„Sieben Tage sollt ihr nur ungesäuertes Brot essen (...) und wer Chometz (fermentierte Getreideprodukte) isst, dessen Seele wird aus dem Volk Jisrael vernichtet." (Schemos 12:15)
Es ist allgemein bekannt: Zum jüdischen Pesachfest gedenken wir der historischen Befreiung unserer Vorfahren aus der Sklaverei und des Auszuges aus Ägypten - und wir essen Mazzos. Doch worin liegt die grosse Bedeutung von Mazzos zu Pesach, die so zentral ist, dass dieser JomTow (Feiertag) sowohl in der Torah als auch im Siddur (Gebetbuch) „Wallfahrtsfest der Mazzos" genannt wird? Was macht diese einfache, trockene und geschmacklose Speise zur Grundlage der jüdischen Lebenserfahrung und Ideologie? Warum symbolisiert Mazzo das Ideal von Freiheit? Mazzo, dieses berühmte und doch sehr einfache Gebäck aus Wasser und Mehl, hat verschiedene Aspekte: wie unsere Weisen lehren, ist es das Brot des Leidens, das von Armen und Sklaven gegessen wird; gleichzeitig ist es aber auch das Brot der Befreiung und das Wahrzeichen der Freiheit des Individuums an sich. Worin besteht die einzigartige Symbolkraft dieses eigenartigen Brotes?
Brot ist, global betrachtet, die wichtigste Quelle der menschlichen Ernährung und als solches die physische Grundlage unseres weltlichen Lebens. Mazzo ist die bescheidenste Art von Brot und das wohl einfachste von menschlicher Hand produzierte Lebensmittel, dessen Herstellung die Verbindung der grundlegendsten Elemente der menschlichen Zivilisation beinhaltet: Getreide, Wasser und Feuer. Der Teig, aus dem Mazzos gebacken werden, besteht ausschliesslich aus Mehl und Wasser, und keine anderen Zutaten oder externen Elemente haben einen Einfluss auf deren Form oder Geschmack. Innerhalb des kurzen Zeitrahmens von 18 Minuten, nachdem das Mehl mit dem Wasser erstmals in Berührung gekommen ist, müssen die Mazzos verarbeitet und in einem heissen Ofen fertig gebacken sein. Dauert die Verarbeitung des Teiges länger, dürfen die daraus entstandenen Brotfladen während der gesamten Woche von Pesach weder gegessen werden noch sich im Besitz eines Juden befinden. Warum dieser Zeitdruck? Wird der Teig nicht rechtzeitig gebacken, beginnen nach 18 Minuten externe Prozesse die Mischung aus Mehl und Wasser zu beeinflussen und chemisch zu verändern. Die sich bereits natürlicherweise im Mehl und sogar in der Luft befindlichen Milchsäurebakterien und Hefen beginnen sich im feuchten Teig zu vermehren und produzieren Kohlenstoffdioxid, indem sie die vorhandenen Zuckermoleküle verstoffwechseln, was zur Auflockerung und Fermentierung des Teiges führt und ihn in Chometz („gesäuertes Getreideprodukt") verwandelt. Da während der gesamten Woche von Pesach keine gesäuerten Getreide oder Mehlprodukte konsumiert werden und nicht einmal in unserem Besitz sein dürfen, muss bei der Herstellung von Mazzos darauf geachtet werden, dass der Teig noch vor dem Beginn jedweder Fermentierungsprozesse vollständig verarbeitet wird.
Der Einfluss jener externen, bis zum Backen des Teiges unaufhaltsam fortschreitenden, mikrobiologischen Vorgänge symbolisiert die von aussen ständig auf uns wirkenden gesellschaftlichen Kräfte und Strömungen, welche die Unabhängigkeit und Selbstständigkeit unserer freien Willensentscheidung beeinträchtigen. Die Hefe- und Milchsäurebakterien im Teig sind unabhängige Organismen, die ihre Stoffwechselprozesse selbstständig durchführen, egal, ob dies von demjenigen, der das Mehl mit dem Wasser vermischt hat, gewollt ist oder nicht; sie vermehren sich und durchdringen den Teig, dessen Struktur sie sowohl chemisch als auch physisch fundamental verändern. Diese Fermentierung, dieser Chometz, ist die Versinnbildlichung all jener äusseren Einflüsse, die ständig versuchen, uns von unserer eigentlichen Aufgabe und Bestimmung, dem eigentlichen Sinn unseres zeitlich begrenzten weltlichen Lebens abzubringen und uns zu Taten und Verhaltensweisen verleiten, denen wir, wenn wir tatsächlich unserem unabhängigen freien Willen entsprechend handeln würden, ablehnend gegenüberstünden. Chometz ist ein natürlicher Vorgang, der die negativen Kräfte und gesellschaftlichen Mechanismen symbolisiert, die permanent daran arbeiten, uns davon abzuhalten, unserer Verantwortung als Individuen und als Gesellschaft in dieser Welt gerecht zu werden.
Mazzo ist das ungesäuerte Brot, auf das diese mikrobiologischen Prozesse keine Wirkung hatten, weil es bewusst schnell genug verarbeitet worden ist, um dies zu verhindern. Mazzo repräsentiert somit den sein Verhalten kontrollierenden Juden, der, seinem unabhängigen und freien Willen folgend, unabhängig von gesellschaftlichen Einflüssen und Versuchungen, denen er sich bewusst entzieht, für sich selbst entscheidend agiert. Mazzo ist das Gegenteil von Chometz.
Mazzos sind flache, knusprige Brotfladen, die in grosser Eile, so schnell wie möglich verarbeitet werden. Jedes Jahr backen wir vor Pesach dieses Brot, das wir dann während der gesamten Pesach Woche essen, um die eilige Flucht der Kinder Jisraels aus der ägyptischen Sklaverei nachzuempfinden und zu erleben, wie es in der Torah steht:
„Esst keinerlei Chometz! Sieben Tage dürft ihr nur Mazzos essen, Notstandsbrot, denn in grosser Eile habt ihr das Land Ägypten verlassen." (Deworim 16:3)
Die eilige Auswanderung aus Ägypten war das Ergebnis der letzten der Zehn Plagen, dem Sterben aller ägyptischen Erstgeborenen. Paroh (der ägyptische Pharao, Anm. d. Red.) hatte nun endlich verstanden, dass er G-ttes Druck ohne jedwede Verzögerung nachgeben musste, um die völlige Zerstörung seines Landes zu verhindern. Um Ägypten zu retten, musste Paroh die Kinder Jisraels sofort ziehen lassen. Um selbst überleben zu können, musste das Volk Jisrael so schnell wie möglich aus Ägypten fliehen. Paroh hatte immer noch einen freien Willen, aber keine Wahl mehr. G-tt tat dies, um Paroh und der gesamten Menschheit zu zeigen, dass hinter allen Geschehnissen und Vorgängen, die man als eine Aneinanderreihung von Ursache und Wirkung beschreiben kann, Seine g-ttliche Hand steht und die Abläufe der Geschichte und der Natur seinem Willen untergeordnet sind. Wie der berühmte Rabbiner Jehudo Löw aus Prag (1512-1609), auch bekannt als der Maharal, erklärt, war es nötig, dass die Menschheit erkennt, dass die Befreiung und der Auszug des Volkes Jisrael aus Ägypten in direkter Folge des Willens und der Intervention G-ttes stattfand.
Warum auf einmal diese Eile nach 210 Jahren der Versklavung in Ägypten? Fermentierung ist nicht nur ein mikrobilogischer Vorgang, der in Mazzos nicht stattfindet, sondern die zentrale Lehre, die wir daraus ziehen. Wie es unsere Weisen schildern, waren es in Wahrheit die Kinder Jisraels, die unter dem Einfluss und Assimilationsdruck der ägyptischen Gesellschaft begonnen hatten, zu „fermentieren", und kurz davor standen, Chometz zu werden - was die Aufgabe und den unwiederbringlichen Verlust ihrer Identität bedeutet hätte. Durch G-ttes Eingreifen wurden unsere Vorfahren im letzten Moment davor bewahrt, Chometz zu werden, und wir blieben bis heute Mazzo.
Das Wort Mazzos wird im Hebräischen genauso buchstabiert wie das Wort Mitzwos (Mem-Tzaddik-Wow-Sow). Das ist auch kein Zufall. Unsere Weisen lehren uns: „Mitzwo habo'oh l'Jodcho al tachmitzeno!" - Wenn du die Gelegenheit hast, eine Mitzwo zu tun, lass' sie nicht Chometz werden! (Mechilta Schemos 12) Was für Mazzos gilt, gilt also auch für Mitzwos. Wir müssen versuchen, unsere Zeit zu kontrollieren und mit allen Mitteln verhindern, von unserer Zeit kontrolliert zu werden. Zeit ist das kostbarste Geschenk, das wir in unserem irdischen Leben zur Verfügung haben. Wir dürfen Zeit nie vergeuden, sondern müssen sie nutzen, um die an uns gestellten Aufgaben und Ziele in dieser an das System der Zeit gebundenen Welt zu erfüllen. Jedes Jahr zu Pesach wird uns dies mahnend in Erinnerung gerufen, wenn wir Mazzos essen. Wir müssen unsere Zeit im Griff haben und nutzen - das ist Freiheit!
Rabbiner Mag. Schlomo Hofmeister ist der Gemeinderabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Wien.
Nach Beendigung seiner Gymnasialzeit lernte er an verschiedenen Jeschiwos in England und Israel, studierte Sozialwissenschaften, Geschichte und Politik an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität sowie der University of British Columbia und beendete Ende 2002 seine Universitätstudien mit einem Master of Science (MSc) Abschluss von der London School of Economics (LSE). 2004 zog er von London nach Jerusalem, um seine Rabbinatstudien, unter anderem im Rabbinerseminar Toras Schlomo von HaGaon HaRav Mosche Halberstam, sel. A., fortzusetzen. Rabbinatsdiplome erhielt er unter anderem von Rav Mosche Sternbuch, dem Vorsitzenden des Orthodoxen Rabbinatsgerichtes von Jerusalem, Rav Avrohom Kopschitz, sowie Rav Joseph Jitzchok Lerner.