Am 1. April 1882 verschwand die 14-jährige Eszter Solmosy aus Tisza-Eszlar/Ungarn. Die Nähe zu Pessach liess die „Vermutung", ja sogar die „Gewissheit" aufkommen, dass die Juden dabei „die Hände im Spiel" hätten. Daraus wurde eine Ritualmordbeschuldigung par excellence, die zum Prozess in Nyiregháza gegen die beschuldigten Juden führte. Dieser begann im Juni 1883 und zog sich bis Ende Juli hin.
Der K.K. Universitätsprofessor Dr. August Rohling in Prag wandte sich am 19. Juni 1883 schriftlich an den antisemitischen ungarischen Abgeordneten Géza Onody, der beim Prozess in Nyiregháza anwesend war. In seinem Schreiben wies er daraufhin, dass es wohl stimme, dass im Talmud, „insoweit er uns im Druck vorliegt, kein Beweis für den rituellen Mord zu finden sei". Das gelte aber, so Rohling, nur für den Talmud, aber nicht, wie die Juden behaupteten, für die gesamte jüdische Literatur. Als Beweis für diese Behauptung führte er das Sefer haLikkutim an, das in Jerusalem 1868 in einem von Moses Montefiore gegründeten Verlagshaus erschienen war. Aus diesem Buch zitierte er zur Rechtfertigung seiner Unterstellung folgenden Passus (156a): „Das Vergiessen nichtjüdischen jungfräulichen Blutes ist für die Juden eine ausserordentlich heilige Handlung, derartig vergossenes Blut ist dem Himmel sehr angenehm und erwirkt den Juden himmlisches Erbarmen." Rohling schloss dieses Schreiben mit der bedrohlichen Ankündigung: „Dies der kurzgefasste Auszug des ganzen Satzes, der, wortgetreu übersetzt, in kurzer Zeit der Öffentlichkeit übergeben werden wird. Die Wahrheit des Obgesagten will ich nöthigenfalls vor dem Richter eidlich erhärten."
In den renommierten Zeitungen Wiens fand dieses Schreiben keinen Widerhall. Anders in Ungarn: dort ging es wie ein Lauffeuer durch die Journale und verbreitete Angst und Schrecken. In dieser Situation wandte man sich an den jungen Rabbiner von Floridsdorf 1, Dr. Josef Samuel Bloch, mit der Bitte, dagegen etwas zu unternehmen, um den Einfluss dieses Schreibens auf das Gericht in Nyiregháza abzuwehren. Die Wahl von Rabbiner Bloch sollte sich als ein Glücksfall erweisen.
Die Kultusgemeinde in Wien hatte bereits 1882 die Ritualmordbeschuldigung scharf zurückgewiesen, sich darüber hinaus aber selbst „klein gemacht", in der Hoffnung, dass dadurch der zu erwartende antisemitische Sturm ohne allzu viel Aufsehen abebben und die Gemeinde von Unbill verschont bleiben würde. Das war aber nicht die Einschätzung von Rabbiner Bloch. Er machte sich nicht klein. Er veröffentlichte in der Morgen Post vom 1. Juli 1883 einen Artikel - gedruckt auf der ersten Seite - mit dem Titel: „Das Angebot des Meineides". Darin schrieb er über Rohling, dass
„es nicht wahrscheinlich ist, dass in der Stadt des heiligen Nepomuk2 ein ähnlicher Process sich einleiten liesse, bei welchem er seine Gelehrsamkeit und seinen Scharfsinn an den Tag bringen könnte zum Nutzen der Sache, so erbietet er sich dem Gerichte in Nyiregháza zur eidlichen Aussage, dass die Juden zu ihrer Gottesverehrung Christenblut nöthig haben.3 Dieser Herr weiss das ganz genau, denn er ist o. ö.4 Professor der hebräischen Alterthümer zu Prag! Wohl ist er nicht in der Lage, eine einzige Zeile hebräisch correct zu lesen, für seine verleumderische Anklage auch nur den Schatten eines Beweises vorzubringen; allein er besitzt - einen Eid, der sich bereits des öftern als felsenstark erwiesen hat, so stark, dass er Mauern brechen und vermittelst welchem er auch Alles vor Gericht beweisen kann, Alles, was ihm einfällt und was ihm beliebt."
Tags darauf erschien die Fortsetzung in noch schärferen Ton, die mit einer Anklage Rohlings endete: „Ich fühle mich deswegen durch mein Gewissen genöthigt, neuerdings gegen den genannten Herrn wegen seiner angebotenen zeugeneidlichen Aussage öffentlich die Anklage des angebotenen Meineides zu erheben, und bin bereit, diese schwere Anklage vor jedem Forum zu begründen." Am 3. Juli 1883 schrieb Bloch: „Offen gestanden, ich habe meine Bewunderung nie dem Genie eines Mannes versagen können, welcher ohne jegliche Kenntnisse der hebräischen Literatur die Lehrkanzel für - hebräische Alterthümer an der Universität Prag sich ‚anzueignen‘, und ein Buch über den Talmud zu schreiben wusste5, ohne auch einen einzigen Talmudtext zu lesen" imstande zu sein. Im vierten und letzten Artikel erwähnt Bloch, dass Rohling von allen Gelehrten und Theologen zurückgewiesen werde und daher das Bedürfnis fühle, hie und da auch einen Gewährsmann für sich anzuführen, allein seine Gewährsmänner seien immer entweder längst verstorbene Personen, oder solche - die noch nicht geboren sind. Sarkastisch fügte er hinzu: „Ein Dementi hat er unter solchen Umständen sicherlich nicht zu fürchten." In diesem Artikel wurde auch ein gewisser Dr. Justus6 erwähnt, Verfasser des Judenspiegels. Diese Zeitschrift, die das Sprachrohr Rohlings war, wurde in Fachkreisen als ‚Lügenspiegel‘ bezeichnet. Rohling wurde verdächtigt, selbst dieser Dr. Justus zu sein. Bloch zitierte Rohling: „Dr. Justus selbst ist nicht mit mir identisch". Von Dr. Justus behauptete Rohling, dass „es keinen Hebraisten auf der ganzen Welt gibt, dem er7 nicht gewachsen wäre".
Es war nicht das erste Mal, dass solche Worte gegen Rohling geäussert wurden. Prof. Delitzsch hatte bereits etliche Schriften gegen ihn veröffentlicht.8 Prof. Nöldeke äusserte sich über ihn: „Dass ein solcher Mensch Professor an einer sozusagen deutschen Universität ist, muss man tief bedauern!" In eingeweihten Kreisen wusste man über ihn Bescheid, aber es war Bloch, der dieses Wissen öffentlich machte. In einem Buch über den Rohling Prozess nennt er diese Artikel bezeichnenderweise „Die Provocation zur Klage". Ursprünglich war Bloch aufgefordert worden, etwas zu unternehmen, um den Einfluss des Schreibens von Rohling auf das Gericht zu vereiteln oder zumindest zu mildern.Aber seine Strategie war, die Glaubwürdigkeit des Professors zu erschüttern, und solcherart ihn und sein verlogenes Schreiben zu Fall zu bringen. Die Universität in Prag konnte nicht darüber hinwegschauen und zwang Rohling, eine Verleumdungsklage gegen Bloch einzubringen - was er nolens volens am 10. August tat.9
Auch die Kultusgemeinde war über Blochs Schritte wenig erfreut. Die Atmosphäre liesse sich mit folgenden Worten charakterisieren:Fehlen einem Zores, dass man noch welche heraufbeschwören muss? Auch von der Wahl des Verteidigers war man wenig erbaut. In Wien gab es nicht wenige bedeutende jüdische Anwälte. Aber Bloch engagierte einen nicht jüdischen Anwalt: Dr. Josef Kopp. Es wurde damals vermutet, dass Rabbiner Bloch sich so entschieden habe, da ein jüdischer Anwalt wesentlich mehr unter Druck gestanden wäre.
Blochs Verbindung zu Dr. Justus
Zurück zu Dr. Justus - dem Verfasser des Judenspiegels. Wer war dieser Justus Brimanus? Aaron Israel Briemann wurde in Rumänien geboren, und schlug zunächst die übliche Laufbahn eines jüdischen Mannes ein. Irgendwann liess er Frau und Kinder im Stich, bekehrte sich zum Protestantismus und liess sich später katholisch taufen. Die Neuzeit10 widmete ihm am 17. Juli 1885 einen Artikel, in dem Brimanus und seine Verbindung zu Rohling näher beschrieben werden. Als Dr. Justus hat er für Rohling den Judenspiegel herausgegeben, und er war wahrscheinlich Rohlings Assistent, als dieser sein Hauptwerk Der Talmudjude geschrieben hat.11 Danach trennten sich ihre Wege. Als aber Rohling wegen des anstehenden Prozesses in Bedrängnis geraten war, rief er den ehemaligen Mitarbeiter zu sich. Die Neuzeit berichtete: „Während des ganzen Sommers 1883 und bis Ende März 1884, erzählt der katholisch gewordene Protestant und Jude Aaron Israel Briemann, habe er Professor August Rohling in Prag im Talmud unterrichtet". Bloch aber beabsichtigte gerade diese Talmudkenntnisse in Frage stellen. Er liess durchblicken, dass er, um den Beweis anzutreten, dass Rohling nicht imstande sei, den Talmud zu lesen, geschweige denn ihn zu erklären, dem Gericht einen Band des Talmud vorlegen wird mit der Bitte, Rohling möge vorlesen und interpretieren. Allzu grossen Erfolg dürfte Brimanus als Lehrer nicht gehabt haben. Darüber hinaus dürfte er auch jener ausländische Sachverständige gewesen sein, den Rohling für ein Gutachten beantragt hatte. Er aber lehnte dieses Ansuchen ab. Auch mit einem katholischen Professor, der um ein Gutachten gebeten wurde, ging es Rohling nicht besser. „Derselbe bat das Gericht dringend, ihn von dieser peinlichen Aufgabe zu befreien, weil er ... nicht gerne Zeugniss gegen einen Kollegen ablegen möchte."12
Auch bei Gericht tat man sich schwer, entsprechende Gutachter zu finden. Schliesslich wandte man sich an die Morgenländische Gesellschaft in Leipzig, und da wurden die Professoren August Wünsche aus Dresden und Theodor Nöldeke aus Strassburg empfohlen. Ihr Gutachten fiel vernichtend aus. Es wurde erwiesen, „dass Rohling in seinen Schriften die hebräischen Texte fälscht, indem er Worte weglässt oder neue hinzufügt". Ferner wiesen sie darauf hin, dass Rohling als Professor des hebräischen Altertums wissen müsste, dass die Blutbeschuldigung „völlig unwahr sei". „Er hätte dies wissen können, obwohl er der hebräischen Sprache nicht kundig sei, aus den Werken lateinischer und anderer Gelehrten." Die Gutachter wiesen auf ein weiteres, nicht unbedeutendes Detail hin - Rohling hatte zwei einander widersprechende Eide geleistet. Einmal in Krakau, und zwar im Prozess Ritter - auch da ging es um einen Ritualmord. „In diesem Fall hat er sich erboten zu beschwören, dass es im Talmud steht, die Juden dürfen Christen morden." Im Fall Tisza-Eszlar „bot er sich an, zu beschwören, dass dies zwar nicht im Talmud stehe, aber im Judentum begründet sei". Diese wenigen Beispiele sprechen eine klare Sprache.
Bei dieser Sachlage war es klar, dass Rohling, der schon die Anklage ziemlich widerwillig einreichte, grosses Interesse daran hatte, dem Prozess zu entgehen. Zunächst beantragte er einen „Forschungsurlaub", der ihm auch gewährt wurde. Als im Oktober 1885 die Wiener Zeitungen berichteten, dass der Gerichtstermin Rohling-Bloch für November festgelegt worden war, beantragte Rohling erneut einen Forschungsurlaub. Diesmal wurde er ihm nicht gewährt.
Wie der Wiener Israelit schon früher vermutete, kam es zu keiner Gerichtsverhandlung. Rohling richtete am 18. Oktober 1885 ein Schreiben an das Gericht, das in der Zeitung abgedruckt wurde.13 Darin sprach er von einer möglichen Verjährung, die das Verfahren undurchführbar machen würde, wenn aber nicht, „so geruhe das hochlöbliche Landesgericht die oben erklärte Abstehung zur Kenntniss zu nehmen" und in Anbetracht seiner finanziellen Lage die „Nichteinbringlichkeit der bisher erwachsenen Kosten zu beschliessen oder deren Nachsicht nöthigenfalls der Gnade Sr. Majestät zu empfehlen." Dieser Wunsch wurde Rohling nicht gewährt. Der Wiener Israelit schloss seinen diesbezüglichen Bericht mit den Worten: „Wahrlich, die Sache kommt dem armen Professor teuer zu stehen, er zahlt ein ansehnliches Lehrgeld, ohne etwas gelernt zu haben." - Rohling musste die Universität verlassen, ging nach Deutschland und widmete sich fortan der antisemitischen Publizistik.
1 Floridsdorf wurde erst 1912 eingemeindet.
2 Prag.
3 Hervorhebungen in den Zitaten gemäss dem Original.
4 Ordentlicher öffentlicher.
5 Gemeint ist „Der Talmudjude", herausgegeben 1878.
6 Dr. Justus alias Justus Brimanus.
7 Dr. Justus.
8 Z.B. „Schachmatt den Blutlügnern Rohling und Justus", Erlangen 1883.
9 Rohling behauptet, die Anklage am 18.März 1884 eingebracht zu haben.
10 Eine jüdische Wochenzeitschrift.
11 Dieses Buch basiert auf Eisenmengers Entdecktes Judentum, eine antisemitische Schrift aus dem 17Jh.
12 Der Wiener Israelit, Nr. 80, Oktober 1885.
13 Unter anderem in der Wiener Neuzeit vom 30.Oktober 1885.