Wer ist dieser Shylock, der seit über vierhundert Jahren auf den Bühnen der Welt zu Hause ist? Er ist venezianischer Ghettobewohner und Geldverleiher, unerbittlicher Vater und rachsüchtiger Geschäftsmann. Hans Mayer nannte ihn den Phänotyp der fehlgeschlagenen jüdischen Emanzipation: Ein Mann ohne Vornamen.
Als Vorbild diente William Shakespeare wohl auch Roderigo Lopes, Leibarzt von Königin Elisabeth I. mit jüdischer Abstammung, wegen Hochverrats verurteilt, gehängt, ausgeweidet und gevierteilt. Und doch haben wir es mit einer Komödie zu tun, die Juden gespielt von den Komikern in der Truppe. Seitdem hat sich viel verändert.
Zu Jahresbeginn hat der aus Australien stammende Regisseur Barrie Kosky Shakespeares Pfandleiher im Schauspiel Frankfurt auf die Bühne gebeten. Dabei treffen Kosky und Shylock an einem ganz speziellen Ort aufeinander. Vor einem Vierteljahrhundert verhinderten hier Zuschauer, viele davon Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Frankfurts, das Auftreten des „reichen Juden" in Fassbinders Stück „Der Müll, die Stadt und der Tod". In der Fassade des Schauspiel Frankfurts spiegelt sich die Europäische Zentralbank mit dem überdimensionalen Euro-Zeichen auf dem Platz davor. Die Macht des Geldes ist an diesem Ort nicht zu übersehen. Leichter zu übersehen ist das Jüdische Museum, das sich auf der Rückseite des Theaters befindet. Man könnte zwischen Bank, Theater und Museum eine Linie ziehen und hätte in wenigen Metern jene Punkte verbunden, um die auch Shakespeares Werk kreist: Religion und Geld. Dass der Euro in der Realität längst nicht mehr so hell leuchtet wie vor der Zentralbank, verleiht der Inszenierung zusätzliche Brisanz. Ebenso der Antisemitismus von einigen Teilen der Occupy-Bewegung vor den Toren des Theaters.
Kosky hat sich in Österreich und Deutschland vor allem im Musiktheater einen Namen gemacht. Im Herbst 2012 übernimmt er die Intendanz der Komischen Oper in Berlin. An diesem Haus hat er 2004 mit seiner Sicht auf Mozarts „Figaro" für Begeisterung, aber auch für Irritationen gesorgt. Die titelgebende Hochzeit war bei ihm eine jüdische. Kosky hatte sonst nicht auf die Identität seiner Hauptpersonen verwiesen und diese auch nicht problematisiert: Das Judentum von Figaro und Susanna war kein Thema, sondern eine Selbstverständlichkeit. In einem Interview meinte er: „Mein Barrie-Kosky-Theater ist durch alle Elemente meiner Persönlichkeit geprägt, und da ich Jude bin, natürlich auch dadurch." Vorausgegangen waren diesem „Figaro" zahlreiche Inszenierungen, die sich expliziter jüdischen Themen widmeten. Als Gründer des Gilgul-Theaters in Melbourne beschäftigte er sich in den 90er-Jahren mit Fragen jüdischer Identität auf der Bühne. Als Leiter des Wiener Schauspielhauses kreierte er von 2001 bis 2005 zusammen mit Susanna Goldberg die „Jewtopia-Trilogie", die an diese Arbeiten anknüpfte. Dennoch will Kosky nicht als „jüdischer Regisseur" verstanden werden. Auf den Postern des Gastspiels seiner „Dybbuk"-Produktion in Sydney stand: „This is not ghetto theatre." Er wollte nicht, dass das Publikum ein irgendwie folkloristisches jüdisches Theater erwartet. Seine Inszenierungen kreisen häufig um die Frage der Identität und der Konstruktion von Identitäten. Diese Frage stellt sich mit der Figur Shylocks nun auch für Kosky völlig neu.
In seiner „Jewtopia"-Trilogie bat er von Kafka bis Sarah Bernhard, von Houdini bis zu den Marx-Brothers eine verwirrend vielfältige Melange an jüdischen Künstlern auf die Bühne, um sich der Frage zu widmen: Kann man sich von der eigenen Identität befreien? Wo der israelische Autor Motti Lerner einmal meinte, Identität sei immer auch das Ergebnis einer freien Wahl, man könne also wählen, Jude zu sein oder nicht, ist der in der Diaspora arbeitende Kosky skeptischer. Schon „Jewtopia" stand unter dem Motto „No Escape": Der eigenen Identität entkommt man nicht. Seine Frankfurter Inszenierung knüpft nun an diese Fragen an und findet doch einen gänzlich neuen Zugang. Bot die Wiener Trilogie mit Texten, Musik und Liedern jüdischer Künstler so etwas wie die Innensicht auf das Thema, hat man es bei Shakespeares Werk mit der Aussensicht zu tun. Nach dem Pakt mit Shylock sagt Antonio: „Der Hebräer wird noch ein Christ: er wendet sich zur Güte." Am Ende wird er dann in der Zwangstaufe tatsächlich zum Christen.
Das Faszinosum Shylock
Für das Theater müsste man jedoch fragen: Kann Shylock jemals wirklich jüdisch werden? Als Figur auf der Bühne ist er Fantasie seines christlichen Autors, als Figur im Stück immer auch Produkt der venezianischen Gesellschaft. Und doch ist er vor allem auch eines: Der einzige wirkliche Charakter im Werk, eine vielfältige, gebrochene und spannende Figur. Das erklärt auch die Faszination zahlreicher jüdischer Theatermacher, die im Laufe der Jahrhunderte einen eigenen Blick auf diese aus christlichem Geiste geborene Figur geworfen haben. Berühmtestes Beispiel ist Maurice Schwartz, der sich als Regisseur und Hauptdarsteller des Stücks „Shylock und seine Tochter" von Ari Ibn Zahav im Jahr 1947 am Yiddish Art Theatre in New York an einer Neudeutung versuchte. Nur in Israel ist Shylock nie wirklich heimisch geworden. Der neue Staat wollte sich von Beginn an selbst ein Bild davon machen, was es heisst, Jude zu sein. Das Bild im christlichen, antisemitischen Spiegel war nicht gefragt.
Kosky hat bereits bewiesen, dass er aus dieser Spannung kreative Funken schlagen kann. Aus seiner 2011 vollendeten Hannoveraner „Ring"-Inszenierung blieben vor allem Alberich und Mime im Gedächtnis. Wo Wagner mit den beiden Nibelungen notdürftig verschleierte antisemitische Karikaturen schuf, redete Kosky Klartext: Beide Figuren zeichnete er als Juden. Wagners verstohlen untergründige Klischees wurden bei Kosky zu lebendigen Figuren, zu spannenden Menschen. Im Kaufmann gibt es keine Verschleierung des Antisemitismus, hier bricht sich der Hass freie Bahn. Diese Tendenz wird von Kosky und seiner Dramaturgin Susanna Goldberg noch verstärkt: Das Liebesgetändel in Belmont ist gestrichen. Die Aufführung konzentriert sich völlig auf die Auseinandersetzung zwischen Shylock und Antonio. Wolfgang Michael spielt diesen Shylock mit voller Härte und beeindruckender Intensität. Die Aufführung beginnt mit der Beschneidung Shylocks zum Sch'ma Jisrael. Dazu spricht Michael Benthin Kafkas „Vor dem Gesetz". Dieser Beginn findet seinen Resonanzraum in der Gerichtsszene am Ende des Stücks. Es ist hier keine verkleidete Porzia, es ist ein abstraktes „Gericht", das aus dem Off erklingt und Hof hält. Plötzlich geht es nicht mehr nur um das Pfund Fleisch aus Antonios Brust, es geht um das verborgene Gesetz, das über Shylock zu Rate sitzt und nach dem sich Kafkas Suchender sehnt. Die Zwangstaufe danach bekommt so etwas zutiefst Existentielles: Shylock wird gezwungen, sich seine Vorhaut wieder anzunähen und so den mit Gott geschlossenen Bund rückgängig zu machen. Entkommt man der eigenen Identität nur mit Gewalt und Blut? Also auch hier: „No Escape"?
Diese Fokussierung rückt den religiös motivierten Antisemitismus verstärkt in den Mittelpunkt. Dessen Ablagerungen in der Sprache zeigt die Textfassung Goldbergs auf Basis der alten Schlegel-Übersetzung wunderbar. Doch Kosky und Goldberg gehen noch weiter: Sie montieren antisemitische Texte Martin Luthers zu einem langen Monolog, der sich bis zum Pogromaufruf steigert. Über die Juden heisst es da, man sollte „ihre Synagogen oder Schulen mit Feuer anstecken". Peter Schröder spricht diese Texte als hinzuerfundener „Martin Luther". Doch hier geht es nicht um den Menschen, hier geht es um ein System. Als am 10. November 1939 die Synagogen brannten, war dies in einer zynischen historischen Volte auch der Geburtstag Luthers. Dieser Luther beschreibt eine Judensau-Darstellung an „seiner" Pfarrkirche zu Wittenberg. Unter einer Sau liegen Juden und saugen an den Zitzen. Hinter der Sau steht ein Rabbiner und schaut der Sau „in den Talmud hinein". Barrie Kosky lässt diese Darstellung in einer schmerzhaften Szene lebendig werden. Unter einer riesigen Sau tanzen Juden mit grotesk verzerrten Masken samt Hakennasen. Doch unter dem Schwanz der Sau wartet hier nicht der Talmud, sondern Wagners „Rheingold".
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Bei Kosky bleibt nämlich mehr als Verzweiflung und Wut über den Antisemitismus. Ein früherer Abend von ihm hiess „Dafke!!" und dieses „Trotzdem" zeigt er auch beim „Kaufmann". Was er schon für Alberichs Fluch im „Ring" forderte, hier hat er es wahr gemacht: Die wunderbare Barbara Spitz als dazuerfundene „Sophie aus Brooklyn, Vitebsk" singt Wagner auf Jiddisch, vom Contrast Quartet als Jazz-Standards neu arrangiert. Man kann die ganze Aufführung als Versuch einer Umkehrung begreifen: Wenn der Jude Shylock schon Christ werden muss, dann soll wenigstens der antisemitische deutsche Meister auf Jiddisch gesungen werden, noch dazu von einer Frau. Man mag der eigenen Identität nicht entkommen, aber man kann sie immerhin selbstbewusst in die Arena werfen!
Dr. Jürgen Bauer ist Theaterwissenschafter aus Wien und Verfasser des Buches „No Escape. Aspekte des Jüdischen im Theater von Barrie Kosky" in der Edition Steinbauer.