Ausgabe

Jüdische Wohltätigkeit in Wien um 1900.

Verena LORBER

Content

Die am Ende des 19. Jahrhunderts in Wien lebenden Juden und Jüdinnen stellten keine homogene Gruppe dar. Sie unterschieden sich durch ihre kulturelle Zugehörigkeit, ihre Sprache, ihre geographische Herkunft sowie durch den Grad ihrer Religiosität. Diese Diversität spiegelte sich auch in den zahlreichen gegründeten jüdischen Organisationen wieder. In diesem Artikel wird auf die „Ostjudenfrage" im jüdischen Vereinswesen sowie auf Vereine, die von galizischen Juden und Jüdinnen ins Leben gerufen wurden, eingegangen. Des Weiteren wird auf die Rolle der Frau im jüdischen Wohltätigkeitwesen Bezug genommen.

Der jüdischen Gemeinde Wiens war es lange Zeit nicht gestattet, sich als solche zu organisieren. Erst 1852 wurde die Israelitische Kultusgemeinde (IKG) von der österreichischen Regierung bevollmächtigt, die Wiener jüdische Gemeinde in allen religiösen, erzieherischen und philanthropischen Fragen zu vertreten. Die Leitung der Kultusgemeinde bestand aus den reichsten und angesehensten Juden der Stadt Wien. Im Zeitraum zwischen 1867 und 1914 unterstützte die IKG über hundert karitative und humanitäre jüdische Hilfsorganisationen und rund zwanzig jüdische Frauenvereine.1

Viele der gegründeten Wohltätigkeitsorganisationen widmeten sich der „Ostjudenhilfe". Die meisten dieser Organisationen vertraten bürgerliche Wertvorstellungen und wollten diese in erzieherischer Form an die ostjüdische Bevölkerung Wiens weitergeben. Insbesondere die zionistische Bewegung versuchte die eher armen traditionsgebundenen Juden und Jüdinnen für ihre Idee zu gewinnen. Leon Keller, in Galizien geboren, rief die erste Toynbee-Halle in der Webergasse im Jahr 1900 ins Leben, deren Hauptaufgabe folgendermassen beschrieben wurde: „unbemittelten, wissenbedürftigen Juden in Wien unentgeltlich bildende und unterhaltende Belehrung zu bieten, sowie alle Bestrebungen nach Kräften zu unterstützten, welche geeignet sind, die unbemittelte jüdische Bevölkerung in körperlicher, geistiger und sittlicher Hinsicht zu fördern."2 Das Ziel war, „Ostjuden" an die westlich säkulare Lebensweise anzupassen. Dies erfolgte durch ein reges Angebot an Vorträgen und Veranstaltungen zu Themen wie Hygiene, Sauberkeit oder Ordnung. Ungeachtet dessen wurde die Toynbee-Halle zu einem beliebten Treffpunkt galizischer Juden und Jüdinnen.3 Dennoch hinterliessen die Versuche, die galizische Bevölkerung in Wien an das Westjudentum anzupassen und die teilweise Geringschätzung ihrer Tradition und Lebensweise, ihre Spuren. Das Gefühl der Ausgrenzung veranlasste einige dazu, eigene galizisch-jüdische Zusammenschlüsse in Wien zu gründen. Dadurch konnte eine Art galizisch-jüdische Unterkultur innerhalb des Wiener Judentums entstehen.

Die Basis des galizisch-jüdischen Gemeinschaftslebens bildeten die Landsmannschaften, welche Zusammenschlüsse jener Juden und Jüdinnen aus denselben Regionen Galiziens waren. Generell betrachtet war diese Organisationsform kennzeichnend für die jüdische Bevölkerung in der Emigration. Dadurch konnte ein Gemeinschaftsgefühl in der neuen Heimat entstehen. Ausserdem konnte somit dem Identitätsverlust durch den Einfluss neuer gesellschaftlicher und kultureller Normen entgegen gewirkt werden. In Wien bildeten die gegründeten Landsmannschaften den Mittelpunkt des sozialen Lebens der galizischen Juden und Jüdinnen und waren vorwiegend für die Unterstützung im Todes- beziehungsweise Krankheitsfall verantwortlich. Obwohl die ins Leben gerufenen Vereinigungen der galizischen Bevölkerung Wiens sich speziell in ihrer religiösen Ausrichtung unterschieden, unterstützen sie sich in finanzieller Hinsicht gegenseitig. Dadurch blieben sie weitgehend von den Hilfestellungen der IKG unabhängig und konnten sich so den geforderten Anpassungsleistungen an die westjüdische Lebensweise entziehen.4

Juden und Jüdinnen aus Galizien gründeten in Wien vor allem Bethäuser. Dies ermöglichte es ihnen, ihren Gottesdienst wie in der Heimat, nach polnisch-jüdischem Ritus, zu gestalten. Durch die Erhaltung ihres eigenen religiösen Habitus konnten sie mit ihrer Heimat Galizien verbunden bleiben. Dieser Kontinuitätsbezug zwischen der alten und neuen Heimat ermöglichte ihnen, die neuen Herausforderungen des Lebens in Wien besser zu meistern.5

Die galizische jüdische Bevölkerung in Wien gegen Ende des 19. Jahrhundert stellte keine homogene Gruppe dar. Dies zeigte sich besonders in der unterschiedlichen Ausrichtung ihrer gegründeten Vereine. Es entstand der im religiösen Sinn, streng orthodoxe, Verein „Mahzike Hadath" sowie der liberalere „Israelitische Synagogenverein Beth Israel nach polnisch-jüdischem Ritus". Der zuletzt Genannte setzte sich bereits im Jahre 1882 für die Errichtung einer eigenen Synagoge ein, welche elf Jahre später durch die Unterstützung reicherer galizischer Juden und Jüdinnen in der Leopoldaugasse 29 fertig gestellt wurde. Neben dem Engagement im sozialen und religiösen Bereich wollten sich die galizischen Juden und Jüdinnen auch politisch innerhalb der Wiener jüdischen Gemeinschaft betätigen. Ihre Forderungen zielten vor allem auf mehr Beachtung ihrer spezifischen Anliegen durch die westjüdische Gemeinschaft ab. Aus diesem Grund wurde im Jahr 1910 der „Verband der östlichen Juden in Wien" gegründet. Dieser unterstützte auf Hilfe angewiesene Ostjuden und -jüdinnen und trat insbesondere gegen die Missachtung der galizischen jüdischen Bevölkerung Wiens durch die tschechisch- und böhmisch-jüdische Gemeinschaft ein.6

Die Rolle der Frau im jüdischen Vereinswesen

Wohltätigkeit zählt im Judentum zu einem der wichtigsten religiösen Gebote. Hierbei kommt den Frauen eine tragende Rolle zu. Speziell im privaten Bereich waren viele Jüdinnen tätig und kümmerten sich um hilfsbedürftige Gemeindemitglieder. Bereits im Jahr 1816 wurde der erste jüdische Frauenverein, der „Israelitische Frauen-Wohltätigkeits-Verein", ins Leben gerufen. Anlass dazu bildete ein Dekret von Kaiser Franz I., durch das die Gründung von Frauenvereinen zu wohltätigen Zwecken erstmals erlaubt wurde. Der „Israelitische Frauen-Wohltätigkeits-Verein" genoss grosses Ansehen in der jüdischen Gemeinde und war eng mit der IKG verbunden.7

Im Jahr 1847 wurde von Theresia Meyer der „Theresien-Kreuzer-Verein" eröffnet. Dessen Aufgabe war es, vor allem Kindern aus armen jüdischen Familien den Besuch einer Lehr- und Arbeitsschule zur ermöglichen. Durch den Besuch der Lehranstalten sollte der „sittlichen Verwahrlosung", besonders von Mädchen, entgegengewirkt und sie mit den Aufgaben und Pflichten einer Jüdin vertraut gemacht werden. Im Jahr 1866 wurde der „Mädchen-Unterstützungs-Verein" gegründet. Dieser half ebenfalls verarmten Mädchen und versuchte deren soziale Lage durch Ausbildung und Erwerbstätigkeit zu verbessern. Eine der herausragensten Persönlichkeiten im „Mädchen-Unterstützungs-Verein" war Regine Ulmann. Sie war besonders in der bürgerlichen Frauenbewegung engagiert und wurde während des Ersten Weltkrieges zur Vorsitzenden des „Verbandes Weiblicher Fürsorge" gewählt.8

Der „1. Zionistische Frauenverein" entstand in Wien im Jahr 1899, dem eine Vielzahl an Gründungen von Frauen- und Mädchenvereinen folgte. Innerhalb der zionistischen Bewegung nahmen Frauen eine wichtige Position in der Wohltätigkeitsarbeit ein. Die Aufgaben des „1. Zionistischen Frauenvereins" beinhalteten unter anderem die „Pflege" der zionistischen Idee, die Vorbereitung zur Kolonisation Palästinas und Syriens sowie die Festigung des jüdischen Nationalbewusstseins vor allem durch das Vermitteln von jüdischer Literatur und Geschichte.9

Die meisten der in Wien existierenden Frauenwohltätigkeitsvereine waren sehr eng mit der IKG verbunden. Der Grad der Verbundenheit zeigte sich auch in der Höhe der erhaltenen Subventionen. Zum Ausgang des 19. Jahrhunderts versuchte die IKG die jüdische Armenpflege zu zentralisieren, um vor allem dem Missbrauch von Unterstützungsleistungen entgegenzuwirken. Dazu wurde im Jahr 1907 die „Zentralstelle für das jüdische Armenwesen" geschaffen, die alle Mitglieder der einzelnen Vereine erfasste. Gerade die Einbindung der jüdischen Frauenwohltätigkeitsvereine in das Wohlfahrtssystem der IKG setzte dem freien Handeln der Frauen oftmals Grenzen. Im Zentrum der Tätigkeit der meisten jüdischen Frauenhilfsvereine stand die Anpassung und Vermittlung der Standards der bürgerlichen Gesellschaft. Ostjüdische Frauen wurden in diesem Kontext eher als „Objekte" der Wohltätigkeit wahrgenommen. Die jüdischen Frauenwohltätigkeitsvereine beschränkten ihre Hilfe häufig nicht nur auf Wien, sondern gründeten Schulen für Dienstbotinnen und Pflegerinnen auch in Galizien. Dadurch wollten sie einerseits der immer stärker werdenden Prostitution von Ostjüdinnen entgegenwirken, indem sie den Mädchen in ihrer Heimat eine Alternative boten. Andererseits herrschte in den Wiener jüdischen Haushalten ein Mangel an Haushälterinnen und Pflegerinnen, welchen man durch die Ausbildung und Vorbereitung der jungen Frauen auf ein Leben in Wien auszugleichen hoffte.10

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass das jüdische Wohltätigkeitswesen in Wien gegen Ende des 19. Jahrhunderts sehr ausgeprägt war und es zahlreiche Unterstützungen für die jüdische Bevölkerung gab. Dieses breite Netz an Organisationen machte Wien auch zum Anziehungspunkt vieler armer, vorwiegend aus dem Osten stammenden, Juden und Jüdinnen. Die Hilfeleistungen der westjüdischen Gemeinschaft waren oftmals an die Übernahme bestimmter Wertvorstellungen geknüpft, um die ostjüdische Bevölkerung an ihre bürgerliche Lebensweise anzupassen. Dies kann als Versuch verstanden werden, dem antisemitischen Druck in Wien entgegenzuwirken. Es zeigt aber auch zum Teil die Geringschätzung der traditionellen Lebensweise vieler Ostjuden und -jüdinnen. Ungeachtet dessen unterstützen die jüdischen Wohltätigkeitsorganisationen in Wien viele veramte ostjüdische Juden und Jüdinnen. Sie nahmen sich ihrer an und trugen wesentlich dazu bei, ihr Überleben zu sichern.

1 Vgl. Rozenblit Marsha, Die Juden Wiens 1867-1914. Assimilation und Identität. Wien/Köln/Graz 1988. S. 153f; Malleier Elisabeth, Jüdische Frauen in Wien 1816-1938. Wohlfahrt - Mädchenbildung - Frauenarbeit. Wien 2003. S. 50, 106.

2  Hödl Klaus, Als Bettler in die Leopoldstadt. Galizische Juden auf dem Weg nach Wien (=Böhlaus Zeitgeschichte Bibliothek Bd. 27). Wien/Köln/Weimar. S. 162f.

3 Vgl. Hödl Klaus, Als Bettler in die Leopoldstadt. S. 162ff; Raggam-Blesch Michaela, Zwischen Ost und West. Weiblich jüdische Identitätskonstruktionen in autobiographischen Erinnerungen jüdischer Frauen. Wien am Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts (Dissertation). Graz 2005. S. 125f; Rozenblit Marsha, Die Juden Wiens. S. 169f.

4  Vgl. Rozenblit Marsha, Die Juden Wiens. S. 155; Hödl S. Als Bettler in die Leopoldstadt. S. 167.

5  Vgl. Hödl Klaus. Als Bettler in die Leopoldstadt. S. 134.

6  Vgl. Rozenblit Marsha, Die Juden Wiens. S. 156f; Hödl Klaus, Als Bettler in die Leopoldstadt. S. 133-137.

7  Vgl. Raggam-Blesch, Zwischen Ost und West. S. 209.

8  Vgl. Malleier Elisabeth, Jüdische Frauen in Wien 1816-1938. S. 218f; Raggam-Blesch, Zwischen Ost und West. S. 210.

9  Vgl. Malleier Elisabeth. Jüdische Frauen in Wien 1816-1938. S. 243ff.

10  Vgl. Raggam-Blesch, Zwischen Ost und West. S. 211f, 215ff; Hödl Klaus, Als Bettler in die Leopoldstadt. S. 232ff, 236f.