Die Auswirkungen der Industriellen Revolution brachten auch in der Habsburgermonarchie eine komplette Umwälzung der Arbeitswelten mit sich. Die daraus entstehenden heftigen sozialen Konflikte führten in der Auseinandersetzung um politische Partizipation zur Herausbildung von Massenparteien, darunter jene der Sozialdemokraten. Es waren die Intellektuellen mit jüdischem Familienhintergrund in der sozialdemokratischen Partei, die als Stärkung benachteiligter Bevölkerungsgruppen auf Bildungsmöglichkeiten zur Selbstermächtigung für die sozial schwächeren Schichten pochten. Gerade aus dem Kontext als Nachkommen einer diskriminierten Minderheit mit einhundert Jahren Erfahrung seit dem josephinischen Toleranzpatent bei Integrationsbemühungen in die Mehrheitsgesellschaft wussten sie, so genau wie kaum jemand anderer, um die Schlüsselrolle, die einer erfolgreichen Wissensvermittlung im Kampf gegen Rassismus und Diskriminierung zukommt.
Volkshochschule
Ottakring am
Ludo Hartmann-Platz
Foto: Peter Gugerell.
Quelle: Wikimedia Commons,
abgerufen am 21.11.2019
Ludo Ludwig Moritz Hartmann (2.3.1865 Stuttgart – 14.11.1924 Wien) gründete an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert fünf Volkshochschulen in Wien, darunter 1901 gemeinsam mit Emil Reich (1864 Koritschan, tschech. Koricˇany – 1940 Wien) die herausragende Erwachsenenbildungseinrichtung Volksheim Ottakring (heute: Volkshochschule Ottakring am nach ihm benannten Ludo Hartmann-Platz), weiters die Frauenbildungsakademie Athenaeum und den Verein Freie Schule. Er war der Sohn des bürgerlich-liberalen Wiener Politikers, Journalisten und Schriftstellers Moritz Hartmann (1821 Duschnik, tschech. Trhové Dušníky – 1872 Oberdöbling bei Wien), Chronist der Revolution von 1848, der früh verstarb. Zu dessen Bekanntenkreis hatten neben Theodor Gomperz, Josefine Wertheimstein und Heinrich Friedjung auch Josef Breuer und Theodor Billroth gezählt. Der siebenjährige Sohn lernte sie am Krankenbett des Vaters kennen und erfuhr hier entscheidende Prägungen. Nach einer soliden Ausbildung zum Historiker, die ihm seine Vormünder, die Bankiers Leopold von Lieben (1835–1915) in Wien und Ludwig Bamberger (1823-1899) in Berlin angedeihen liessen, und beruflicher Etablierung am Institut für Österreichische Geschichtsforschung in Wien begann Ludo Hartmann sich als Sozialdemokrat für bildungspolitische Reformvorhaben zu engagieren. Die von ihm eingeführten Volkshochschulen existieren noch heute höchst erfolgreich als zentrale Einrichtungen des Erwachsenenbildungswesens in Österreich.
Der Schriftsteller Josef Luitpolt Stern (1886 Wien – 1966 Wien) war nach 1918 Leiter der Sozialdemokratischen Bildungszentrale, Mitbegründer der Büchergilde Gutenberg und Obmann der 1933 gegründeten Vereinigung sozialistischer Schriftsteller. Im selben Jahr trat er gegen die Bücherverbrennungen in Deutschland auf und unterstützte die von den Nationalsozialisten verfolgten Autoren mit Vorträgen in den damals bereits 70 Wiener Arbeiterbüchereien sowie den Wiener Sektionen der Bildungszentrale.1 Stern floh im April 1934 in die Tschechoslowakei und später weiter in die U.S.A., nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kehrte er ins Gewerkschafts-Bildungswesen nach Wien zurück. Die Wohnhausanlage Ecke Billrothstrasse/jüdischer Friedhof Währing ist nach ihm Luitpold-Stern-Hof benannt.
Grabmal von Josef Luitpold Stern am Grinzinger Friedhof in Wien
Foto: Viennpixelart.
Quelle: Wikimedia Commons, abgerufen am 20.11.2019
Die Institution der Arbeiterbüchereien war ursprünglich von dem 1887 gegründeten Wiener Volksbildungsverein eingerichtet worden, sie wurde von der Bildungszentrale laufend erweitert. Bereits 1933/34 kam es zu „Säuberungen“ in den Arbeiterbüchereien, die sowohl Bücher als auch Personal betrafen; ab 1936 wurden massive Zensurmassnahmen eingesetzt: 27.000 Bücher wurden entfernt und vermutlich eingestampft, nachdem rund 1.500 Buchtitel auf sogenannten Sperrlisten gelandet waren.2 Im Visier der Zensoren standen vor allem als „links“ sowie antiklerikal wahrgenommene Autoren, ab 1938 wurden dann gezielt auch sämtliche Werke jüdischer Autoren entfernt. Ähnliches widerfuhr dem Volksheim Ottakring, wo ab 1934 Personalwechsel erzwungen wurden; 1938 wurde der „Verein Volksheim“ schliesslich aufgelöst. Stellvertretend für die vielen Autoren, die von Verfolgungen, Zensurmassnahmen, Bücherverboten und -verbrennungen betroffen waren, seien hier einmal anstelle der sonst immer dazu genannten, bekannten Namen explizit jene wenig geläufigen österreichischen Literatinnen angeführt, deren Texte als Mitglieder der Vereinigung sozialistischer Schriftsteller in den Volksbildungseinrichtungen aufgelegt waren, da sie sich sozialpolitisch aktiv einsetzten, und die nicht nur als Jüdinnen, sondern vor allem auch wegen ihres Engagements verfolgt wurden: Lili Körber (1897 Moskau – 1982 New York), Klara Blum (1904 Czernowitz – 1971 Guangzhou, China), Thekla Mervin (1887 Riga – 1944 KZ Auschwitz-Birkenau), Adele Jellinek (1890 Wien – 1943 KZ Theresienstadt) und Else Feldmann (1884 Wien – 1942 Vernichtungslager Sobibor). Am 12.11.2019 beschloss die Bezirksvertretung Leopoldstadt, Else Feldmann einen Park zu widmen. Der Park soll 2020 errichtet werden. (siehe S. 28)
Nachlese zur Vereinigung
sozialistischer Schriftsteller:
Herbert Exenberger Archiv der
Theodor Kramer Gesellschaft,
https://theodorkramer.at/projekte/exenberger/mitglieder/josef-luitpold-stern
1 Vgl. Klaus Amann, Die Dichter und die Politik. Essays zur österreichischen Literatur nach 1918, Wien 1992, S. 71.
2 Vgl. Alfred Pfoser, Literatur und Austromarxismus. Wien 1980, S. 235 ff.