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Eine wichtige Anthologie jiddischer Literatur aus Wien

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Thomas Soxberger (Hg. und Übers.): Nackte Lieder. Jiddische Literatur aus Wien 1915-1938.

Wien: Mandelbaum Verlag 2008.

188 Seiten, Euro 19,90.-

ISBN 978-3-85476-253-9

Es war die jiddische Literatur in Wien ein kultureller Mikrokosmos sowohl im großen Rahmen der jiddischen Weltliteratur als auch innerhalb aller anderen kulturellen Strömungen des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts. Lange weitgehend in Vergessenheit geraten bzw. verdrängt, begann erst seit knapp zwei Jahrzehnten in Österreich ihre Wiederentdeckung, die sich weitgehend auf wissenschaftlicher Ebene abspielte, wo über viele literaturgeschichtlich bedeutsame Aspekte geforscht und geschrieben wurde. Diese Arbeiten wurden immerhin relativ breit rezipiert - u.a. als Beiträge zu einer Erweiterung des Verständnisses der österreichischen Literaturgeschichte.

Relativ unbekannt blieb dabei außerhalb der kleinen Spezialistenkreise der Gegenstand der Untersuchungen selbst, nämlich die literarischen Texte in all ihrer inhaltlichen und formalen Vielfalt, - ganz einfach deshalb, weil kaum Übersetzungen vorlagen, bzw. gemacht wurden. Diese Lücke ist noch immer eine gewaltige, zu ihrer Auffüllung jedoch leistet die Anthologie „Nackte Lieder" nun einen weiteren Beitrag. Darüber hinaus steckt sie auch das weite Feld, das hier bearbeitet werden kann, deutlich ab, indem sie nicht nur eine repräsentative, gut kommentierte Auswahl an Texten der wichtigsten in Wien tätig gewesenen jiddischen Autorinnen und Autoren bietet, sondern diese auch biobibliographisch vorstellt und in einem Vorwort in den historischen, ideologischen und kulturellen Kontexten verortet und das „komplexe Phänomen" zu erklären unternimmt, welches „die jiddische Literatur in, aus und über Wien, die in Auswahl mit dieser Anthologie vorgestellt werden soll" (S. 8), darstellt. Alles ist bewundernswert recherchiert und das Ergebnis einer langjährigen intensiven Beschäftigung mit der Materie.

Die Verschiedenartigkeit der anzutreffenden Textgattungen - von Lyrik über Erzählungen und Polemiken bis hin zu Essays mit ästhetischen und ideologischen Positionsbestimmungen reicht das Spektrum - könnte anfangs verwirrend wirken, fügt sich aber bei der Lektüre zu einem stimmigen Bild einer sehr heterogenen Kultur. Eine nicht-selektive Gesamtlektüre der nach eher chronologischen Kriterien geordneten Sammlung ist dabei anzuraten. Hervorzuheben ist außerdem noch, dass Thomas Soxberger in seinen Übersetzungen den besonderen Ton von jeder Autorin und jedem Autor gut trifft, was neben der rein übersetzungstechnischen Richtigkeit keine Selbstverständlichkeit ist. Die Originale - geschrieben in einem literarischen Jiddisch, das teilweise gewisse galizisch-wienerische Eigenheiten, also minimale regionale Abweichungen von einem idealen überregionalen „Hochjiddisch" aufweist - werden in den Übersetzungen passend durch die Verwendung eines österreichisch gefärbten Deutsch abgebildet.

Zu den wichtigsten Texten im Buch gehören die im Zentrum stehenden Ausschnitte aus Mosche Silburgs (1884-1942) im Jahre 1920 erschienener programmatisch-jiddischistischer Artikelserie „Was ich euch zu sagen habe" (in der jiddischen Zeitschrift „Kritik"), deren Schwierigkeiten, die sie dem heutigen, jiddistisch nicht versierten Leser bieten, durch Dutzende interessante Anmerkungen des Herausgebers gemildert werden. Hier geht es um einige zentrale Aspekte der weltanschaulichen Hintergründe der modernen jiddischen Kultur, für die Silburg, wie Soxberger es zusammenfasst, ein „umfassendes Programm vorschlägt. Hauptaussage ist die Absage an die sprachliche Assimilation des Ostjudentums. Silburg beginnt damit, dass er eine umfassende Kritik der Haltung jüdischer Intellektuellen, vor allem der ‚Kulturzionisten' gegenüber den ‚ostjüdischen Brüdern und Schwestern' vornimmt. Er wirft ihnen Kulturimperialismus und tiefes Unverständnis des jüdischen Volkslebens vor. Im Mittelpunkt der Kritik Silburgs steht nicht ohne Grund Martin Bubers bekannte Zeitschrift ‚Der Jude' und ihr Umfeld, doch betrifft die Kritik die ‚Assimilanten' ganz allgemein." (S. 14)

Da es hier nicht möglich ist, auf alle 22 in der Anthologie versammelten Autorinnen und Autoren einzugehen, seien nur einige davon exemplarisch genannt.

Unter den neoromantischen Dichtern, die, was die Chronologie betrifft, sozusagen den Reigen in dem hier zur Rede stehenden Kapitel der Literaturgeschichte eröffnen, ist zwar an erster Stelle - vor allem im Hinblick auf seinen Einfluss auf die jüngere Dichtergeneration - der an Heine und Platen geschulte S. J. Imber (1889-1942) zu nennen. Was die poetische Qualität betrifft, wird er jedoch von David Königsberg (1891-1942) weit übertroffen. Von ihm enthält die Sammlung zwei seiner extrem melancholischen Sonette, die meist vor dem landschaftlichen Hintergrund seiner ostgalizischen Heimat angesiedelt sind. Diese Gedichte (vor allem der 1921 in Wien erschienene Band „100 Sonetten") harren dringend einer zumindest zweisprachigen Neuausgabe.

Von den Gedichten Ber Horowitz' (1895-1942) sticht neben den der Naturlyrik zuzurechnenden vor allem der Zyklus „Jesus der Nazarener" hervor, der „seine Auseinandersetzung mit dem Christentum und der Frage allgemein gültiger Wahrheiten" zeigt und „dem allgemeinen Wahrheitsanspruch des Christentums als ‚Religion der Liebe' die jüdische Erfahrung entgegengestellt, die von Erinnerung an die Opfer dieser ‚Liebesreligion' geprägt ist." (S. 17) Ein solches Opfer wurde auch er selbst. Dass das Todesjahr aller bisher genannten Dichter 1942 ist, ist kein Druckfehler ...

Von besonderem Interesse sind die anthologisierten autobiographischen Texte, deren Darstellungen Wiens während des Ersten Weltkriegs besonders eindringlich sind: etwa im Kapitel „Die Kaiserstadt" aus Jakob Mestels (1884-1958) zweibändigen Erinnerungen „Kriegsnotizen eines jüdischen Offiziers" (1927 erschienen) oder der Ausschnitt aus S. J. Harendorfs (1900-1969) Memoiren.

Die neoromantische Ausrichtung wich in Wien schnell einer Hinwendung zum Expressionismus. Hierbei ist vor allem die dichterische Entwicklung von Melech Rawitsch (Mejlech Rawicz), der 1893 in einem galizischen Städtchen geboren wurde und 1976 in Montreal gestorben ist, als beispielhaft hervorzuheben. Der Titel seines 1921 in Wien erschienenen Gedichtbandes gab, mit sehr guten Gründen, die im Vorwort erklärt werden, auch der vorliegenden Sammlung seinen Namen: „Nackte Lieder". Diesem Band entnahm der Herausgeber auch die meisten von Rawitsch aufgenommenen Texte.

Kann auch konstatiert werden, dass schon 1923 die Blütezeit der jiddischen Kultur in Wien zu Ende zu gehen begann, weil ein großer Teil der Kulturschaffenden das Land verlassen musste, so blieb in Wien bis zum „Anschluss" doch eine Reihe jiddischer Schriftsteller, deren dort noch erschienen Werke ungebrochen der Beachtung wert sind. Dazu gehören die häufig in Untergangsfarben getunkten Gedichte von Melech Chmielnitzky (1885-1946) ebenso wie die stillen, von einem resignativen Grundton bestimmten lyrischen Gebilde von Mendel (Max) Neugröschel (1903-1965). Als bedeutendster Prosaautor dieser Gruppe wie generell der jiddischen Literatur in Wien muss Abraham Mosche Fuchs (1890-1974) genannt werden, der mit zwei seiner vielen starken Geschichten in „Nackte Lieder" vertreten ist. Davon ist „Aus der Ferne" eine frühere Fassung der 1924 stark erweiterten und unter dem Titel „Unter der Brücke" veröffentlichten Novelle, die 1997 auch als eigenes Buch in deutscher Übersetzung im Otto Müller Verlag erschienen ist.

Neben Fuchs versammelt die Anthologie noch eine Reihe anderer Prosaautoren, von denen noch J. A. Liski (1899-1990), der jüngere Bruder von Abraham Mosche Fuchs, erwähnt sei, dessen beeindruckende Erzählung „Gänse" mit krassem Naturalismus das Städtel-Leben mit seiner unvorstellbaren Armut und dem täglichen Antisemitismus schildert, eine Schilderung, die denkbar fern von jeder idyllisierenden Städtel-Romantik ist, wie sie sich nach wie vor großer Beliebtheit in der folklorisierenden Darstellung der jiddischen Welt erfreut. Im Zentrum der Geschichte steht Fradel, eine Frau, die die Umstände - sie hat unter anderem einen zurückgebliebenen Sohn und einen blinden Vater zu versorgen - zum Starksein zwingen und die Liski mit wenigen Strichen vor unseren Augen lebendig zu machen versteht: „Ihr Gesicht war finster wie die abendliche Herbststunde, die Haut über den Wangenknochen knittrig wie verschrumpelte Krautblätter. In ihren wässrigen kleinen Augen lag jene unruhige Unzufriedenheit, wie sie von der Armut kommt, die zur stetigen, rastlosen häuslichen Geschäftigkeit zwingt." (S. 169)

Dass nur zwei Frauen - die Lyrikerinnen Rachel Korn (1898-1982) und Debora Vogel (1902-1942) - in der Anthologie vertreten sind, hängt einerseits damit zusammen, dass die jiddische Literatur aus Wien eine weitgehend von Männern geprägte war, andererseits aber auch mit der Forschungslage, bei der neue Entdeckungen noch durchaus möglich sind. Soxberger fasst die lyrische Position dieser Dichterinnen so zusammen: „Korn und Vogel thematisieren die Rolle der Frau und die ihr zugeschriebene Passivität und problematisieren sie. Die Gedichte sollen damit für die Stimmen der jiddischen Dichterinnen stehen, die es in der männlich dominierten Literaturszene schwer hatten, sich Gehör zu verschaffen." (S. 18)

Abschließend ist noch festzuhalten, dass das Buch „Nackte Lieder" sich durch eine schöne Gestaltung auszeichnet. Besonders erwähnenswert sind dabei die perfekt zum Buch passenden grotesken Illustrationen aus dem in Wien Anfang der 1920er Jahre geschaffenen graphischen Zyklus „In G‘ttes Krieg" des Künstlers Uriel Birnbaum (1894-1956), der dem Wiener jiddischen Literatenkreis sehr nahe stand. Alles in allem ein Buch, das ich jeder/m an der jiddischen Literatur Interessierten ans Herz legen möchte.