Das iranische Atomwaffenprogramm sowie die Überlegungen Israels, dieses durch Luftschläge auszuschalten, machten in den letzten Wochen einige Schlagzeilen. Leider ist der Iran aber nicht der einzige Staat in der Region, der in diesen drei Punkten anzuzählen ist. Und angesichts der politischen Umwälzungen im „arabischen Frühling" - und deren unsicheren Ausgangs - ist es fraglich, ob Staaten, die heute noch als „gemässigt" gelten, dies morgen noch sind. Für Israel ist dieses Problem umso kritischer, als es durch seine geografische Lage leichter zu erreichen und durch seine beschränkte Grösse auch leichter zu schädigen ist als etwa europäische Staaten.
Der Iran ist in der Region zweifellos der Staat, der in allen kritischen und gefährlichen Entwicklungen am weitesten fortgeschritten ist (deshalb verdient er auch hier besondere Aufmerksamkeit):
- Eine revisionistische, fundamentalistisch,
antiwestliche politische Agenda
- Ein fortgeschrittenes Raketenprogramm
- Ein fortschreitendes militärisches Atomprogramm.
Punkt eins ist der veränderlichste, zwei und drei benötigen einen längeren Aufbau entsprechender Kapazitäten. Es sei angemerkt, dass hier nur Raketen behandelt werden, die sich für einen möglichen Einsatz als Nuklearwaffenträger eignen und über der im Missile Technology Control Regime (MTCR: 500kg und über eine Reichweite von 300km zu befördern) vereinbarten Obergrenze liegen. Kleinere Artillerieraketen, wie sie auch durch die Hamas im Gazastreifen oder die Hizb‘Allah im Libanon eingesetzt werden, sind zwar auch schädlich, aber lange nicht so gefährlich wie der mögliche Einsatz einer Kernwaffe.1
Auch müssen die immer öfter kursierenden Gerüchte „eigenständiger Produktion" hinterfragt werden. In der englischen Fassung der Wikipedia liest man etwa, dass Ägypten über die technische Dokumentation verfüge, die russische R-17 (SCUD) nachzubauen und Nordkorea dabei geholfen haben soll. Ähnliches wird über Libyen erzählt. Nun ist aber bekannt, dass etwa alle ägyptischen R-17, die während des Yom-Kippur-Krieges gegen Israel verschossen wurden, von russischen Bedienungsmannschaften abgeschossen wurden, da Ägypten zwar über die Raketen, aber kein ausgebildetes Personal verfügte. Auch als Libyen 1986 Lampedusa mit R-17 beschoss, verfehlten die Raketen weit ihr Ziel - die libyschen Bedienungsmannschaften hatten vergessen, die Erdrotation in ihre Flugbahnberechnung mit einzubeziehen. Dass Staaten, die über keine geeigneten Bedienungsmannschaften verfügen, diese Raketen selbst bauen können, ist wohl sehr in Zweifel zu ziehen.
Generell ist der Nachbau von ballistischen Raketen kein einfaches Unterfangen. Besonders das Triebwerk besteht aus vielen Einzelteilen, deren Toleranz und Herstellungsmethode sich nicht alleine durch die Analyse vorhandener Exemplare erschliessen lässt. Genauester Einblick in den Produktionsgang, am besten die originalen Fertigungsmaschinen und Beratung/Hilfe durch das originale Herstellungsteam wären nötig. Und selbst dann wäre ein umfangreiches Testprogramm nötig, um die einzelnen nachgebauten Komponenten sowie die neue Rakete genau zu testen. Die minimalen Testprogramme in Nordkorea und Iran sind jedoch eher Abnahmeschiessen - man überprüft die Funktionsfähigkeit importierter Ware.2
Russische Rüstungsexporte in den Nahen Osten und deren Verwendung
Der Einkauf fertiger Raketen ist die billigste und einfachste Möglichkeit, als Entwicklungsland an ballistische Raketen zu kommen. Und nach dem Ausscheiden der R-17 aus den Arsenalen der Warschauer Pakt-Staaten wurde diese in den 80er Jahren grosszügig in den Mittleren Osten exportiert: Heute verfügen Ägypten (9 Werfer), Syrien (18-30 Werfer), die Vereinigten Arabischen Emirate (6 Werfer, 20 Raketen), der Oman (unbekannte Anzahl), der Jemen (6 Werfer) und freilich der Iran (12-18 Werfer) über einsatzfähige SCUD.3 Der Bestand und Verbleib libyscher R-17 ist nach dem Bürgerkrieg ungeklärt. Der Iran modifizierte die Rakete unter Verwendung anderer Gefechtsköpfe, Vergrösserung der Treibstofftanks und Verwendung anderer (höchstwahrscheinlich chinesischer) Steuerungselektronik, um die Reichweite zu steigern (die sogenannte Shahab-2) oder einen nuklearen Gefechtskopf zu tragen (in dieser Version heisst sie dann Quiam).
Doch es blieb mit der R-17 nicht beim einzigen russischen Exportartikel. 1993 tauchte in Nordkorea eine der R-17 ähnliche, aber grössere Rakete auf, die seither als Nodong (in Nordkorea), Shahab-3 (im Iran) oder Ghauri (in Pakistan) bekannt ist. Der sowjetische Ursprung der Rakete lässt sich kaum verbergen. Sie dürfte eine der vielen sowjetischen Mittelstreckenprojekte der späten 50er Jahre gewesen sein, die in Vorserie produziert, aber aufgrund leistungsfähigerer Muster nicht oder nur kurz in sowjetischen Truppendienst kam. Als Typenbezeichnung kommt oft der Name R-18 ins Gespräch, auch wenn das Wissen über die sowjetischen Raketen dieser Zeit lückenhaft ist.
Nordkorea diente Russland als Umschlagplatz dieser Raketen. Allerdings waren weder die pakistanischen noch die iranischen Kunden mit der „Grundausstattung" der Rakete (800km Reichweite, sehr hohe Streuung, Instabilität bei bestimmten Programmwinkeln) zufrieden, und der Iran wandte sich an China, um die Leistungsfähigkeit der Rakete zu verbessern. Dank chinesischer Steuerungstechnik, leichterer Flugkörperzelle aus Aluminiumlegierungen statt Stahl, kleinerer Stabilisierungsflossen und vor allem einem neuen Wiedereintrittskörper bzw. Gefechtskopf konnte vor allem die Reichweite auf etwa 1.300km gesteigert werden. Die Rakete heisst in ihrer militärischen Konfiguration nun Ghadr-1 und als Sondierungsrakete für das iranische Raumfahrtprogramm Kavoshgar-1. Die Rakete wurde auch als Unterstufe für den Safir, die Trägerrakete des iranischen Satellitenprogramms, verwendet. In der Oberstufe eben jener Rakete fanden die Steuerungsmotoren der R-27, einer sowjetischen U-Boot-gestützten Mittelstreckenrakete Verwendung.
Was die militärische Verwendung dieser Raketen gegen Israel angeht, so verfügt der Iran über zumindest 6 Werfer für die Shahab-3/Ghadr, weiters scheint er auch verbunkerte Silos im Raum Täbris zu bauen. Aus diesen ist aber bis heute noch kein Raketenstart erfolgt, weshalb die Einsatzbereitschaft dieser Anlagen als fraglich zu bewerten ist.
Die grossspurigen Erklärungen Moskaus, dass man nicht an weitreichende iranische Raketen glaube (besonders in Richtung des amerikanischen Raketenabwehrprogramms formuliert), beruhen auf der russischen Fehleinschätzung, das iranische Raketenprogramm genau zu kennen, da man scheinbar der einzige Lieferant - zumindest für Triebwerke - sei. Was Moskau übersah - es ist bei der Weitergabe von Raketen und Raketenbauteilen nicht der einzige aktive Staat.
Chinas Rüstungsexporte in den Nahen Osten
Denn Ende der 80er Jahre begann China, Russland am lukrativen Exportmarkt Konkurrenz zu machen. Der erste Kunde Chinas war aber nicht der Iran, sondern Saudi-Arabien, welches Ende der 80er Jahre etwa 60 ältere Mittelstreckenraketen vom Typ Dongfeng 3 sowie 15 Startfahrzeuge bezog. Sie kann einen 2000kg schweren thermonuklearen Sprengkopf (1-3MT) etwa 2600km weit transportieren. Aus den vorgesehenen Abschussstellen südlich von Riad kann der gesamte mittlere Osten erreicht werden. Allerdings führte Saudi-Arabien noch nie einen Testabschuss einer solchen Rakete durch, ihre Einsatzbereitschaft muss also in Zweifel gezogen werden.
Weiters belieferte China den Verbündeten Pakistan, dessen Atomwaffenprogramm es auch tatkräftig unterstützte,4 mit entsprechender Fernwaffen. Dabei ging China weiter als Russland und lieferte nicht nur die Raketen selbst, sondern auch die Produktionsstrassen und die technische Unterstützung zum (inoffiziellen) Lizenzbau dieser Raketen. So wird die Dongfeng-11(A) als Shaheen 1 und die Dongfeng 21 als Shaheen 2 in Pakistan gefertigt (jeweils mit kosmetischen Veränderungen zum Original). Die feststoffgetriebenen Raketen verfügen über eine Reichweite von etwa 600 bzw. 2500km.
Auch wenn pakistanische Angaben über die Treffgenauigkeit und Endphasenlenkung eher in das Märchenreich gehören, sind sie die modernsten und leistungsfähigsten Fernwaffen in der Welt unter dem Halbmond. Da Pakistans Atomprogramm auch durch Saudi-Arabien finanziell unterstützt wurde, ist die Verwendung pakistanischer Kernwaffen in saudischen DF-3 öfters Gegenstand von Spekulationen. Auch über einen möglichen Export der Shaheen 1 oder 2 als Ablöse für die veralteten saudischen DF-3 wird öfters spekuliert.
Ende der 90er Jahre bezog die Türkei von China taktische ballistische Raketen vom Typ B611 - und auch hier konnte die Türkei eine Lizenzfertigung erwirken. Dies bedeutet für die türkische Rüstungsindustrie zumindest einmal den Einstieg in die Raketenproduktion - auch wenn die unter dem Namen Yıdırım II produzierte Rakete gerade unter der im MTCR festgelegten Obergrenze (480kg Gefechtskopf, 300km Reichweite) liegt.
Und zu guter Letzt ist freilich der Iran zu erwähnen. Auch diesen unterstützte China seit den 80er Jahren beim Aufbau seiner Produktionsinfrastruktur im Bereich der Feststoffraketen. Standen diese stets im Schatten der Raketen mit flüssigem Treibstoff (die von Russland geliefert wurden), änderte sich dies 2009 mit dem ersten Start der iranischen Sajjil-1. Diese feststoffgetriebene Rakete kann den 750kg schweren iranischen „Einheitsgefechtskopf" über eine Strecke von ca. 2200km transportieren. Sie kann also alle Staaten des Mittleren Ostens (inklusive Israel) aus der Tiefe des iranischen Territoriums erreichen, wo man die Werfer besser gegen (amerikanische) Luftschläge schützen kann. Die Rakete beruht höchstwahrscheinlich auf der chinesischen M-18, einer 1988 kurz der Öffentlichkeit vorgestellten Mittelstreckenrakete. Sie verfügt über denselben Durchmesser wie die R-18/Shahab-3/Ghadr. Ob sie auch aus den für diese Rakete vorgesehenen Startrampen und Silos einsetzbar ist, müssen jedoch erst Versuche zeigen. Die Rakete befindet sich noch in der Erprobungsphase und wurde noch nicht an die Truppe ausgeliefert.
Pläne des iranischen „Einheitsgefechtskopfes", jenes Wiedereintrittskörpers, der durch alle grösseren ballistischen Raketen des Irans verschiessbar ist (R-17 = Quiam, R-18 = Ghadr, M-18 = Sajjil), sind im Westen 2004 durch einen Überläufer bekannt geworden. Es handelt sich um einen ca. 750kg schweren Gefechtskopf, in dessen Zentrum eine Kernwaffe (Implosionswaffe) mit einem Durchmesser von 60cm weilt. Die Sprengkraft einer solchen Waffe abzuschätzen ist schwer, da der mögliche Grad der Anreicherung wie Aufbau und Qualität des Sprengkopfes, insbesondere der Sprengstofflinsen, schwer abgeschätzt werden können. Sie dürfte aber eher im unteren zweistelligen Kilotonnenbereich anzusiedeln sein.
Aus Sicht Israels ist diese Lage zunehmend beunruhigend, nicht nur wegen des Fortschreitens des iranischen Atom- und Raketenprogramms, sondern auch aufgrund der politischen Instabilität und Unberechenbarkeit anderer Raketenstaaten in der Region. Aus Sicht der USA und Europas ist zu hinterfragen, ob man nicht auch die Proliferateure (China und Russland) politisch stärker unter Druck setzen sollte.
Ein Nachsatz zu den viel zitierten „Doppelstandards"
Im Zuge von Diskussionen um die Verbreitung chinesischer und russischer Raketen im Mittleren Osten wird oft das Argument vermeintlicher „Doppelstandards" der USA als Rechtfertigung für die russisch-chinesische Proliferationstätigkeit ins Felde geführt. Die USA, so ein gängiges Vorurteil, hätten ja Israel bei dem Bau der Atombombe und seiner ballistischen Raketen geholfen. Und so sei es nur verständlich, dass Moskau und Peking eben dieses auch in Bezug auf ihre „Verbündeten" tun.
Dieses weit verbreitete Gerücht schiesst aber an den Tatsachen vorbei, da im Falle Israels die Europäer, genauer gesagt Frankreich (und nicht die USA), die Proliferateure waren.
Die französisch-israelische Kooperation im Nuklear- wie Raketenbereich erreichte in den 50er und frühen 60er Jahren ihren Höhepunkt. Frankreich sah Israel als Verbündeten gegen den Panarabismus und Nasserismus (man bedenke den Algerien-Krieg!). Auch boten sich technisch-wirtschaftliche Gründe für die Kooperation an: Ohne die israelische Expertise wäre das französische Nuklearprogramm nicht so schnell in die Gänge gekommen, während ohne französisches Geld ein solches Programm für Israel unfinanzierbar gewesen wäre. Die französische Hilfe beim Aufbau israelischer Raketenindustrie war eine entsprechende Gegenleistung. So basiert die israelische Jericho I auf der französischen MD-620 von Dassault und die Jericho II hat ihre Ursprünge in den ersten französischen MSBS-Baureihen.
1 Zur Ausbringung von chemischen oder biologischen Kampfstoffen sind Flugzeuge oder kleinere Artillerieraketen weit effizienter als grosse ballistische Raketen jenseits der MTCR-Grenze. Es handelt sich bei den hier angeführten Raketen also um dezidierte Atomwaffenträger.
2 Zu diesem Thema sei vor allem verwiesen auf: Markus Schiller, Fernraketen in Iran und Nordkorea - Technische Einschätzung der Bedrohungssituation, in: Peter Sequard-Base (Hg.), Beiträge zum Workshop Raketenabwehr 17.02.2010, Schriftenreihe des Amtes für Rüstung und Wehrtechnik, 2. Ausgabe, Wien 2010; The International Institute for Strategic Studies, Iran's Ballistic Missile Capabilities, A net assessment, London 2010. Alle diese Schriften beziehen sich auf die Erkenntnisse von Prof. Robert Schmucker, TU München, der vor allem im Zuge seiner Tätigkeit als Inspektor der UN im Irak wie in anderen Staaten des Mittleren Osten Einblicke in die dortige Proliferationslage erhielt. Vgl.: Robert H. Schmucker, Markus Schiller, Fernwaffen in Entwicklungsländern, Technologie und Verbreitung, 14. Auflage, Vorlesungsskriptum der TU München, 2009.
3 Angaben aus: The International Institute for Strategic Studies, The Military Ballance, London 2011.
4 Siehe: Matthew Kroenig, Exporting the Bomb, Technology Transfer and the Spread of Nuclear Weapons, London 2010, S. 112-119.