasten und sie nicht an ihre traumatischen Erlebnisse zu erinnern. So beschäftigt sich jede Generation für sich mit der Vergangenheit und bezieht die andere nicht mit ein. Die Kommunikation in den Familien ist durch dieses Verhalten massiv gestört, ein Tabu beherrscht das Familienleben. Dieses in Familien von Holocaust-Überlebenden weit verbreitete Phänomen lässt sich sehr gut am Beispiel von Matthew B., dem Sohn eines Wiener Überlebenden, demonstrieren. Sein Vater sprach nicht über seine Vergangenheit, er war 1939 in Dachau interniert gewesen und konnte 1940 im letzten Moment in die USA entkommen. Matthew versuchte zu beschreiben, wie im bereits als Kind bewusst war, dass etwas passiert ist, worüber man nicht spricht. Ohne viele Worte wurde ihm in der Familie vermittelt, keine Fragen zu stellen:

„There is a knowledge that something happened. And there is a deep, unarticulated appreciation that you do not talk about it or a conspiracy of silence. It´s in the air in the house. It´s kind of clearly something happened and clearly nobody is talking about it."

Matthew B. sprach von einer "conspiracy of silence" - einer Verschwörung des Schweigens. Alle Familienmitglieder nehmen an dieser Teil, keiner bricht das ungeschriebene und unausgesprochene Gesetz der verbotenen Kommunikation über die Vergangenheit. Das Tabu ist ein Teil des Lebens, es befindet sich stets im Haus und verhindert das Stellen von Fragen. In Matthews Familie kam es sehr spät doch noch zu einer direkten Kommunikation mit dem Vater. Als dieser bereits sehr alt und krank war, liess er seinen Sohn und seine Tochter zu sich kommen und erzählte ihnen erstmals die Chronologie der Ereignisse. Emotionen blieben völlig ausgeklammert, berichtet wurde nur, was sich wann und wo ereignet hatte. Auslöser für das Öffnen eines familiären Dialogs können einerseits das hohe Alter der ersten Generation sein, die vor ihrem Tod noch das Bedürfnis hat, ihre Geschichte zu erzählen, andererseits aber auch das Ablegen eines Zeugnisses, etwa für ein Videoprojekt oder eine wissenschaftliche Arbeit. Mit Aussenstehenden zu sprechen, fällt oft leichter, als sich den eigenen Kindern zu öffnen.

Liegt die Hoffnung in den Enkeln?

Anders als die Kommunikation zwischen den Überlebenden und ihren Kindern verhält sich jene mit der Enkelgeneration: Durch die grössere zeitliche Distanz und das nicht unmittelbare Zusammenleben der Enkel mit den traumatisierten Grosseltern kennt die dritte Generation weniger Hemmungen, Fragen zu stellen und bestimmte Themen anzusprechen. Offene Gespräche mit den Enkeln können die schwierige Verstrickung der Kommunikation in den Familien teilweise auflösen. Geweckt wird das Interesse der Jungen an der eigenen Familiengeschichte oftmals durch Medien oder den Schulunterricht. Von den Überlebenden wird der Wissensdurst ihrer Enkel durchaus positiv gesehen, doch durch die zeitliche Entfernung und das völlig andere Leben der jüngeren Generationen wäre es schwierig, über die sachlichen Informationen hinaus etwas zu vermitteln, bekam ich immer wieder zu hören. Die Überlebende mehrerer Konzentrationslager Thea R. versuchte mir das folgendermassen zu verdeutlichen:

„Sie wissen alles. Aber sie haben es nicht am selben Körper gespürt, das ist komplett anders. (...) Wenn du an Fuss verlierst, oder wenn du a Hand verlierst, der nächste kann nicht wissen, wie sich das anfühlt, verstehst du?"

Schweigen für den Neustart

Nach der Ankunft in den USA richteten die Überlebenden sämtliche Energie auf den Neubeginn. Eine günstige Wohnung und ein Arbeitsplatz mussten gefunden, die fremde Sprache gelernt und ein neuer Bekanntenkreis aufgebaut werden. Viele bekamen kurz nach ihrer Emigration ihr erstes Kind, der Fokus wurde auf die Zukunft in der neuen Heimat gerichtet, die Vergangenheit hingegen wurde zu verdrängen versucht. Im Zuge dessen wurde in der Familie kaum über die Zeit vor dem Neubeginn in den USA kommuniziert. Vor allem über die Grausamkeiten der Nazis und das Schicksal der ermordeten Familienangehörigen wurde nicht geredet. Wann immer von früher gesprochen wurde, dann von der Zeit vor der Machtergreifung Hitlers, von der Kindheit und Jugend in Österreich. Oskar G. beschrieb im Interview, was er und seine Frau den Kindern aus ihrem früheren Leben in Österreich erzählten:

„Was ma gegessen hat, was die Mutter gekocht hat, oder was an passiert ist beim Fussball oder Kleinigkeiten, Anekdoten (...)."

Eine Belastung der Kinder sollte unbedingt vermieden werden, am besten, sie würden nichts über die Verfolgung der eigenen Eltern in Europa und den Grund für die Emigration in die USA erfahren. Thea R. brachte das sehr deutlich zum Ausdruck:

„Ich muss sagen, wir haben sie nicht beschweren wollen mit der Vergangenheit. (...) Ja, wir haben gewusst als Kind, sie kann das doch nicht verstehen."

 

Hat die Erinnerung eine Zukunft?

Bereits in einigen Jahren werden die letzten Zeitzeugen verstorben und somit Informationen aus erster Hand für uns Nachgeborene nicht mehr verfügbar sein. Doch was dann? Werden Archive und Bücher ausreichen, um die Erinnerung an den Holocaust wach zu halten? Und wie sehen die Holocaust-Überlebenden selbst die Zukunft der Erinnerung an ihre Leidensgeschichte? Eher pessimistisch, würde ich sagen. Sie befürchten, dass nach ihrem Tod, die Erinnerung aus zwei Gründen bald verblassen wird: zum Einen, weil sie glauben, die Menschen wären generell vergesslich und auf die Zukunft fokussiert, zum anderen, weil sie der Meinung sind, die jungen Leute wären zu sehr mit ihrem eigenen Leben beschäftigt, um sich mit der Vergangenheit zu beschweren.

Ich bin überzeugt, dass die von mir geführten Interviews mit österreichischen Holocaust-Überlebenden aus mehreren Gründen von grosser Bedeutung sind. Der wohl wichtigste ist das Bezeugen von Interesse am Schicksal der in Österreich Verfolgten und Vertriebenen. Die Freude darüber, Besuch von einer jungen Österreicherin zu erhalten, die aktiv Interesse an ihrer Geschichte zeigt, wurde immer wieder von meinen Interviewpartnern und -partnerinnen ausgedrückt. Mein Zuhören weckte in ihnen Hoffnung, die Erinnerung an ihr Schicksal würde in Zukunft bewahrt werden. Sie legten in mich die Zuversicht, ihre Geschichte weiterzugeben und sie somit vor dem Vergessen zu schützen. Und zu guter Letzt auch die Hoffnung, ihre persönliche Geschichte würde einen Beitrag zu einer gesellschaftlichen Veränderung leisten, weg von der Tabuisierung des Nationalsozialismus, weg von Ausgrenzung Anderer, weg vom steten Suchen nach Sündenböcken. Im Vordergrund steht also nicht nur eine blosse Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, sondern das Ziehen von Parallelen zu hochaktuellen Themen.

Zitate von Überlebenden stammen aus den von der Autorin geführten Interviews, Transkriptionen im Privatarchiv der Autorin. Nadja Danglmaier, Mag. Dr., ist Netzwerkkoordinatorin für Kärnten des Projekts „Nationalsozialismus und Holocaust: Gedächtnis und Gegenwart" des bm:ukk (www.erinnern.at) und Vorstandsmitglied des Vereins Memorial Kärnten/Koroška sowie der Österreichisch-Israelischen Gesellschaft Kärnten.

  

1  Vgl. Laub 2002, S.262 ff.

2  Elie Wiesel zit. nach Flanzbaum 2002, S.102.