„Und G-tt sprach zu Mosche: Gehe zu Pharao und sage ihm: So spricht G-tt: Lass mein Volk ziehen!" (Schemos 7:26).
Dieser Vers ist wohl einer der berühmtesten unserer Tora, spätestens seit Louis Armstrongs Erfolg mit dem eigentlich bereits aus dem 19. Jahrhundert stammenden, im Kontext des US-amerikanischen Sezessionskriegs und des Strebens nach einer Beendigung der dortigen Sklaverei entstandenen Songs und dem dadurch international bekannt gewordenen Refrain „Let my People Go!" Dies ist jedoch nur die erste Hälfte eines durch seine Unvollständigkeit sinnverzerrten Zitats. Die durch Mosche Rabbenu ausgerichtete Forderung G-ttes, „Lass mein Volk ziehen", bekommt erst durch den zweiten Teil des Satzes seine eigentliche Bedeutung, nämlich: „damit sie Mir dienen!"
Obwohl der Jomtov von Pessach im Wortlaut unserer Gebete als „Fest unserer Freiheit" bezeichnet wird, scheint dies doch zumindest auf den ersten Blick etwas paradox zu sein: Wurden unsere Vorfahren befreit, um doch wieder nur zu dienen? Worin besteht dann die Freiheit?
Im modernen westlichen Verständnis werden Begriffe wie Freiheit und Liberalismus häufig gleichgesetzt mit der Idee, dass jeder tun und lassen kann, was er will, wobei die Grenze des eigenen Tuns und Handelns lediglich dort beginnt, wo die Freiheit eines anderen verletzt wird. Wenngleich dieser Freiheitsbegriff, der ursprünglich auf den hohen gesellschaftlichen Idealen und Werten der Aufklärung begründet war - eingebettet in die damals nach wie vor starken religiösen und sozialen Konventionen des 19. Jahrhunderts - durchaus als zumindest minimalistische Basis einer menschlichen Gesellschaft funktionieren konnte, fördert er heutzutage, nach der weitgehenden Auflösung dieser damaligen Rahmenbedingungen, vielmehr das nicht selten egoistisch geprägte, zweifelhafte Ideal der individuellen Selbstverwirklichung und nur in den seltensten Fällen das soziale Engagement und ein menschliches Miteinander. Verantwortungsvolles menschliches Verhalten ist in der Konsequenz nicht mehr länger selbstverständlicher Teil der menschlichen Würde und als obligatorisch angesehen, sondern lediglich eine freiwillige, und wenn überhaupt dann sich meistens nur noch in selektiven Bereichen manifestierende Option.
Demnach steht es jedem frei, sich für Tier- oder Umweltschutz einzusetzen - oder auch nicht; soziale Einrichtungen und Bedürftige finanziell zu unterstützen - oder auch nicht; seine Zeit und Privatsphäre den Nöten anderer zur Verfügung zu stellen - oder auch nicht; sich für die Werte und Ideale der Gesellschaft aktiv einzusetzen - oder auch nicht. Das bedeutet keinesfalls, dass jemand der sich in einem oder gar in mehreren dieser Bereiche engagiert, keine gesellschaftliche Anerkennung erfahren würde, dies sehr wohl; jedoch, jemand der sein Leben, sein Geld und seine Zeit ausschliesslich den eigenen egoistischen Bedürfnissen und Wünschen widmet, gilt dennoch als tadellos und sogar als Idealtyp des erfolgreichen, sich selbst verwirklichenden Menschen. Wenn der Spielraum des eigenen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhaltens lediglich vom staatlichen Strafgesetzbuch beziehungsweise den Persönlichkeitsrechten der Mitmenschen definiert wird, mutiert das Ideal der Freiheit zum wertlosen Selbstzweck, der den Sinn des Lebens entleert.
Wie so viele unserer jüdischen Ideale und Vorstellungen, so steht auch unser traditionelles Verständnis von Freiheit der zeitgenössisch praktizierten Auffassung von Liberalismus diametral entgegen. Das jüdische Ideal von Freiheit bedeutet keineswegs, dass man tun und lassen kann, was man will, so wie es einem gefällt, oder man es, unter der Berücksichtigung der eigenen Bedürfnisse, für sich als richtiges Handeln rationalisiert - das ist nicht Freiheit (hebr.: Cherut), sondern Willkür (hebr.: Chofesch). Unter Freiheit verstehen wir genau das Gegenteil, nämlich die Fähigkeit, frei zu entscheiden (hebr.: Bechira, von Cherut), das zu tun, was ich tun möchte, wonach ich mich fühle oder das was richtig wäre zu tun. Nicht das zu tun, was unsere natürlichen, sozialen, wirtschaftlichen, biologischen oder egoistischen Bedürfnisse befriedigen würde, sondern diese zu überwinden und das zu tun, was unseren übergeordneten Werten und Idealen entspricht, das ist wahre Freiheit, das ist es, was den Menschen vom Tier unterscheidet. Tiere sind in ihren Entscheidungen unfrei und vollständig ihren biologischen Trieben unterworfen. Zwar können Tiere durch gezielte Konditionierung an bestimmte Verhaltensabläufe gewöhnt werden, genauso wie das menschliche Verhalten durch kulturelle oder soziale Prägung einem ethisch-moralischen Wertesystem angepasst werden kann. Weder das eine noch das andere hat jedoch irgendetwas mit Gewissensentscheidung und freiem Willen zu tun.
Im nicht-jüdischen Verständnis von Freiheit erscheint alles, was irgendein menschliches Benehmen, Handeln und Tun als „falsch" oder „schlecht" einordnet, als Behinderung oder Limitierung meiner Freiheit. Eine ablehnende oder gar antagonistische Haltung moralischen Wertsystemen gegenüber, insbesondere wenn diese für sich eine transzendente Wahrheit beanspruchen, ist eine natürliche und psychologisch nachvollziehbare Reaktion - wenngleich sie in logischer Konsequenz zu Ende gedacht die Sinnlosigkeit unserer Existenz bedeuten würde. Aber weil das den so denkenden Menschen jeder höheren Verantwortung seines Handelns entbindet, wird dies gerne in Kauf genommen. Pharao ist der Prototyp eines solchen Menschen, der es vorzieht, sich auf eine Stufe mit den zur freien Willensentscheidung unfähigen Tieren zu stellen, um sich seiner menschlichen Verantwortung zu entziehen, indem er sich selbst zum Zentrum und Maßstab seines eigenen Universums macht und geradezu krampfhaft seine Augen vor der tatsächlichen Realität verschliesst.
Pessach, „das Fest unserer Freiheit", ist, scheinbar paradoxerweise, von Anfang bis Ende dominiert von unzähligen, insbesondere unsere Ernährung regelnden, und noch viel mehr als sonst einschränkenden Vorschriften und Verboten. Und die Tora mit ihren 613 Geboten und Verboten, die sich in tausende praktische Details aufgliedern und jeden nur denkbaren Bereich unseres Alltags von morgens bis abends bestimmen und zu kontrollieren scheinen - und wie bereits erwähnt war die Gesetzgebung am Sinai der eigentliche Sinn der Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei, wenn es heisst: „Lass mein Volk ziehen, damit sie Mir dienen!" -, was hat das alles mit Freiheit zu tun?
In den Sprüchen der Väter sagt Rabbi Elasar HaKappar: „Neid, Genusssucht und das Bedürfnis nach Ehre entfernen einen Menschen aus dieser Welt" (Pirkei Avot 4:21), und im Namen von Rabbi Jehoschua ben Levi lesen wir: „Kein Mensch ist so frei, wie derjenige, der sich mit dem Lernen der Tora beschäftigt!" (Pirkei Avot 6:2).
Eine Erklärung dieser Mischna-Zitate ist, dass diese allzu menschlichen von Rabbi Elasar HaKappar erwähnten Triebe und Instinkte unsere objektive Sicht trüben, uns die weltliche Realität verzerrt erscheinen lassen und uns dadurch den freien Willen nehmen, in unserem Leben die richtigen Prioritäten zu setzen und dadurch verhindern, dass wir unserer besonderen Aufgabe und Verantwortung als Menschen gerecht werden können: nämlich, dass wir, im Gegensatz zu Tieren, die Fähigkeit haben, uns bewusst gegen unsere egoistischen Bedürfnisse zu entscheiden und entsprechend zu handeln.
Die primitiven Triebe nach Genuss und Macht, deren ständige Bekämpfung Sigmund Freud in seiner Triebtheorie für das unausweichliche Schicksal des Menschen hält, sind für Rabbi Elasar HaKappar natürliche Herausforderungen, derer sich der Mensch jedoch durchaus entledigen kann, da sie nicht Teil des Menschen, sondern lediglich ein Produkt seiner Jezer Hora sind - jenes Triebes, der es uns immer wieder erschweren möchte, das Richtige zu tun, wenn es nicht unseren eigenen egoistischen Bedürfnissen entspricht. Und was können wir gegen die Jezer Hora unternehmen? „Schleppe ihn in das Beit HaMidrasch (das jüdische Lehrhaus)" (Sukko 52b), denn „kein Mensch ist so frei, wie derjenige, der sich mit dem Lernen der Tora beschäftigt!" (Pirkei Avot 6:2). Rabbi Jehoschua ben Levi sagt uns, dass das Lernen von Tora die ideale Methode ist, jene menschlichen Triebe zu bändigen, die ansonsten unseren freien Willen limitieren und die Werte in unserem Leben von unserem Egoismus leiten lassen. Das authentische Lernen und Verständnis der Tora gibt uns eine andere Perspektive, die es uns ermöglicht, das Ringen nach Genuss, Macht und Ehre bedeutungslos zu machen - und uns dadurch echte, persönliche Freiheit in unseren Entscheidungen zu geben.
Möge das diesjährige Pessach uns allen ein wahrhaftiges Fest der Freiheit sein, damit wir als freie Menschen der Verantwortung und dem Sinn unseres Lebens gerecht werden können und dadurch unseren Beitrag leisten damit ... NÄCHSTES JAHR IN JERUSCHALAJIM!!
Chag Sameach und Gut Jomtov wünscht Euch allen,
Euer Gemeinderabbiner von Wien