Tirza Lemberger
Eveline Goodman Thau: Vom Archiv zur Arche –
Geschichte als Zeugnis.
Bodenburg: Verlag Edition AV 2018.
348 Seiten, Paperback, Euro 20,60
ISBN 978-3-86841-222-2
Der Eisenbahnwaggon, wohlgemerkt ein Viehwaggon, der als Umschlagbild für dieses Buch gewählt wurde, symbolisiert den letzten Weg, den letzten so vieler Juden, den Weg in die Vernichtung.
Das Archiv bewahrt, was zurückgeblieben ist: die Vergangenheit, Offengelegtes sowie vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen Gebliebenes. Die Arche hingegen steht für das Überleben, für den Neubeginn nach der Katastrophe. Ein Neubeginn, der wohl nicht einfach war, ein Beginn, der bis heute nicht alle Schatten der Vergangenheit überwunden hat. Die Brücke, die von dieser schweren Vergangenheit zur Zukunft führt, ist das Anliegen dieses Buches.
Auschwitz, das zum Synonym und Symbol für die Schoa geworden ist, überschattet alles Nachkommende. Auch wenn wir bereits längst in der Arche sind, die Schatten der Vergangenheit lassen einen nicht los. So erzählt uns die Autorin über ihre Erlebnisse in ihrer Geburtsstadt Wien, die Flucht nach Holland, die Zeit im Versteck. Doch ist es keine klassische Biographie, es ist, wie die Autorin selber feststellt, eine Reflektion der „Erinnerungen der Herzen“.
Das Schreiben soll die Brücke zwischen Gestern und Morgen sein, zwischen dem Archiv und der Arche, am Schnittpunkt von Geschichte und Biographie, wie die Autorin sich ausdrückt. Sie ist nicht die einzige, die Solches empfindet. Sie zitiert unter anderem Manès Sperber, der sich in Wie eine Träne im Ozean ähnlich äussert, „dass es sich hier weder um eine Autobiographie, noch um einen Schlüsselroman handelt; dass die Politik nur Rohstoff, aber nicht Thema ist…“. Manès Sperber widmet die Autorin ein ganzes Kapitel. Schliesslich reicht sein Archiv viel weiter zurück – in das Shtetl. Auch er kämpft mit sich, wie das zuvor erwähnte Zitat zeigt.
Der Gedanke, dass die Vergangenheit keine abgeschlossene Sache und die Gegenwart ein Neubeginn ist, wird nicht nur in Zusammenhang mit Auschwitz und dem Danach betrachtet, sondern findet auch im Allgemeinen breiten Raum in diesem Buch. Die Wurzeln von Gegenwart und Zukunft liegen In der Vergangenheit. Geschichte ist ein Kontinuum, oder wie es die Autorin hervorhebt: Ein Aspekt der Tradition ist „die ganze gelebte Wirklichkeit, die Lebenswelt also, die erkannt, erfahren und weitergegeben wurde von Generation zu Generation.“ (S. 149)
Weitergeben heisst nicht nur Weitergabe von Generation zu Generation. Es ist auch das Weitergeben an die Umgebung sowie das Erfahren von dieser. „In dem Masse, in dem die jüdische Tradition von fremdem Gedankengut in allen Epochen bis zur Gegenwart inspiriert wurde, floss auch jüdisches Gedankengut in das Abendland ein, wobei die spezifischen jüdischen Züge nie verloren gingen.“ (S. 151) Von Anfang an war das Judentum der Begegnung mit anderen Kulturen ausgesetzt. Man hat es aber verstanden, sich diesen Kulturen zu stellen, ohne die eigene Identität zu verlieren. Das gilt auch für die Juden, die unter Islam-Herrschaft lebten, ganz besonders für die „Goldene Epoche“ in Spanien (S. 317f).
„Geschichte als Zeugnis“ ist der Untertitel dieses Buches. Tradition ist gelebte Geschichte. Das 20. Jahrhundert hat einen schweren Bruch mit sich gebracht. Einen Bruch, der nicht wirklich geheilt werden kann, dessen Auswirkungen auch heute noch vieles bestimmen. „Sag es deinem Sohn...“ heisst es in der Tora betreffend Pessach, dem Auszug aus Ägypten und der Befreiung aus der Sklaverei (Ex. 13,8). „Sag es deinem Sohn“ ist der Weg vom Archiv zur Arche. Unsere Identität war und wird dadurch bestimmt, wie wir es unseren Söhnen sagen werden, wie es weiter tradiert wird.