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65 Jahre habe ich gebraucht, um ein Salzburger zu werden

Tina WALZER

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Der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Salzburg, Marko Feingold, wird heuer 97 Jahre alt. Am 28. Mai 1913 im slowakischen Neusohl (heute: Banská Bystrica) geboren, wuchs er im Wiener 2. Bezirk auf. Im März 1938 floh er aus Österreich in die Tschechoslowakei, und weiter nach Polen. Am 6. Mai 1939 wurde er in Prag, wohin er zurückgekehrt war, von der GESTAPO verhaftet. 1940 wurde er ins Konzentrationslager Auschwitz gebracht, danach in die KZs Neuengamme und Dachau. Am 11. April 1945 wurde er im KZ Buchenwald von amerikanischen Truppen befreit. Noch im selben Jahr geriet er nach Salzburg, und blieb.

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Marko und Hanna Feingold vor der Synagoge von Salzburg, Februar 2010. Foto: T. Walzer.

DAVID: Herr Präsident, wie würden Sie Ihre Position in Salzburg charakterisieren?

Feingold: „Warum gehen Sie nicht endlich nach Israel?" Jahrzehntelang hat diese Frage meinen Alltag begleitet. Ich habe diese Fragen sehr oft mit einer Gegenfrage beantwortet: „Warum gehen Sie nicht nach Rom?"  Im heurigen Januar wurde ich als erster Preisträger mit dem neu geschaffenen Kurt Schubert-Gedächtnispreis für interreligiöse Verständigung ausgezeichnet. Als Salzburger, wie verkündet wurde. 65 Jahre habe ich also gebraucht, um ein Salzburger zu werden.

DAVID: Der Preis wird für „interreligiöse Verständigung" vergeben. Wie sieht das im Alltag aus?

Feingold: Wenn wir einander treffen, begrüsst mich der Salzburger Erzbischof Alois Kothgasser als seinen älteren Bruder - wir sind zueinander wie älterer und jüngerer Bruder, verstehen uns sehr gut.

DAVID: Ein aktuelles Thema: Am 21. Dezember 2009 haben sich Bundeskanzler, Vizekanzler und die Landeshauptleute von Wien und Niederösterreich über die Sanierung und Pflege der jüdischen Friedhöfe in Österreich verständigt. Wie steht es um den Salzburger jüdischen Friedhof?

Feingold: Er besteht aus vier Teilen. Die Einfriedungsmauer stammt aus den Jahren 1900 bzw. 1932, als der neuere Teil zugekauft wurde. Der neue Teil wurde nach 1945 mit rund 200 Gräbern sogenannter Displaced Persons belegt. In Stadt und Land Salzburg hat die Israelitische Kultusgemeinde Salzburg einen guten Partner gefunden. Mit ihnen gemeinsam waren wir in der Lage, Grabsteine, die seit mehr als 100 Jahren auf dem Areal stehen, zu restaurieren und neu zu fundamentieren. Die Stadt Salzburg hat überdies die gärtnerische Pflege des ganzen Friedhofes übernommen. Sie hat uns sogar Alleebäume nachgepflanzt. Mehr kann man sich ja wirklich nicht wünschen. Die Polizei fährt mehrmals täglich vorbei und sieht nach dem Rechten, auch in dieser Hinsicht sind wir sehr gut betreut. Die Anlage ist jetzt der schönste jüdische Friedhof in ganz Europa!

DAVID: Sie haben Glück mit den Salzburgern, in anderen Gemeinden sieht es da nicht so rosig aus. Die letzten Zeugnisse jüdischen Lebens in Österreich, vor allem die Friedhöfe: wie kann man sie erhalten?

Feingold: Ich hätte da eine Idee. Es gibt doch eine Reihe von 15- bis 20-Jährigen, die sagen: „Wir wissen nichts und haben mit ‚Damals' nichts zu tun". Sie sollte man auf die jüdischen Friedhöfe führen, damit sie sehen, wie wunderschön das jetzt aussehen könnte, wenn ihre Grosseltern die Juden nicht vertrieben hätten. Die Ortsgemeinschaften wussten ja von der Vertreibung, und haben nichts dagegen getan, haben profitiert. Synagogen wurden dann Feuerwehrhäuser, alle hatten etwas davon. Jugendlichen den enormen Verlust vor Augen zu führen - das wäre Aufklärungsarbeit für die Politische Bildung.

DAVID: Anlässlich des Jubiläums 100 Jahre Synagoge Salzburg war der damalige österreichische Bundespräsident Thomas Klestil hier. Hatte sein Besuch konkrete Auswirkungen?

Feingold: Der Bundespräsident hatte einen Adjutanten, der kurz vor seiner Pensionierung stand, General Hubertus Trauttenberg, zu ihm hatte ich ein sehr gutes Verhältnis. Er half mir, eine sehr unangenehme Situation auf elegante Weise zu bereinigen. Die SS-Kameradschaft IV legte jedes Jahr zu Allerheiligen auf dem Salzburger Kommunalfriedhof einen Kranz für ihre Helden nieder, Politik und Klerus begleiteten die Zeremonie. Jahrelang protestierten Sozialdemokraten und Kommunisten dagegen. Nichts half, die Medien berichteten, und jedes Jahr aufs Neue tauchte diese SS-Kameradschaft IV auf. Irgendwann bin ich nicht mehr hingegangen zu den Protesten. Daraufhin bekam die Aktion keine mediale Aufmerksamkeit mehr, keine Öffentlichkeit. Und drei Jahre später hatte sich der Verein SS-Kameradschaft IV aufgelöst! Warum? Im Jahr des Besuches des Bundespräsidenten erschien, drei Tage vor der alljährlichen Zeremonie der SS-Kameradschaft IV, General Trauttenberg mit 30 Offizieren des Bundesheeres auf dem jüdischen Friedhof Salzburg und hielt dort eine Gedenkfeier ab. Seither kommt das Bundesheer jedes Jahr zu der Feier. Das war ein Zeichen, das ausgesprochen positiv aufgenommen wurde, und das demonstrative Auftreten des Vereines offenbar überflüssig machte. Seit damals habe ich gute Kontakte zum österreichischen Bundesheer; einmal wurde ich sogar eingeladen, in der Kaserne von Enns einen Vortrag zu halten. Dafür erhielt ich dann eine Medaille.

DAVID: Gab es, aus Ihrer Sicht, einen Unterschied zwischen der Situation für Juden in Wien 1938 und in Salzburg 1945?

Feingold: Österreich gehörte geistig bereits Jahre vor 1938 zu Deutschland, ohne es zu wissen. Das beschreibt jene Formel, die der Nation nach 1945 das Leben erleichterte: „Alle waren dafür, aber keiner war dabei".

Ich würde sagen: Nein, da gab es keinen Unterschied. Salzburg hatte den Ruf einer „Insel der Seligen": 230.000 - 240.000 jüdische Flüchtlinge verschlug es nach 1945 hierher, die meisten vertriebenen Sudetendeutschen landeten auch hier. Die Voraussetzungen für die Grundversorgung waren ja sehr gut. Nach Salzburg waren daher viele geflüchtet, auch aus ehemaligen kroatischen Ustascha-Formationen, denken Sie an René Marcic, Alfons Dalma. Daneben kamen viele Schauspieler, Wehle, Kraus. Alle kamen sie zunächst nach Salzburg, gingen erst später nach Wien. In Salzburg war die Ernährungslage günstiger, denn der Schwarzhandel funktionierte besser, weil so viele Flüchtlinge da waren. Gleichzeitig fanden keine Restitutionen während der NS-Zeit enteigneten Eigentums statt, Rückkehrer waren auch nicht willkommen. Eine typisch österreichische Situation. Da gab es beispielsweise das Wohnungsamt in Salzburg. Frei werdende Wohnungen wurden Überlebenden der Konzentrationslager versprochen. Tatsächlich wurden dann immer andere vorgezogen, die man Elendsfälle nannte, ein KZler bekam nie eine Wohnung. Die Bevölkerung wurde aber in dem Glauben belassen, sämtliche freien Wohnungen Salzburgs gingen an KZler! Das hat natürlich entsprechend Stimmung gemacht gegen Juden.

 

DAVID: Kamen Sie damit selbst in Berührung?

Feingold: Kaum hatte ich 1948 mein eigenes Geschäft eröffnet - ich nannte es „Wiener Moden" - wurde mir auch schon der Gewerbeschein aberkannt. Erst durch eine komplizierte Prozedur bekam ich ihn wieder zurück.

DAVID: Sie haben die Bricha angesprochen, die Untergrundbewegung, die von 1944 bis zur Staatsgründung Israels 1948 Fluchthilfe leistete und die illegale Einwanderung nach Palästina ermöglichte. Wie verhielt sich die Besatzungsmacht gegenüber Juden? Welche Rolle spielten die Amerikaner im Vergleich zu anderen Alliierten? Wie waren sie gegenüber der Bricha eingestellt?

Feingold: Die USA galten als die angenehmste Besatzungsmacht. Für uns Juden wären die Briten auch gut gewesen, wäre da nicht das Palästina-Problem gewesen. Viele Juden wollten ja weiter, nach Palästina. Die Franzosen hatten, wie man damals sagte, mehr Berge als Bevölkerung zu kontrollieren, wurden aber von den Briten bearbeitet, eine strenge Haltung gegenüber jüdischen Flüchtlingen einzunehmen. Bis zum Sommer 1947 schauten die Franzosen weg, und über die Tiroler Berge konnten Fluchtwege nach Italien genutzt werden. Damit war es dann vorbei, und wir mussten neue Wege suchen. Ich blickte auf die Landkarte und entdeckte einen 20 km Luftlinie langen Abschnitt, in dem die amerikanische Zone direkt an Italien grenzte. Das waren die Krimmler Tauern. Unsere neue Fluchtroute war gefunden.

DAVID: Wie sah die Situation der Flüchtlinge in Salzburg aus? Sie setzten sich ja von der ersten Stunde an für deren Betreuung ein.

Feingold: Gerade in der amerikanischen Zone gab es sehr viele sogenannte Displaced Persons, Überlebende des Holocaust, und Lager, in denen sie untergebracht wurden. Ich habe alles Mögliche gemacht, um den jüdischen Lagerinsassen zu helfen. Im Herbst 1945 wurden in Salzburg Lebensmittelkarten ausgegeben. Sie waren nur gültig, wenn man eine Beschäftigung nachweisen konnte. Dazu musste man im Besitz einer Bestätigung mit Firmenstempel sein. In den Lagern hatten wir 80 Mitarbeiter, sie alle mussten angemeldet werden. Zu diesem Zweck gründeten wir die Organisation Jewish Displaced Persons Camps, einen blinden Verein gewissermassen, der nicht offiziell registriert war. Aber er hatte einen Stempel, wir meldeten alle an und bekamen die ersehnten Lebensmittelkarten. In Salzburg gab es die Verpflegungsstelle für politisch Verfolgte. Sie gab täglich für 500 Personen drei Mahlzeiten aus. Zwar wären ausreichend Bezugsscheine vom Ernährungsamt zur Verfügung gestanden, aber die Grosshändler wollten die Lebensmittel nicht liefern, und die Nahrung reichte nicht aus. Also band ich mir meine Häftlingsschleife aus dem KZ Buchenwald um, ging zu ehemals hohen Nazis - und sie gaben! Weil sie Angst bekamen. So war die Küche immer gut versorgt. Ich erhielt aber auch Benzinmarken. Das war ganz entscheidend, denn im Herbst 1945 begannen wir mit den Transporten der Flüchtlinge Richtung Italien. Die Lager waren überfüllt, die Amerikaner mussten alle Insassen versorgen, sie waren daran interessiert, ihren Aufwand in Grenzen zu halten. Die Regierung des Landes Salzburg verfüge über Lastautos, wurde mir von den Amerikanern gesagt, Fahrzeuge, die beschlagnahmt worden und in den Besitz der Landesregierung übergegangen seien. Ich stellte also eine Anfrage: „Ich benötige Lastwagen". Man lehnte das ab. Erst als ich sagte: „ Entweder wir bekommen die Lastautos, oder die Juden bleiben da!", wurden mir sechs Lastautos genehmigt.

DAVID: Sie schmunzeln beim Gedanken an die Geschichte vom Ochsen?

Feingold: In der Siezenheimer Strasse gibt es eine Kaserne. Auch dort waren nach 1945 Juden untergebracht. Eines Tages kauften sie bei Bauern einen Ochsen. Für die Überführung und geplante Schlachtung drohten hohe Strafen. Die Chauffeure kamen zu mir und erklärten die Überführung des Ochsen. Ich wollte den Juden helfen und wandte mich an die Helfer: „Hört zu, ich helfe Euch, aber Ihr habt mir nichts gesagt!" Mit meinem Auto, es hatte das Kennzeichen 1752, fuhren die Chauffeure zu dem Bauern und brachte den Ochsen ins Lager. Das konnte nicht unbemerkt bleiben, denn der Ochs brüllte, bis er im Lager war. Die Bevölkerung holte die Polizei - es war ja wirklich ungewöhnlich, einen brüllenden Ochsen durch die Strassen zu führen. Die Polizei durfte jedoch in ein DP-Camp nicht ohne Vertreter der Militärbehörde hinein. Losgeschickt wurde Aba Weinstein (der später seinen Namen auf Gefen änderte), und das war unser Glück. Er war nämlich der Bricha zugeteilt, stammte aus Litauen, sprach gut Deutsch und Englisch. Er half und hatte ein gutes Verhältnis zu den Amerikanern. Es dauerte geraume Zeit, bis die Amerikaner mit der österreichischen Polizei ins Lager kamen, um den Ochsen zu suchen. Der war allerdings bis dahin bereits gekocht. Das ganze Lager war vom köstlichen Duft der Speisen - Suppe, Fleisch - durchzogen. Der Ochs war weg. Nur die Haut war übrig geblieben. Die Lagerbewohner hatten nicht gewusst, wie sie die beseitigen sollten, und sie kurzerhand über die Mauer nach draussen geworfen. Dort wurde sie am nächsten Tag gefunden.

Meine Autonummer war ebenfalls notiert worden, und so wurde ich gerufen. Im Verhör sagte ich „Ich weiss von nichts!" Zufälligerweise gab es zu jener Zeit in Salzburg einen amerikanischen CIC-Beamten, der nicht immer mit einer US-Autonummer herumfahren wollte. Er hatte sich eine lokale Autonummer machen lassen, zur Tarnung - und das war ausgerechnet die Nummer 1752. Im Verhör sagte ich also: "Vielleicht war das der CIC-Mann, mit dem Ochs?" Alle lachten, und ich wurde wieder heimgeschickt.

DAVID: Die Bricha schleuste die Flüchtlinge nach Italien. Hatten Sie Beziehungen dorthin?

Feingold: Zwischen 1932 und 1938 hatte ich, gemeinsam mit meinem Bruder Ernst, in Italien gelebt, denn in Wien war die Arbeitslosigkeit gross, es gab für mich nach meiner Lehre zum kaufmännischen Angestellten keine Verdienstmöglichkeiten dort. In Italien lernte ich passabel Italienisch. Das kam mir nach 1945 zugute. Mit den Italienern konnte ich aushandeln, dass die jüdischen Flüchtlinge offiziell als „Italiener" galten, „die nach Italien repatriiert" würden. Ich brachte die Flüchtlinge nach Meran. Dort hatten Juden ein Schloss gemietet, dort sammelten sich alle Flüchtlinge, bevor sie weiter an Küstenplätze und von dort nach Palästina gebracht wurden.

DAVID: Wie kam es überhaupt zu der Route über die Krimmler Tauern?

Feingold: Es gibt eine Diskussion, wer den Weg über die Krimmler Tauern gefunden hat. Tatsächlich ist Folgendes passiert: Nachdem ich auf der Landkarte den Grenzabschnitt entdeckt hatte, fuhr ich mit Aba Gefen hin, um zu schauen, ob es dort einen Weg gäbe, und ob er den Flüchtlingen zumutbar wäre. Dort trafen wir auf die Tauernhaus-Wirtin Lisl Geisler. Sie war damit einverstanden, uns zu helfen; Lebensmittel für die Flüchtlinge wurden ihr von uns gebracht. Lisl Geislers Enkel besitzt das Tagebuch, und da stehe ich als Erster drin! Alle anderen kamen später.

DAVID: Wie wurde die Flucht organisiert?

Feingold: Auch in Saalfelden gab es ein Lager für Juden. Britische Spione waren vor dem Lager postiert, um auf die Flüchtlinge aufzupassen, damit alle drin blieben. Nachdem aber der letzte Zug vom Bahnhof Saalfelden abgefahren war, gingen sie jedes Mal schlafen. In der Früh kamen sie wieder, doch, oh Schreck - das Lager war leer! Wir wussten: Ein Transport musste aus mindestens 300 Personen bestehen, sonst wären alle Beteiligten verhaftet worden - so grosse Gefängnisse aber gab es nicht, also musste man alle laufen lassen. Jeweils nachts kamen Saalfeldener Frächter mit Lieferwagen und brachten die Flüchtlinge nach Krimml. Der dortige Gendarm kann es bestätigen, damals gab das Innenministerium in Wien Anweisung, die Gendarmen sollten „nicht aus dem Fenster schauen". So ging das also.

Ganz besonders erwähnen möchte ich Viktor Knopf. Er war ein Jude aus Schlesien, nach dem Krieg ansässig in Zell am See. Er führte die Flüchtlinge in Gruppen von Saalfelden aus über die Krimmler Tauern. Zuerst war er selbst als Flüchtling in einem DP-Camp gewesen, dann half er gleich. Die Touren machte oft drei Mal pro Woche, mit immer neuen Flüchtlingen, die ganzen Tauern rauf, und dann wieder zurück bis ins Camp. So brachte er die Flüchtlinge hinüber.

DAVID: Waren Sie auch in anderer Weise für die Bricha tätig?

Feingold: 1947 wurde mir mitgeteilt, dass grosse Elektroboiler oder vergleichbare Geräte gesucht würden. Es spiele keine Rolle, ob sie funktionstüchtig wären. Ich wunderte mich, machte mich aber auf die Suche. In einer Salzburger Wäscherei wurde ich fündig, die waren bereit, mir Waschmaschinen zu überlassen. Die Geräte wurden vollgefüllt mit Waffen, aussen neu lackiert, und so nach Haifa gebracht. Beim Ausladen konnten die Engländer nichts ahnen und liessen die Wasserkessel durch!

DAVID: Sie sind schon lange Präsident der IKG hier. Hat sich diese Funktion von Anfang an angeboten?

Feingold: 1945/46 war ich ein Jahr lang Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Salzburg, dann trat ich zurück, wegen meiner Tätigkeit für die Bricha: Ich wollte nicht als Menschenschmuggler Präsident der Glaubensgemeinschaft sein. Dann, viel später, als alle anderen für die Funktion des Präsidenten infrage kommenden Kandidaten verstorben waren, wurde ich 1977 erst Vizepräsident, nach dem Tod meines Vorgängers Friedländer schliesslich 1983 selbst Präsident. Das war anfangs gar nicht leicht, die IKG Salzburg hatte keine Buchhaltung, ich musste alles neu anlegen, auch im Nachhinein für die Zeit davor.

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Mahnmal fŸr die Verfolgung und Vertreibung der Salzburger Juden, 1985. Foto: T. Walzer.

DAVID: Wie hat sich die IKG Salzburg seit 1945 entwickelt, im Vergleich zur Vorkriegsgemeinde?

Feingold: Derzeit haben wir 70 Mitglieder. Vor 1938 hatte die Salzburger Kultusgemeinde 285 Mitglieder und war eine sehr liberale Gemeinde. Nach 1945 wurde sie, bedingt durch die vielen jüdischen Flüchtlinge, orthodox, obwohl die Leiter der IKG immer liberal waren. Rund 500 Juden wurden in Salzburg in der Nachkriegszeit ansässig, hauptsächlich DPs, manche waren aber auch einzeln gekommen. Trotzdem konnte sich daraus keine blühende jüdische Gemeinde der Zukunft entwickeln. Warum? Zwischen 1945 und 1950 hatten die Frauen der Gemeinde insgesamt 80 Totgeburten oder zu schwache Kinder, die bald nach der Geburt verstarben. Das waren die Folgen der KZ-Haft. Später, in den 1970er Jahren standen die jungen Leute unserer nächsten Generation vor der Matura. In Salzburg war daran nicht zu denken, denn die mehrheitlich antisemitisch gesinnten Lehrer wollten sie nicht passieren lassen. Also wurden die Kinder ins Ausland geschickt, um ihren Schulabschluss machen zu können. Alle waren weg, keiner kam zurück, das heisst, uns fehlt eine ganze Generation - oder eigentlich zwei, denn auch deren Kinder kehrten nicht nach Salzburg zurück. So sind wir eine aussterbende Kultusgemeinde.

Den Todesstoss hat uns schliesslich Chabad gegeben. Wir haben uns sehr bemüht, aber die Zusammenarbeit mit ihrem Rabbiner war ein Desaster. Die Leute glaubten denen mehr als mir. Jetzt wartet Chabad darauf, dass ich sterbe. Dann wollen sie die IKG Salzburg übernehmen, wohl, um sich mit dem klingenden Namen zu schmücken. Trotzdem: Wir haben hier an den Gebäuden und Baulichkeiten alles neu gemacht, Dinge geschaffen, die noch die nächsten 20 bis 30 Jahre halten werden. Wir, meine Frau und ich, machen alles hier selbst, so gut wir es vermögen, und im Winter schaufeln wir den Weg zum Eingang der Synagoge frei. Nur für den Innenraum der Synagoge leisten wir uns eine Putzfrau. Die Situation an den Schulen hat sich mittlerweile übrigens gebessert; zwar sind 70 Prozent dagegen, aber immerhin 30 Prozent der Lehrer heute dafür, Zeitzeugen in Schulen einzuladen; beispielsweise an die Schisport-Schule in Schladming.

DAVID: Gibt es eine institutionalisierte Beschäftigung mit jüdischer Geschichte und Kultur in Salzburg?

Feingold: Der frühere israelische Botschafter in Österreich Yosef Govrin kam öfters nach Salzburg. Er wünschte sich einen Studiengang Jüdische Studien an der Universität Salzburg. Das lag auch mir am Herzen. Wir haben ja einen Mangel an Kantoren, und jene, die es gibt, sind in Liturgie oft nicht gut ausgebildet. Die Idee war daher, an der Universität Salzburg eine Ausbildung in liturgischen Fragen anzubieten, und ergänzend dazu am Mozarteum eine musikalische Ausbildung, vor allem natürlich Gesang. Der Rektor des Mozarteums unterstützte diese Idee sehr, aber das Mozarteum war dagegen und kündigte kurzerhand seinen Direktor. Später wurde dann das Zentrum für jüdische Kulturgeschichte gegründet. Auch das ging von meiner Initiative aus; eine Spende Donald Kahns über 500.000 Euro machte es möglich.

DAVID: Ist das Schicksal Salzburger Jüdinnen und Juden der Öffentlichkeit bekannt?

Feingold: Auch bei uns in Salzburg gibt es neuerdings Stolpersteine. Der Salzburger Historiker Gert Kerschbaumer recherchiert die Lebensgeschichten der vorgeschlagenen Personen. Besonders berührend ist das Schicksal des Ehepaares Bigler, das er mithilfe von Unterlagen aus dem Salzburger Stadtarchiv sowie der evangelischen Kirche rekonstruieren konnte: Konsul Bigler, argentinischer Staatsbürger, lebte in einer Villa in Salzburg. Er war getauft und mit einer getauften Jüdin, die der evangelischen Glaubensgemeinschaft angehörte, verheiratet. In seiner Villa hatte er einen Untermieter, der diese in der NS-Zeit „arisierte". Bigler und seine Frau kamen ins KZ, er wurde ermordet, sie überlebte. Nach dem Krieg kam sie wieder nach Salzburg und wollte in die Villa zurück. Das gelang ihr aber nicht, weil der „Ariseur" ein Verwandter des damaligen Salzburger Landeshauptmannes war, und anstatt dass ihrem Antrag stattgegeben wurde, liess man sie im Laufe des Restitutionsverfahrens entmündigen. Die Rechtsanwälte der gegnerischen Seite behaupteten vor dem zuständigen Gericht, Bigler hätte seine Villa bereits vor der NS-Zeit verkaufen wollen. Alle Anträge der überlebenden Ehefrau wurden abgeschmettert. Als sich Frau Bigler dann um Wiedergutmachungszahlungen bemühte, wurde sie abgewiesen mit der Begründung, sie sei argentinische Staatsbürgerin. Nach weiteren langwierigen Auseinandersetzungen wurde ihr die Hälfte der ihr zustehenden Entschädigungszahlungen zugesagt. Frau Bigler kämpfte weiter um ihr Recht, prozessierte, und endlich wurde ihr die Wiedergutmachung in voller Höhe zugestanden. Gleich nach diesem Entscheid verstarb sie. Sie hat also in der ganzen  langen Zeit überhaupt nichts bekommen!

DAVID: In diesem Jahr feiert man 90 Jahre Salzburger Festspiele. Gibt es auch eine öffentliche Erinnerung an Max Reinhardt? Bewirken die Festspiele eine Unterstützung für die IKG?

Feingold: Es gibt das Buch Die Akte Leopoldskron, von Johannes Hofinger, und jedes Jahr Ende November/Anfang Dezember kann man eine Führung durch Schloss Leopoldskron machen, es ist ja heute in Privatbesitz. In der ehemaligen Bibliothek existiert eine schmiedeeiserne Gittertüre, wo Reinhardt einen Davidstern einfügen hat lassen, die wird dann auch hergezeigt. Ansonsten hört und sieht man zum Kontext Juden - Festspiele nicht viel. Donald Kahn, immerhin einer der grössten Sponsoren Salzburgs bisher, wird offiziell fast nie genannt, weil er für sich selbst nicht Werbung macht und seine Spenden nicht an die grosse Glocke hängt.

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Blick in die Sukka der Synagoge von Salzburg. Foto: T. Walzer.

DAVID: Wie steht es um die Gedenkkultur in Salzburg, gibt es Mahnmale?

Feingold: Das Mahnmal vor der Synagoge wurde 1985 errichtet, es erinnert an die Verfolgung und Vertreibung der Salzburger Juden und die Zerstörung ihrer Synagoge. Stadt und Land Salzburg finanzierten seine Errichtung. Aufgestellt wurde es im Garten der Synagoge, da ist es ein wenig geschützt, denn man hatte Angst vor Beschmierungen und Beschädigungen. Als das Mahnmal geplant wurde, sagte der Landeshauptmann Wilfried Haslauer zu mir: „Suchen Sie sich etwas aus, Herr Feingold!" Ich ging also zu einem Steinmetz und suchte mir einen Stein aus. Am Tag der Mahnmal-Enthüllung wurden die Fenster des Steinmetz mit Davidsternen beschmiert, obwohl: Er ist FPÖ-Mitglied! So ist das hier. Ausserdem steht im Mirabell-Garten ein Mahnmal für Euthanasie-Opfer, ein Quader mit Sand, vis-à-vis des Kongresshauses. Man findet es kaum.

DAVID: Werden in der Stadt jüdische Spuren sichtbar gemacht?

Feingold: Zwei bis drei Mal im Jahr finden Spaziergänge „Jüdisches Salzburg" statt, sie sind sehr gut besucht. Ausserdem veranstaltet Herr Kerschbaumer immer wieder ausgezeichnete Rundgänge: einen „Antisemitismus-Spaziergang" und einen „Arisierungs-Spaziergang". Er ist eine grosse Stütze für die Aufarbeitung der jüdischen Geschichte Salzburgs; derzeit arbeitet er an einem Gedenkbuch für die Juden in Salzburg Stadt und Land, sowie für alle unter dem NS-Regime Getöteten, also auch für Roma, Sinti, und vor allem die vielen Konvertiten. Wir haben leider sehr wenig Unterlagen: Gerade die Geburtsmatriken der IKG Salzburg sind zur Gänze verschwunden!

DAVID: Wie wurde der Wiederaufbau der Synagoge nach dem Krieg bewerkstelligt?

Feingold: Nun, die Synagoge war vandalisiert, sämtliches Inventar herausgerissen die Fenster waren zerschlagen. Aber das Gebäude stand noch, der Dachstuhl war nicht eingestürzt. Der Wiederaufbau wurde mit 150.000 (Reichs-) Mark bewerkstelligt, und das ging so: In der unmittelbaren Nachkriegszeit wurde ein Mann auf dem Salzburger Bahnhof von den Behörden angehalten, er trug diese Summe bei sich, sie wurde beschlagnahmt. Das Geld wurde der IKG übergeben, damit wurde dann die Renovierung finanziert. Es war kein offizielles Geld von Stadt oder Land dabei beteiligt. 1968 wurde die Synagoge nochmals renoviert, dabei wurde dann auch die Mikwe gebaut. So etwas hatte es ursprünglich, in der liberalen Gemeinde, ja gar nicht gegeben. Auch die Sukka wurde vergrössert und bekam ein bewegliches Dach. Kommen Sie, ich zeige Ihnen, wie es funktioniert!

DAVID: Herr Präsident Feingold, wir wünschen Ihnen alles, alles Gute - bleiben Sie gesund! Vielen Dank für das Gespräch!

Weiterführende Literatur:

  

Marko M. Feingold: Wer einmal gestorben ist, dem tut nichts mehr weh. Eine Überlebensgeschichte. Hg. v. Birgit Kirchmayr/Albert Lichtblau. Wien: Picus Verlag 2000.

Marko Feingold (Hg.): Ein ewiges Dennoch. 125 Jahre Juden in Salzburg. Wien-Köln-Weimar: Böhlau Verlag 1993.

Adolf Altmann: Geschichte der Juden in Stadt und Land Salzburg. Otto Müller Verlag 1990.

Stan Nadel: Ein Führer durch das jüdische Salzburg. Verlag Jung und Jung 2005.

Daniela Ellmauer/ Helga Embacher/ Albert Lichtblau (Hg): Geduldet, geschmäht und vertrieben. Salzburger Juden erzählen. Otto Müller Verlag 1998.