Gregor Gatscher-Riedl
Zioniostische Avantgarde: Die Wiener akademische „Libanonia“
Harald Seewann (Hrsg.), Streiflichter auf die Geschichte der Akademischen Verbindung Libanoinia Wien (1894-1938)
Graz: Selbstverlag 2019, 371 S., € 24,- (zzgl. Versand) erhältlich beim Autor: Prof. Harald Seewann, A-8020 Graz, Resselgasse 26;
Email: c.h.seewann@aon.at
Die Beschäftigung mit den jüdischen Hochschulkorporationen hat in den letzten Jahren einen starken Anstieg zu verzeichnen. Die Bedeutung dieser Vereinigungen von aktiven Studierenden und absolvierten Akademikern an (nicht allein deutschsprachigen) Hochschulen der österreichisch-ungarischen Monarchie, des wilhelminischen Kaiserreichs und im Baltikum als Multiplikatoren der Idee Theodor Herzls ist Ausgangspunkt für zahlreiche Einzeluntersuchungen und weitere Einordnungsversuche dieser zionistischen Aktivitäten. Dem breiten Interesse steht allerdings eine häufig recht schmaler Quellenbestand entgegen. Vertreibung und Schoah haben nicht nur die aktive Erinnerung ausgelöscht, sondern auch tiefe Lücken in die Überlieferung gerissen.
Es ist seit gut vier Jahrzehnten das Verdienst des Grazer Studentenhistorikers Prof. Harald Seewann, die Spuren der jüdisch-nationalen Korporationen zu sichern und zu dokumentieren. Seewanns zwischen 1990 und 1996 herausgegebene fünfbändige Sammlung „Zirkel und Zionsstern“ gilt mit knapp 2.500 Seiten als geradezu unerschöpfliches Reservoir zu diesem 1938 ausgelöschten Kapitel akademischer Kultur. Seit einigen Jahren ediert Prof. Seewann in loser Folge Einzeldarstellungen zu verschiedenen Aspekten des zionistioschen Verbindungsstudententums, wobei sich seine auf Korporationen abzielenden, vertieften Darstellungen als besonders wertvoll erwiesen haben. In akribischer Form widmet sich Seweann in seiner 2019 erschienenen Dokumentation „Allzeit voran!“ der 1894 gegründeten Akademischen Verbindung „Libanonia“ Wien. Diese Korporation war eine Gründung des Veterinärmediziners und „Kadimahners“ Josef Frey und kann daher als Tochtergründung der ältesten jüdisch-nationalen Studentenverbindung gelten. Während die 1883 gestiftete „Kadimah“ erst langsam den Weg zur farbentragenden, waffenstudentischen Verbindung fand, war die „Libanonia“ von Anbeginn an auf dieses Organisationsmodell festgelegt. Mit hellblauen Mützen und blau-gold-roten Bändern war „Libanonia“ 1898 die erste farbentragende jüdische Verbindung an der Wiener Universität, was bei den der etablierten deutschnationalen Verbindungen mehrere Handgemenge hervorrief, die nur unter Polizeieinsatz aufzulösen waren.
Weite Aufmerksamkeit erregte im Februar 1929 das Schicksal des 23jährigen „Fuchsmajors“ Isaak Tisch, der in den Verbindungsräumlichkeiten der „Libanonia“ in der Servitengasse durch einen schadhaften Gasofen tragisch zu Tode kam. Zu den bekannteste „Libanonen“ zählt der Jurist Dr. Hugo Zuckermann, der mit Oskar Rosenfeld, dem Autor des „Mendl Ruhig“ und Chronisten des Ghetto Litzmannstadt, die „Jüdische Bühne“ in Wien gründete. 1913 verfasste der Rechtsanwalt in Eger (Cheb Tschechien) das patriotische „Reiterlied 1914“, das als populärstes Beispiel österreichischer Kriegslyrik in der Vertonung Franz Lehárs weiteste Verbreitung fand. Als Landwehr-Oberleutnant verstarb er in Folge einer Schussverletzung zu Weihnachten 1914. Dr. Desider Friedmann gehörte ebenfalls seit seiner Studienzeit der „Libanonia“ an und stand als erster Zionist an der Spitze der Wiener Kultusgemeinde. Es zählt zu den Stärken der Dokumentationen Seewanns, dass über die Fülle des Quellenmaterials ein Eintauchen in zahlreiche Einzelbiographien möglich ist.