Zur Yom haShoah Gedenkfeier 2015 hatte die Aschkenasische Gemeinde Istanbul mit Unterstützung des lokalen Österreichischen Kulturforums den Journalisten Karl Pfeifer als Gastredner sowie Oberkantor Schlomo Barzilai zur Mitwirkung am G‘ttesdienst in die seinerzeit als „Österreichischer Tempel” benannte Synagoge im Bezirk Galata eingeladen.
Bei meiner Einführungsrede fiel mir spontan ein, dieses seit 1900 bestehende historische Kleinod Istanbuls mit dem “Türkischen Tempel” aus der Zirkusgasse 22, Wien II. (1887-1938) zu vergleichen. Die Gegenüberstellung war insofern berechtigt, als diese schmucke Synagoge, erbaut für die aus Konstantinopel nach Wien gezogenen Sefarden, sozusagen unter der Schirmherrschaft des jeweiligen osmanischen Sultans stand, während an ihrem Pendant am Bosporus bei ihrer Einweihung eine Gedenktafel zum “Fünfzigjährigen Regierungs-Jubiläum unseres glorreichen Monarchen” Franz Joseph I. enthüllt wurde. Eine weitere Demonstration der habsburgisch-osmanischen Verbundenheit waren die über den jeweiligen Eingängen prangenden Herrscherportraits sowie die Wappen beider Reiche.
Der „Österreichische
Tempel“ in Istanbul heute
Foto: A. Modiano, mit freundlicher
Genehmigung R. Schild
Leider besteht jedoch ein bitterer Unterschied zwischen diesen beiden Bethäusern: Während der Tempel in der Zirkusgasse in der Pogromnacht vom 10. November 1938 unwiderruflich zerstört wurde, dient sein weiterhin am selben Ort befindlicher “Cousin” nach wie vor und ununterbrochen dem jüdischen Glauben.
Die älteste dokumentierte Synagoge der Istanbuler Aschkenasim war ein 1831 auf der Hendek Strasse in Galata errichtetes hölzernes Bethaus. Dieses brannte jedoch im Jahre 1866 nieder, woraufhin nicht weit davon entfernt der eher unscheinbare Tempel “Or Hodesch” erbaut wurde. Da jedoch weder dieser noch die 1894 errichtete sogenannte “Schneiderschul” den Ansprüchen der wohlhabenden Gemeindemitglieder gerecht wurden, beschloss man kurz vor der Wende zum 20. Jahrhundert einen Neubau, für den ein “ferman” (Erlass) von Sultan Abdulhamit II. erwirkt wurde. So konnte schliesslich im September 1900 auf der bedeutenden Yüksek Kaldırım Strasse, welche die Stadtteile Karaköy und Pera verbindet, der Österreichische Tempel eingeweiht werden. Die Finanzierung dieses gross angelegten Projekts im Rahmen von 60.000 französischen Goldfranc erfolgte teilweise durch die Deutsch-Österreichische Israelitische Cultus-Gemeinde, die hierzu nachträglich (am 1. Dezember 1900) eine Emission von 400 Obligationen à 120 Türkische Silberpiaster herausgab, gez. vom Präsidenten Dr. Hoffman, Secretär Springer und Cassier Hafter. Wesentlichen Anteil an der Errichtung dieser Synagoge hatten aber auch Spenden österreichischer Juden, vobei diese Beteiligung von einem in Wien ansässigen Hermann Goldenberg organisiert wurde. Ob die oben erwähnte Gedenktafel der Gemeinde mit der Würdigung Franz Josephs auch auf einen etwaigen Beitrag des Monarchen hinweist, ist jedoch heute nicht nachvollziehbar.
Entworfen hat die imposante Synagoge der renommierte venezianische Architekt G. J. Cornaro, der sich unübersehbar Anleihen bei der byzantinischen Markusbasilika geholt hat. Die drei Bögen der Fassadenfront mit ihren dezent spitzbogigen Fenstern und runden Maueröffnungen, in die achteckige Sterne eingefügt sind, vermitteln demgegenüber einen maurischen Eindruck. Dieser Eklektizismus war für sefardische Bethäuser nicht untypisch, ungewöhnlich allerdings für Synagogen der Aschkenasim. Den Hauptsaal krönt eine von vier dorischen Säulen getragene grosse Kuppel, deren mit unzähligen Sternen verzierte Wölbung durch einen Davidstern im Zentrum abgeschlossen wird. Das durch sechs farbige Kuppelfenster dringende Licht erzeugt eine stimmungsvolle Beleuchtung im Tempel. Der pagodenhafte Thora-Schrein aus Ebenholz – “unsere Heilige Bundeslade” laut einer Inschrift von 1905 – kommt von einer Spende des ehrwürdigen Gemeindemitglieds Karlmann in Erinnerung an seine verstorbene Ehefrau Rachel, geb. Blumberg und zählte zu den erlesensten Werken des angesehenen Schreinermeisters Fogelstein. Mit 400 Sitzplätzen und zwei Frauengalerien sowie vier Untergeschossen, unter anderem auch für die rituelle Leichenwäsche, galt der Österreichische Tempel als eine der grössten Synagogen im osmanischen Raum.
Zur Einweihung am 23. September 1900 waren neben dem k.&k.-Botschafter Heinrich Freiherrn von Calice zahlreiche Würdenträger geladen. Oberrabbiner Mosche Halevi stellte die neuen Thorarollen in den Schrein, Dr. Adolf Rosenthal begrüsste im Namen der Gemeinde die Gäste auf Deutsch und Türkisch, Kantor Vladowski intonierte die Gebete, und anschliessend knallten – nach europäischer Art – die Sektkorken.
Unweit dieses imposanten Tempels hatte die Istanbuler Aschkenasische Gemeinde noch zwei weitere, eher bescheidene Bethäuser: Die 1897 von polnischen Einwanderern erbaute, nicht mehr als 130m² messende “Or Hodesh” Synagoge in der Zürefa Strasse, die in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg vorübergehend als Asyl für Flüchtlinge aus Russland sowie anschliessend als Altersheim genutzt und infolge ihres ungünstigen Standortes ab 1985 ganz aufgelassen wurde. Aber auch unweit davon, auf der gleichen Strasse mit der österreichischen St. Georgs-Kirche und nur durch die stadtbekannte Camondo-Stiege getrennt, befindet sich die zweite dieser kleineren Synagogen, als “Tofre Begadim” bezeichnet oder “Schneiderschul” genannt.
Gedenktafel im Tempel
aus dem Jahr 1900
Foto: R. Schild, mit freundlicher Genehmigung
Unter den jüdischen Einwanderern aus Osteuropa befanden sich nicht wenige Schneidermeister, so etwa beispielsweise auch zwei Urgrossväter des Verfassers. Ein weiterer Vertreter dieser Zunft, ein gewisser Mayer Schönmann, seines Zeichens Hofschneider beim selben Sultan Abdulhamit, konnte indes dessen Sondererlass zum Bau einer Synagoge für diesen Berufszweig erwirken. Ein zusätzlich vom Herrscher beordeter Kredit der Banque Ottomane in Galata sowie interne Spenden seitens Schneiderinnung und Gemeinde ermöglichten 1894 die Eröffnung dieser doch etwas unüblichen “Zunft-Synagoge”. Mit dem Rückgang der aschkenasischen Bevölkerung, und nicht nur der Schneider unter ihnen, verlor dieses Bethaus jedoch auch an Bedeutung, hat aber unter der Schirmherrschaft der Aschkenasischen Gemeinde heute als exquisite Kunstgalerie und Konzertsaal einen festen Platz in der Istanbuler Kulturszene eingenommen.
Besonders erwähnenwert ist hier, dass in den beiden noch bestehenden aschkenasischen Synagogen während der letzten zwei Jahrzehnte – u. a. auch in Zusammenarbeit mit dem Österreichischen Kulturforum – eine Reihe von qualitativ hochwertigen und zudem gut besuchten Gemeinschaftsproduktionen erarbeitet werden konnte. So ist hier auf bislang über 150 Vernissagen, Konzerte und Buchpräsentationen zurückzublicken. Unter den Ausstellungen im Schneidertempel seien Die Juden in Wien (2003) oder Auschwitz-Skizzen der damals in Wien wirkenden romanischen Künstlerin und Autorin Ceija Stojka (2012) erwähnt. Sowohl im Schneider- als auch im Österreichischen Tempel konzertierten die Wiener Klesmer-Gruppen Roman Grinberg´s Freilach (2013) oder Mandy´s Mischpoche (2015), aber auch diverse türkische, ungarische und italienische Virtuosi, unter anderem während des renommierten jährlichen Opus-Amadeus Barockfestivals. Im Gedächtnis bleibt auch ein Konzert des Wiener Oberkantors Schmuel Barzilai unter Beteiligung eines sefardischen Kinderchors in der benachbarten sefardischen Neve Shalom-Synagoge (2015) und ganz besonders eine auf Türkisch gehaltene Ansprache des vormaligen Superiors der Lazaristischen St. Georgs-Gemeinde, Hofrat Franz Kangler anlässlich des Shoah-Gedenktags 2011 im Österreichischen Tempel.
Laut der 1915 erschienenen Chronik “Die Juden der Türkei” von Davis Trietsch “spielen die 10.000 aschkenasischen Juden (aus Konstantinopel, neben der dortigen jüdischen Gesamtbevölkerung von ca. 70.000) eine ziemliche Rolle” – was heutzutage nicht mehr der Fall ist. Im Vergleich zu diesen Jahren ist die Anzahl der Aschkenasim Istanbuls empfindlich zusammengeschrumpft. Dies liegt nicht nur an allfälligen Auswanderungen (vor allem in die U.S.A. und nach Israel); zu den Hauptgründe zählen die zahlreichen Ehen mit sefardischen Partnern und die Einverleibung des Jiddisch beziehungsweise Deutsch sprechenden Eheteils in die mit ihren Sitten doch eher dominierende judeospanische Tradition und Mentalität. Während die jüdische Bevölkerung von Istanbul heute nicht viel mehr als 10.000 Personen zählt, sind die derzeitigen rund 200 Aschkenasim als verschwindend gering zu bezeichnen – aber trotzdem lassen (wie ein Journalist unlängst scherzte) “ihre kulturelle Aktiviäten auf viel mehr schliessen”!