Im Kontext des Synagogenbaus des späten 19. Jahrhunderts nahm Max Fleischer eine besondere Stellung ein, insofern er neben Wilhelm Stiassny nicht nur zur ersten Generation von jüdischen Architekten in Wien gehörte, sondern sich auch in positivistisch- wissenschaftlicher Weise mit der Geschichte des Tempelbaus beschäftigte.
Porträtbüste Max Fleischers am Eingang zum Wiener Rathaus. Foto: Prokop, mit freundlicher Genehmigung U. Prokop.
Während die ersten Synagogen der Neuzeit in Wien, wie der Tempel in der Seitenstettengasse oder der grosse Leopoldstädter Tempel, noch von nichtjüdischen Architekten errichtet wurden, kam erstmals - nach der völligen Gleichstellung aller Bürger 1868 - eine junge Generation von Juden, allen voran Wilhelm Stiassny (1842-1910) und Max Fleischer (1841-1905), zum Zuge. Beide wurden an der Akademie der bildenden Künste bei Dombaumeister Friedrich Schmidt ausgebildet und insbesondere auch in historisch wissenschaftlicher Weise geschult1. Einer der Schwerpunkte in Schmidts Unterricht stellte die Architekturarchäologie und die Baubestandsaufnahme von historischen Bauten dar, wobei es sich - da Schmidt einer der führenden Restauratoren war - zumeist um christliche Kirchen handelte. Diese Aufgaben wurden auch von den jüdischen Studenten ohne Berührungsängste ausgeführt und führten zu einem fundierten architekturhistorischen Wissen.
Die Wege von Fleischer und Stiassny trennten sich jedoch nach ihrem Studium. Während letzterer sich bald selbständig machte und als Bauunternehmer und Gemeinderat äusserst erfolgreich agierte, blieb Fleischer Friedrich Schmidt verbunden und arbeitete als Chefarchitekt nahezu zwanzig Jahre weiterhin in dessen Atelier. Man weiss, dass die beiden Männer - der Christ Friedrich Schmidt und der Jude Max Fleischer - auch privat freundschaftlich verbunden waren. Friedrich Schmidt, obwohl Dombaumeister, hatte einen durchaus pragmatischen Zugang zu Religionen und keine Scheu, im Stadttempel als Trauzeuge bei Fleischers Hochzeit zu agieren.2 Fleischer wiederum war als Chefarchitekt mit den zahlreichen Kirchenprojekten Schmidts befasst und blieb dennoch Zeit seines Lebens ein frommer Jude. Von Zeitgenossen als bescheiden und eher öffentlichkeitsscheu geschildert, stand Fleischer stets loyal zu seinem Vorgesetzten,3 insbesondere im Kontext des monumentalen Bauvorhabens des Wiener Rathauses - des bedeutendsten Profanbaus Friedrich von Schmidts, welchem Fleischer als Bauleiter vorstand. Als Schmidt infolge massiver Kostenüberschreitungen ins Schussfeld der Öffentlichkeit geriet, stand Fleischer ihm auch in dieser schweren Zeit zur Seite. Fleischer hat sich zweifellos mehrfach um den Bau des Rathauses verdient gemacht, neben seiner Loyalität Schmidt gegenüber ist auch anzunehmen, dass er aufgrund seiner Funktion als Bauleiter in vielen Bereichen dem Bau seinen Stempel aufgedrückt hat. Dieser Umstand war auch schon den Zeitgenossen bewusst: nicht nur, dass er für seine Verdienste seitens des Kaisers mit dem Goldenen Verdienstkreuz mit Krone und seitens der Kommune mit der Verleihung des Wiener Bürgerrechts ausgezeichnet wurde, ist auch sein Porträt als Schlussstein nach mittelalterlicher Baumeistertradition an der Vorhalle des Rathauses angebracht.
Während seiner Tätigkeit als Chefarchitekt bei Friedrich Schmidt musste sich Fleischer als eigenständiger Architekt sehr zurücknehmen. Nur einige wenige Wohnbauten sind aus dieser Zeit dokumentiert.4 Obwohl er sich offiziell erst 1887 selbständig machte, ist Fleischers zunehmende Aktivität nach Fertigstellung des Wiener Rathauses 1883 auffällig. In diesen Zeitraum fällt auch der Bau seiner ersten Synagoge, des Tempels im 6. Bezirk in der Schmalzhofgasse, den er als Präsident des Tempelvereines für Mariahilf und Neubau mitinitiiert hatte. Für rund sechshundert Gläubige errichtet, zeichnete sich das Gebäude durch eine neugotische Formensprache aus, die in grosser formaler Nähe zu den Projekten Schmidts stand.5 Damit verliess Fleischer die damals üblichen Tendenzen im Synagogenbau, die dahin ausgerichtet waren, beeinflusst von spanisch -sephardischen Bauten einen maurisch- orientalischen Stil zu instrumentalisieren, der als genuin jüdisch angesehen wurde. Insbesondere Fleischers Studienkollege Wilhelm Stiassny bediente sich bei Synagogenbauten in virtuoser Weise dieses Formenapparates. Mit Fleischers Paradigmenwechsel brach eine innerjüdische Debatte aus, deren Frage: „In welchem Baustil sollen die Tempel gebaut werden?“ typisch war für die Denkweise des Historismus des 19. Jahrhunderts, die jedem Stil seine besondere Symbolik zuschrieb und angesichts des Baubooms dieser Jahre von grosser Aktualität war. Die Debatte wurde in der Folge auch teilweise mit sehr scharfer Kritik an den Bauten des „Gegners“ geführt,6 an der sich jedoch die beiden Architekten selbst, Fleischer und Stiassny, die weiterhin befreundet blieben, keineswegs beteiligten.
Fleischers gotisierende Synagoge in der Schmalzhofgasse stiess auf grosse Resonanz, vor allem bei westlich assimilierten Juden. Bereits unmittelbar nach Fertigstellung wurde das Gebäude in einem Handbuch für Architekten als beispielhaft für jüdische Sakralbauten publiziert und nur ein Jahr später 1885 trat der Cultusvorstand von Budweis (heute Česky Budejovice, Tschechische Republik) an Fleischer heran, für ihre Gemeinde ein G'tteshaus nach dem Vorbild des Mariahilfer Tempels zu errichten.7 Die Budweiser Synagoge, deren Baufortschritt sich infolge einiger Schwierigkeiten bis 1891 hinzog, war wahrscheinlich Fleischers bedeutendstes Projekt auf dem Gebiet des Sakralbaus.8 Obwohl der Bau mit Plätzen für etwas über sechshundert Gläubige nicht übermässig gross war, erhielt er dadurch, dass er rundum freistehend war, eine besondere Bedeutung in der Stadtlandschaft. Diese für Synagogen eher seltene Situierung ergab sich durch den günstigen Umstand, dass das Gelände der ehemaligen Linz- Budweis –Pferdebahn durch deren Stilllegung gerade frei geworden und neu parzelliert worden war.9 Fleischer konzipierte tatsächlich einen imposanten „gotischen Dom“ in Sichtziegelbauweise mit einer Zweiturmfassade und einer Reihe von Wimpergen an den Seitenfronten. Auch der dreischiffige Innenraum war weitgehend einer gotischen Kirche angenähert.
Der Budweiser Tempel. Quelle: Wikipedia.
Fleischer selbst hat diese - nicht unumstrittene - Stilwahl in einem profunden Vortrag, der später auch publiziert wurde, begründet, in dem er einen umfassenden wissenschaftlich historischen Überblick über die Geschichte des Tempelbaus darlegte. In der Auflistung diverser Bauten seit der Errichtung des Tempels Salomos führt er an, dass die Synagogen sich jeweils an Zeitstil, Klima und sonstigen Gegebenheiten orientiert haben und kommt zu dem Schluss „einen speciell jüdischen Stil gibt es nicht.“10 Die Wahl eines gotischen Formenrepertoires begründet er pragmatisch damit, dass man dadurch die Baukosten senken könne, insbesondere durch den Einsatz der Sichtziegeltechnik. Dieser offenen Ausrichtung entsprechend hat Fleischer auch andere Kultbauten, wie den kleinen Kremser Tempel oder die Zeremonienhalle in Nikolsburg (heute Mikulov, Tschechische Republik) in den Formen der Renaissance errichtet.11 Neben dieser - für ihn gar nicht so wesentlichen - Frage der Formensprache waren ihm jedoch funktionelle und organisatorische Reformen ein Anliegen. So brachte er im Budweiser Tempel eine Orgelempore an - der Einsatz dieses Musikinstrumentes war damals noch durchaus umstritten - und sprach sich gegen die Frauengalerien aus. Ausserdem war es ihm ein Anliegen, die Bänke so zu konstruieren, dass man das Übergewand unterbringen konnte und anderes mehr. Viele dieser Überlegungen waren von einem rationalistisch, zweckmässigen Denken geprägt, das in orthodoxen Kreisen nicht immer geschätzt wurde. Um möglicher Kritik vorzukommen, fühlte sich Fleischer daher bemüssigt, in seinem Artikel zur Geschichte des Synagogenbaus eine Rekonstruktionszeichnung des Salomonischen Tempels gleich neben seinem Entwurf für die Budweiser Synagoge zu publizieren und damit sein Projekt sozusagen durch das historische Vorbild zu legitimieren.
Nach seinem Auftrag für die Budweiser Gemeinde konnte Fleischer in den nächsten Jahren weitere Synagogen in der Provinz und insbesondere auch in Wien errichten. Nach dem besonders schön ausgestatteten Tempel in der Müllnergasse (9. Bezirk, 1888), der durch seine Situierung zur ganz nahe gelegenen Servitenkirche in gewisser Weise auch die gesellschaftliche Eingebundenheit der örtlichen jüdischen Gemeinde demonstrierte, plante er im Auftrag der Familie Königswarter die Synagoge in der Neudeggergasse (8. Bezirk) und schliesslich die kleine Spitalssynagoge des Allgemeinen Krankenhauses (beide 1903). Diese Gebäude waren jedoch im Häuserverbund errichtet oder befanden sich überhaupt in einem geschlossenen Areal, so dass sie in ihrer architektonischen Bedeutung nicht an den Budweiser Bau herankamen.12 Fleischer fertigte auch Entwürfe für weitere jüdische Einrichtungen an, wie u. a. das Mädchenwaisenhaus der Kultusgemeinde in Wien- Döbling, oder die Zeremonienhallen in Nikolsburg und in seinem Geburtsort Prossnitz (heute Prostĕjovice, Tschechische Republik). In der näheren Umgebung von Prossnitz befand sich auch Tobitschau (heute Tovačov, Tschechische Republik), wo er um 1890 in Auftrag des „Kohlenbarons Gutmann“ das örtliche Schloss umfassend restaurierte und eine Volksschule errichtete. In Wien plante Fleischer vor allem eine Reihe von Villen und Miethäusern, wobei der so genannte Eisenhof in Margareten (1895/96) vielleicht zu seinen bemerkenswertesten zählt. Die eigenwillige Fassadengestaltung zeichnete sich durch einen üppigen Gusseisendekor aus, der eine umlaufende Balkongalerie integrierte.13
Max Fleischers Grabmal. Foto: Prokop, mit freundlicher Genehmigung U. Prokop.
Neben seiner beruflichen Arbeit trat Fleischer auch als Aquarellmaler hervor und sorgte noch zu Lebzeiten dafür, dass seine Entwürfe und Malereien im kleinen Fleischer- Museum untergebracht wurden, dessen Räumlichkeiten sich in dem weitläufigen Komplex befanden, in dem auch der Schmalzhof-Tempel situiert war. Gemäss seinem Selbstverständnis als Jude engagierte sich Fleischer in der Kultusgemeinde, wo er als Vorstandsmitglied die Funktion des Friedhofsreferenten inne hatte und für zahlreiche Grabmäler insbesondere prominenter Persönlichkeiten verantwortlich zeichnete. Darüber hinaus nahm er an den Aktivitäten des Museums für die Denkmäler und die Geschichte der Juden (der Vorläuferinstitution des Jüdischen Museums), das 1895 von Wilhelm Stiassny und anderen ins Leben gerufen worden war, teil. Fleischers kunsthistorisches Fachwissen, das ihm im Rahmen seiner Architektenausbildung zuteil geworden war, war ihm dabei zweifellos von Nutzen. Denn neben seiner Tätigkeit als Schriftführer hielt er dort auch zahlreiche Vorträge und vermittelte den Erwerb so manchen Exponates, wie u. a. ein wertvolles Faksimile der Haggadah von Sarajewo. Entsprechend der jüdischen Verpflichtung zur Armenfürsorge rief er auch einige wohltätige Stiftungen ins Leben.
Seine berufliche Tätigkeit ermöglichte Fleischer eine gutbürgerliche Existenz, die jedoch insgesamt in einem eher bescheidenen Rahmen blieb,14 wie überhaupt sein Lebenslauf von einer gewissen Tragik geprägt ist. Mit dem (damaligen) Makel der unehelichen Geburt behaftet, hatte er sicher keine leichte Kindheit. Dessen ungeachtet erhielt der Student aus dem mährischen Prossnitz in Wien die bestmögliche Ausbildung am damaligen Polytechnikum und an der Akademie der bildenden Künste. Neben der etwas eingeschränkten Tätigkeit als eigenständiger Architekt war auch sein Privatleben von Schicksalsschlägen geprägt. Seine erste Ehe war durch eine langjährige Krankheit seiner Frau überschattet. Nach ihrem Ableben ehelichte der selbst schon Kränkliche deren Pflegerin, um tragischerweise bereits einige Monate danach seinem Leiden zu erliegen.
Obwohl die meisten seiner Kultbauten vernichtete wurden, ist bis heute das Andenken an ihn nicht völlig aus dem Wiener Stadtbild verschwunden: Neben der bereits erwähnten Büste am Rathaus erinnern erst in jüngerer Zeit angebrachte Gedenktafeln an der Spitalssynagoge und an seinem Grabmal am Zentralfriedhof an seine Verdienste. ν
1 Die Ausbildungszeit von beiden fiel in eine Zeit des Überganges an der Akademie. Nachdem August von Sicardsburg und Eduard van der Nüll, bei denen Fleischer und Stiassny ihr Studium begonnen hatten, vorzeitig emeritiert worden waren, übernahm Karl Rösner vorübergehend die Architekturklasse, die dann schliesslich von Friedrich von Schmidt definitiv weiter geführt wurde.
2 Schmidt war, um eine Berufung an der Wiener Akademie zu bekommen, vom protestantischen Glauben zum Katholizismus konvertiert. Der Bericht über Schmidt als Treuzeuge findet sich in den von Fleischer verfassten Nachruf auf Friedrich Schmidt (M. Fleischer, Friedrich Schmidt als Lehrer und Mensch, Wien 1891).
3 Nachruf auf Max Fleischer, Neue Freie Presse 20.12.1905.
4 Siehe dazu Inge Scheidl, Max Fleischer, in Architektenlexikon Wien 17770-1945 (www.azw.at)
5 P. Genee, Wiener Synagogen 1825-1938, Wien 1987 u. B. Martens/ H. Peter, Die zerstörten Synagogen Wiens, Wien 2009.
6 So wurde u.a. Stiassnys im maurischen Stil errichtete Synagoge in Malacky (Slowakei) heftig kritisiert und als „arg misslungen“ bezeichnet (Wr. Bauindustriezeitung 1888, S.604).
7 Der Bau wurde bei L. Klasen, Grundrissvorbilder für Gebäude aller Art, Wien 1884 publiziert. Fleischer selbst schildert die Umstände der Auftragsvergabe des Budweiser Tempels in seinem Aufsatz „Über Synagogen-Bauten“, in Zeitschrift d. Österr. Ing. u. Architektenvereines 46.1894, Nr.18 (4.5.1894), S.257.
8 Unter anderem musste der ursprünglich ins Auge gefasste Baugrund aufgegeben werden und späterhin
verzögerten Überschwemmungen den Baufortschritt.
9 Die Synagoge in Budweis, in: Der Bautechniker 1891, S.648f.
10 Max Fleischer, Über Synagogen-Bauten, zit. Anm. 7
11 Siehe dazu H. Jagsch, Die Virtuelle Rekonstruktion der Synagoge in Krems a. d. Donau, in: David, 25. Jhg., Nr.96, März 2013, S. 6ff
12 Siehe dazu B. Martens, Die virtuelle Rekonstruktion dreier Synagogen von Max Fleischer, in: David, Nr.74. Sept. 2007 .- Die intensive Bautätigkeit dieser Jahre auf dem Gebiet des jüdischen Kultbaus kann aber nicht verschleiern, dass viele der Projekte auch grossen Anfeindungen ausgesetzt waren, wie die Umstände anlässlich der Einweihung des Kremser Tempels zeigen, wo man unter Druck der örtlichen Stellen von einer feierlichen Schlusssteinlegung absehen musste (Dr. Blochs Österreichische Wochenschrift 1894, H.39, S.756).
13 Wiener Bauindustriezeitung 1.1897, S.49, T.93, heute stark verändert.
14 Nachruf , zit. Anm. 3.