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Die Erneuerung des Lieben-Preises

Robert W. ROSNER

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Die Geschichte der Erneuerung des Lieben-Preises ist eine lange Geschichte. Sie begann damit, dass ich nach meiner Pensionierung anfing, mich für die Geschichte der Chemie zu interessieren, nachdem ich 40 Jahre lang als Chemiker gearbeitet hatte. Im Zuge meines Studiums der Wissenschaftsgeschichte stiess ich darauf, dass der Chemiker Adolf Lieben dreissig Jahre lang das 2. Chemische Institut geleitet hatte, jenes Institut, in dem ich ein halbes Jahrhundert später Chemie studierte. Im Stiegenhaus steht sogar eine Büste von Lieben.

 

Adolf Lieben. Quelle: Portraitsammlung Archiv Österreichische Akademie der Wissenschaften. Mit freundlicher Genehmigung: R. Rosner.

Nachem ich mich für Adolf Lieben zu interessieren begonnen hatte, stellte ich fest, dass er nach dem Tod seines Vaters Ignaz Lieben im Jahre 1862 eine Stiftung für einen Preis für hervorragende Arbeiten auf dem Gebiet der Naturwissenschaften angeregt hatte. Mithilfe dieser Stiftung sollte die kaiserliche Wiener Akademie der Wissenschaften einen Preis für die besten Arbeiten eines österreichischen Forschers in den Fächern Chemie, Physik und Physiologie vergeben. Der Preis sollte nach dem Namen seines Vaters Ignaz Lieben-Preis heissen.

Im Jahre 1862, als Adolf Lieben seine Familie davon überzeugt hatte, mit 6.000 Gulden eine Stiftung der Akademie der Wissenschaften zu finanzieren, gab es noch überhaupt keine andere Stiftung für die Akademie. Erst nachdem die Familie Lieben ein Beispiel gesetzt hatte, folgten andere Familien. Wenige Jahre später konnte die Kaiserliche Akademie der Wissenschaften bereits eine beachtliche Zahl von Preisen und Stipendien aufgrund von Stiftungen von Privatpersonen vergeben. Leider ist diese Tradition in Österreich verloren gegangen.

Im Jahr 1862, als die Lieben-Stiftung entstand, war es für Adolf Lieben selbst nicht möglich, an einer österreichischen Universität zu unterrichten, da aufgrund der damaligen Gesetze Juden keine Lehrkanzel bekommen konnten. Lieben war nicht bereit, sich taufen zu lassen, im Gegensatz zu Thomas Wertheim, einem anderen bedeutenden jüdischen Chemiker dieser Zeit, der nach der Taufe eine Professur erst in Budapest und dann in Graz erhielt. Glücklicherweise wurde der junge Lieben nach Palermo zu Stanislao Cannizzaro, einem der bedeutendsten Chemiker dieser Periode berufen, wo er als Assistent arbeiten konnte. Später erhielt er eine Berufung als Professor für Organische Chemie nach Turin. Erst nachdem im Jahre 1867 in der neuen Verfassung Juden als gleichberechtigte Bürger anerkannt waren, wurde Lieben an eine österreichische Universität berufen, zuerst im Jahre 1871 nach Prag und schliesslich 1875 nach Wien.

Der Lieben-Preis wurde erst in einem Dreijahresrhythmus, dann alljährlich vergeben. In der Zeit zwischen 1865, als das erste Mal ein Lieben-Preis vergeben wurde, und dem Jahre 1937, als das letzte Mal Wissenschaftlerinnen mit diesem Preis ausgezeichent wurden, waren es 55 Forscher und Forscherinnen, die den Preis erhielten, darunter bedeutende Wissenschaftler wie Josef Stefan, Sigmund Exner, Zdenko H. Skraup, Stefan Meyer und Fritz Pregl. Viele von jenen, die als junge Forscher den Lieben-Preis erhalten hatten, spielten später eine grosse Rolle in der österreichischen und internationalen Wissenschaft. Vier von ihnen, Fritz Pregl, Otto Loewi, Victor Hess und Karl von Frisch erhielten später den Nobelpreis. Unter den Preisträgern gab es auch drei Frauen, die am aktuellsten Wissenschaftsthema ihrer Zeit arbeiteten, der Atomkernforschung: Lise Meitner, Marietta Blau und Hertha Wambacher.

 

Alfred und Isabel Bader. Foto: R. Rosner.

Aus der Stiftungsurkunde ist zu ersehen, dass ein Vermögen von 6.000 Gulden in 5%-igen Pfandbriefen der k. k. österreichischen Nationalbank angelegte wurde. Der Lieben-Preis wurde später anlässlich der Kaiser-Jubileen erst um 36.000 und dann um weitere  18.000 Kronen vermehrt, so dass das Vermögen  schliesslich 66.000 Kronen betrug. Nach dem Ersten Weltkrieg verlor die Krone ihren Wert, nach der Einführung der Schilling-Währung betrug der Wert des Stiftungsvermögens genau 66 Schilling. Trotzdem konnte die Akademie auch in den folgenden Jahren den Lieben-Preis in der Höhe von 1.000 Schilling vergeben, da die Nachkommen von Adolf Lieben jedes Jahr der Akademie das Geld für die Stiftung überwiesen, das letzte Mal Heinrich Lieben im April 1937. Sieben Jahre später wurde Heinrich Lieben im KZ Buchenwald ermordet.

Nach dem Krieg war niemand da, der sich für eine Erneuerung dieses Preises einsetzen konnte. Die Lieben-Stiftung geriet vollständig in Vergessenheit. Im April 1997 veröffentlichte ich einen Artikel in der Zeitschrift der Gesellschaft österreichischer Chemiker, in dem ich erstmals auf den Lieben-Preis aufmerksam machte. Im Jahre 1999 lernte ich bei einem Vortrag über Robert von Lieben, den Erfinder der Radioröhre, Wolfgang Lieben-Seutter kennen, Adolf Liebens Enkel. Er zeigte mir seine Korrespondenz mit der Akademie, aus der ersichtlich war, dass die Akademie keine Möglichkeit sah, den Lieben-Preis zu erneuern.

 

Ignaz Lieben-Preis-Plakat der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Foto: R. Rosner.

Zu jener Zeit bemühte ich mich um eine Ausstellung über die Lieben-Stiftung, zunächst erfolglos. Das Exposé zeigte ich auch Professor Christian Noe, der kurz darauf Dekan der Fakultät für Lebenswissenschaften der Universität Wien wurde. Ich ersuchte ihn, unsere Bemühungen für eine Ausstellung zu unterstützen. Als Noe unser Exposé las, war er sehr beeindruckt und meinte, dass es nicht genug wäre, eine Ausstellung über die Lieben-Stiftung zu organisieren, sondern man solle sich bemühen, die Lieben-Stiftung selbst wieder zum Leben zu erwecken. Er meinte, wenn das Bankhaus Lieben in der Zeit der Not der Dreissigerjahre des 20. Jahrhunderts den Lieben-Preis noch immer finanzieren konnte, so müsste das in einem viel reicheren Österreich des 21. Jahrhundert erst recht möglich sein. Professor Noe stellte sich vor, die Wiedererrichtung der Lieben-Stiftung durch eine österreichische Institution sollte auch eine Art Wiedergutmachung darstellen. Nach meiner Erfahrung mit den Schwierigkeiten, auch nur eine Ausstellung zu organisieren, war ich etwas skeptisch, aber Noe war zuversichtlich, dass, wenn das Projekt mit genügend Nachdruck prominenter Wissenschafter betrieben würde, sich auch Geldgeber fänden. Wir begannen gemeinsam mit Noe daran zu arbeiten, ein Proponentenkomitee prominenter Wissenschafter zur Unterstützung unserer Ideen aufzubauen und zu überlegen, von welchen Institutionen es eventuell möglich wäre, Geld für so einen Preis zu bekommen. Zu den Proponenten, die bereit waren, das zu unterstützen, gehörte auch Professor Peter Schuster, der später Präsident der Akademie der Wissenschaften wurde. Ich versuchte inzwischen auszurechnen, wie hoch ein Preis, der im Jahre 1914 2.000 Kronen betragen hatte, jetzt sein müsste, damit wir potentiellen Geldgebern konkrete Zahlen nennen konnten. Noch bevor wir tatsächlich begonnen hatten, uns an österreichische Banken und andere finanzkräftige Institutionen zu wenden, von denen wir wahrscheinlich mehrfach Ablehnungen bekommen hätten, erhielten wir im Jahr 2003 ein überraschendes Angebot von einem vertriebenen Österreicher.

Im Juni 2003 fand nämlich an der Universität Wien unter der Leitung von Professor Friedrich Stadler ein Symposium statt, an der die beiden Nobelpreisträger Walter Kohn und Eric Kandel teilnahmen. Dieses Symposium beschäftigte sich mit der Vertreibung jüdischer Wissenschafter im Jahre 1938 und der Lage der Wissenschaft in Österreich heute. Dieses Symposium kam auf Anregung von Eric Kandel zustande. Als Kandel den Nobel-Preis erhalten hatte, wurde er von der damaligen Wissenschaftsministerin Elisabeth Gehrer gewissermassen als österreichischer Nobelpreisträger gefeiert. Kandel wies darauf hin, dass seine Eltern und er aus Österreich vertrieben worden waren, und er sich daher nicht als österreichischer Wissenschafter betrachte, dass er aber gerne zu einem Symposium nach Wien käme, bei dem die Vertreibung ein Thema wäre. 

Diese Tagung fand zufällig in der Woche statt, in der Alfred Bader, der Gründer der Firma Aldrich Chemicals, Wien besuchte. Alfred Bader kam seit vielen Jahren regelmässig im Zuge seiner Europareise Anfang Juni nach Wien. Ich wusste, dass er sehr an Wissenschaftsgeschichte interessiert ist. Schliesslich war es seiner Anregung zu verdanken, dass es an der Wiener Universität im Juni 1995 zum Loschmidt-Symposium kam. Ich wusste, dass Bader, so wie viele andere Menschen, die die Schrecken des Jahres 1938 erlebt haben, flüchten mussten, deren Angehörigen ermordet wurden  - und das oft unter Mithilfe von Österreichern -, gewisse Vorbehalte gegenüber Österreich hatte. Ich wusste zwar, dass Bader wissenschaftliche Institutionen in verschiedenen Ländern grosszügig unterstützte, war aber völlig überrascht, als er mir am Ende des Universitäts-Symposiums mitteilte, er überlege, eine Wiedererrichtung der Lieben-Stiftung mit 18.000 $ zu finanzieren.

Bader war von den Vorträgen und der Diskussion beim Stadler-Symposium beeindruckt. Wie er sagte, gewann er dort den Eindruck, dass sich in Österreich doch sehr viel zum Positiven geändert hätte und eine neue Generation herangewachsen sei, die anders denke. Es stellte sich auch heraus, dass unser Exposé ein Detail über die Lieben-Stiftung enthielt, dem wir überhaupt keine Bedeutung zugemessen hatten, das aber für Baders Entschluss von grosser Bedeutung war. Wir erwähnten, dass die Familie Lieben die Stiftung einmal mit 36.000 Kronen und ein anderes Mal mit 18.000 Kronen aufgestockt hatte. Nun ist die Zahl 18 in der jüdischen Tradition eine heilige Zahl. Sie steht für das hebräische Wort Chaj, das heisst Leben. Daher geben gläubige Juden zu feierlichen Anlässen gerne Geldgeschenke in einem Vielfachen von 18. Bader war sehr beeindruckt, dass auch die Familie Lieben die Stiftung mit einem Vielfachen der Zahl 18 aufgestockt hattte. Nachdem die Nachkommen der Familie Lieben zugestimmt hatten, dass der Preis weiter den traditionellen Namen Lieben-Preis behalten konnte, mussten noch die Details mit der Akademie der Wissenschaften besprochen werden. Alfred Bader und seine Gattin Isabel Bader verpflichteten sich, den Lieben-Preis für mindestens 30 Jahre mit 18.000 Dollar jährlich zu finanzieren.

Der Lieben-Preis war ursprünglich für Wissenschafter aus Österreich vorgesehen. Damals war Österreich ja wesentlich grösser als heute. Daher wurde beschlossen, dass sich jetzt nicht nur Wissenschafter aus Österreich, sondern auch solche aus allen Ländern, die einmal zu Österreich-Ungarn gehört hatten, für den Preis bewerben können, Forscher aus Österreich, der Tschechischen Republik, der Slowakei, aus Ungarn, Kroatien und Bosnien-Herzegowina. Die Kandidaten können von den Akademien und entsprechenden Institutionen dieser Länder nominiert werden, oder sich selbst bewerben. Wie es im Stiftungbrief heisst, soll der Lieben-Preis an junge Wissenschafter vergeben werden, die durch ihre Arbeiten gezeigt haben, dass sie wesentlich zu den Wissenschaftsdisziplinen Chemie, Physik oder Molekularbiologie beigetragen haben. Nachdem alle Fragen geklärt waren, konnte die Österreichische Akademie der Wissenschaften die Ausschreibung für den Lieben-Preis in einem Plakat, das in sieben Sprachen erschien, veröffentlichen. So konnte der erneuerte Lieben-Preis das erste Mal im Jahre 2004 von der Akademie der Wissenschaften vergeben werden. Als er am 10. November 2004 verliehen wurde, fand die feierliche Preisvergabe in Anwesenheit vieler prominenter österreichischer Wissenschafter in der Akademie der Wissenschaften statt. Da das der Jahrestag des Novemberpogroms im Jahre 1938 war und die Stiftung von jemandem finanziert wurde, der selbst flüchten hatte müssen, wurde bei der Feier auf die Bedeutung dieses Tages hingewiesen. In der Bibliothek der Universität wurde eine von Udo Wid gestalteten Ausstellung mit Bildern aller 55 Preisträger eröffnet und im Jüdischen Museum eine Ausstellung über die Familie Lieben. Es gab auch ein Festkonzert im Konzerthaus. Die früher fast vergessene Lieben-Stiftung war nun als Teil der österreichischen  Wissenschaftstradition anerkannt.

Dr. Robert Rosner wurde 1924 in Wien geboren. 1939 kam er mit einem Kindertransport nach England. Dort arbeitete er erst als Hilfsarbeiter, und dann als Metallarbeiter. Die Matura erreichte er in England nach Abendkursen. 1946 kehrte Rosner nach Wien zurück. An der Universität Wien studierte er zwischen 1947 und 1955 Chemie und schloss mit einem Doktorat ab. 1956-1990 arbeitete er in der Chemischen Industrie. Nach seiner Pensionierung studierte er Politikwissenschaft und Wissenschaftsgeschichte an der Universität Wien 1991-1997, er schloss mit dem Magisterium ab. Seither veröffentlichte Rosner mehrere wissenschaftliche Arbeiten, die sich mit Wissenschaftsgeschichte, und besonders mit der Geschichte der Chemie beschäftigen; darunter: Chemie in Österreich 1740-1914, Lehre-Forschung- Industrie und, als Mitherausgeber, Marietta Blau-Sterne der Zertrümmerung. Biographie einer Wegbereiterin der modernen Teilchenphysik, das auch auf Spanisch und Englisch erschienen ist.