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Wie Wien zu seinen Sefarden kam

Michael HALÉVY

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Sie sind jung, sie sind hübsch. Und sie heissen fast immer Rahel oder Ester, la ermoza Rahel oder la ermoza Ester. Und sie sind jüdisch, genauer: Sie sind conversas, also Nachkommen von zwangsgetauften Juden. Sie machen wegen angeblicher jüdischer Geheimlehren Bekanntschaft mit der Inquisition, die sie verhört, und gelegentlich foltert.

Nichts wird ausgelassen, um es dem Leser so herzzerreissend wie möglich zu machen: Denunziation und Verfolgung, Trennung der Familie, Erziehung in einem Mönchs- oder Nonnenorden, Folter und Auto-da-Fé. Und manchmal auch wundersame Rettung. Ester und Rahel widerstehen der Folter, ihrem Folterknecht jedoch nicht immer. Denn der ist nicht nur ungemein attraktiv, sondern offenbart seinen Opfern, was diese nur allzu gerne verschweigen wollten: Auch er ist jüdisch. Und wie das Schicksal es will, verliebt man sich und flieht nach vielerlei Gefahren nach Amsterdam oder London. Ist Liebe einmal nicht im Spiel, so entdeckt man im Opfer einen Bruder oder eine Schwester. Auch diese Entdeckung führt zur Flucht, natürlich auch nach Amsterdam oder London. Einmal aber auch nach Wien.

Diese Geschichten, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts beim sefardischen Publikum in Belgrad, Saloniki oder Istanbul ungemein populär sind, nennen die Autoren bzw. Übersetzer gerne wahrhaftig (verdadero), anregend (interesante), seltsam (kuriozo), tragisch (trajiko) oder herzzerreissend (esmovyente). Es handelt sich meist um Übersetzungen bzw. Adaptationen aus dem Französischen oder Hebräischen, manchmal auch aus dem Deutschen (trezladado del nemstesko).

Auch die Wiener Sefarden fanden Gefallen an diesen Geschichten, die in Wien vor allem in der Zeitschrift Koreo de Vyena als Feuilletonromane verlegt wurden. Einen österreichischen bzw. Wiener Hintergrund jedoch haben nur wenige dieser Geschichten. Und sie wurden auch nicht alle in Wien verlegt.

Zu nennen sind unter anderen:

El emperador Djuzepo el segundo i la ermoza Rahel, istorya muy intresante trezladado de un manoskrito antigo (La Guerta de Istorya I, Wien 1865)

La arovada ija (La Guerta de Istorya II, Wien 1866)

El Konde i el Djidyo (Wien 1873)

El Salvador - istorya muy importante del anyo 1600 (Izmir 1876)

El Salvador - el kuento milagrozo ke akontesyo en tiempo de la inkizisyon en la Austria (Jerusalem 1895)

El Emperador Djuzepo, kuento muy milagrozo ke akontesyo en tyempo del imperador Djuzepo el sigundo en Vyena (Jerusalem 1902)

Los dos melisyos, romanso de la vida djudia en Austria (Jerusalem 1907).

El Konvertido (Istanbul 1921)

Zu den Geschichten, die bis heute immer wieder erzählt werden, gehört jene des legendären Baron Diego de Aguilar (Diega d‘Aguiar, Moses Lopes Pereira), der als Inquisitor seine Schwester zum Tode verurteilt, von seiner Mutter (Abb. 6) beschworen wird, in den Schoss Abrahams zurückzukehren, mit ihr 1725 (über Amsterdam) nach Wien flieht, dort als Administrator des Tabakmonopols zu unermesslichem Reichtum kommt, das Wohlwollen der Habsburger erlangt und sich als Finanzier von Schloss Schönbrunn verdient macht. Ist das eine gesichert, so ist seine Ankunft in Wien zwar in zahlreichen meist kaum bekannten literarischen Versionen überliefert, die Vorlage zu diesen Fassungen aber bis heute unbekannt. Sein Ende lassen alle Geschichten aus, dabei waren die Fakten auch im 19. Jahrhundert bekannt. Diego de Aguilar floh mit Frau und Kindern nach London, wo er selbst und später seine Kinder eine gewichtige Rolle in der spanischen-portugiesischen Gemeinde spielen sollten.

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Abb. 1: Ludwig August Frankl: Geschichte Diego de Aguilar's, 1856. Abbildung: M. Halévy.

An diesen Abenteurer und Wohltäter erinnern nicht nur rabbinische Schriften, die ihn als „Krone des Judentums" bezeichnen (Shelomoh Shalem, Divre Shelomoh, Frankfurt an der Oder 1752), aber auch als einen Ger, einen Proselyten, mit dem man sich nur in spanischer und holländischer Sprache verständigen konnte (Elias Katzenellenbogen). Bernhard Wachstein erwähnt in seinem bekannten Buch über die Inschriften des alten Judenfriedhofs in Wien den Grabstein seiner Mutter Sara (Leipzig-Wien, Bd. 2, Grabstein 875). Die Gemeinden Wien und Temesvár besassen je zwei silberne Rimmonim, die ihnen von Diego de Aguilar geschenkt worden waren. Und bis zur Zerstörung des prächtigen Türkischen Tempels in Wien 1938 wurde an Rosh Hashana  mit einem Kaddish des Baron Diego de Aguilar alias Moses Lopes Pereira gedacht.

Verständlich also, dass die spannende Lebensgeschichte des Tabakbarons zahlreiche Schriftsteller inspirierte.

1856 veröffentlicht Ludwig August Frankl in der Allgemeinen Zeitschrift des Judenthums die Geschichte Diego de Aguilar‘s (Abb. 1). Er will sie aus dem Munde des Hazan Ruben b. Yehuda Baruh, gest. 1875 in Wien, vernommen haben. Kantor Baruch ist der Verfasser einiger Piyyutim, die in den Mahzorim-Ausgaben von Adalbert della Torre, Isaak Knöpfelmacher und Joseph Schlesinger in Wien verlegt wurden.

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Abb. 3: Adolfo von Zemlinszky (1845 - 1900), der Vater des Komponisten Alexander Zemlinsky. Mit freundlicher Genehmigung: M. Halévy.

Drei Jahrzehnte später veröffentlicht Aaron b. Shem Tov Semo, Sohn des in Sarajevo geborenen Wiener Verlegers, Redakteurs und Übersetzer Shem Tov Semo (1827-1881), in der vom Rabbiner Crispin in Turnu-Severin herausgegebenen Zeitschrift Luzero de la Pasiensia seine Version von der Gründung der sefardischen Gemeinde in Wien: El estabilimento de la onorada Comuna Spagnola en Viena, trezladada del ebraico conteniendo la beografia del Baron Diaga [!] de Aguilar (Abb. 2). Er will sie aus dem Hebräischen übersetzt haben (trezladada del ebraico), gibt aber seine Quelle(n) nicht an.

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Abb. 2: Aaron b. Shem Tov Semo: El estabilimento de la onorada Comuna Spagniola en Viena, 1886. Abbildung: M. Halévy.

1888, also zwei Jahre später, veröffentlicht dessen Schwager Adolf(o) von Zemlinszky (Abb. 3), Schwiegersohn von Shem Tov Semo und Vater des berühmten österreichischen Komponisten Alexander Zemlinsky, in deutscher Sprache seine Version von der Gründungsgeschichte. Zemlinszkys deutsche Version jedoch ist weitaus kürzer (und banaler) als die von dem in Sarajevo geborenen Wiener Rabbiner Michael Menahem Papo in judenspanischer Sprache veröffentlichte Übersetzung: El Enkuvrido o Diego de Agilar (Abb. 4). Beide Fassungen sind Bestandteil der 1888 in Wien verlegten zweisprachigen Broschüre Istorya de la Komunidad israelit espanyola en Vyena. Del Tyempo de su fundasyon asta oy segun datos istorikos (Abb. 5). Auch Papo, dessen angebliche Übersetzung nichts mit dem deutschen Original von Zemlinszky gemein hat, verschweigt seine Quelle(n).

1904 gibt der ehemalige Botschafter Spaniens in Wien, Graf Isidoro de Hoyos y de la Torre, in Madrid eine aus der Rashi-Schrift transliterierte Fassung von Michael M. Papo in seinem Buch Los Judíos Españoles en el Imperio Austriaco y en los Balkanes heraus. Da Hoyos der Raschi-Schrift nicht mächtig ist, übernimmt der distinguido orientalista D. Diego Lastras diese Aufgabe. Leider nicht allzu wissenschaftlich, denn seine Transliteration ist mehr als fehlerhaft.

Unbemerkt von den Wiener Sefarden veröffentlicht 1873 der bei den Balkan-Sefarden sehr populäre Mainzer Rabbiner Dr. Marcus Lehmann seinerseits einen Aguilar-Roman: Die Familie y Aguillar. Eine Erzählung vom jüdischen Heldenmut zur Zeit der spanischen Inquisition. Dieser Roman spielt aber fast ausschliesslich in Spanien und thematisiert die Wiedergewinnung der Möglichkeit freier Glaubensausübung. Wien kommt erst am Ende des Romans vor.

Auch wenn es Sefarden noch vor dem ehemaligen Inquisitor und späteren Tabakbaron Diego de Aguilar in Wien gegeben hat, zu erwähnen sind die Hamburger Portugiesen Teixeira und Mussaphia, so erlangen Sefarden doch erst mit dem energischen Auftreten des Barons einen gewissen gesetzlichen Schutz. Dass sein Auftreten in der Literatur wenig mit der historischen Figur zu tun, ist den historisch wenig kundigen literarischen Bearbeitern seiner Lebensgeschichte zu danken. In der rabbinischen Literatur hingegen wird er historisch korrekt beschrieben. Auf welche hebräischen Vorlagen nun die Geschichten von Ludwig August Frankl, Aaron  b. Shem Tov Semo, Adolf von Zemlinszky, Michael M. Papo und Marcus Lehmann zurückgehen - dies bleibt weiterer Forschung vorbehalten.

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Abb. 6: Grabstein der Sara Pereira, gest. 10.9.1746, Mutter des Diego de Aguilar, auf dem Friedhof Seegasse in Wien. Foto: T. Walzer.

 

 

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Abb. 4: Michael Menahem Papo: El Enkuvrido o Diego de Agilar, 1888. Abbildung: M. Halévy.

 

Abb. 5: Titelblatt der Broschüre Istorya de la Komunidad israelit espanyola en Vyena. Del Tyempo de su fundasyon asta oy segun datos istorikos, 1888. Abbildung: M. Halévy.

Bibliographie

Kaul, Christina, Die Spanischen Juden (Sefardim) in Wien, Diplomarbeit, Universität Salzburg 1989

Krobb, Florian, ‹Heimlich glühende Anhänger des Judentums›: Markus Lehmann: Die Familie y Aguillar, in: F. Krobb, Kollektivbiographien - Wunschautobiographien. Marranenschicksal im deutsch-jüdischen historischen Roman, Würzburg 2002, pp. 73-86.

Lebl, �eni, Mozes Lopez Pereira - Baron Diego d‘Aguilar, Zbornik VIII, 2003, pp. 337-370.

Schleicher, Mordche S. (1933), Geschichte der spaniolischen Juden (Sephardim) in Wien, unveröffentlichte Dissertation, Wien 1933-1934

Studemund-Halévy, Michael & Gaëlle Collin (2008a), „Sefarad sur les rives du Danube", Miscelánea de Estudios Árabes y Hebraicos, sección de hebreo, 57, pp. 149-211.

- (2009), „Sefarad an der Donau. Die Sefarden und die deutschsprachige Romanistik", Romanistik in Geschichte und Gegenwart XV, 2, pp. 227-244.

- (2010), Sefarad an der Donau. Los impresos sefardíes en Viena en los Siglos xix y xx, Barcelona (im Erscheinen).

- (2010), Era una vez .... La Komunidad Israelit-Espanyola de Vyena, El Amaneser (Istanbul), V, 61, pp. 14-17.