Heimo Gruber
Die Gründungsjahre der Republik Österreich
Alfred Pfoser / Andreas Weigl:
Die erste Stunde Null. Gründungsjahre der österreichischen Republik
1918-1922.
Salzburg-Wien: Residenz Verlag 2017
359 Seiten; 28,00 Euro
ISBN 978-3-7017-3422-1
Die Stärke des vorliegenden Bandes liegt in seiner Quellennähe bei gleichzeitiger Anschaulichkeit der Darstellung. Dabei gelang es den beiden bekannten Wiener Historikern Alfred Pfoser und Andreas Weigl verschiedenste Aspekte von Politik, Kultur, Ökonomie, Rechtsordnung und sozialen Verhältnissen zu bewerten und zu prob-
lematisieren. Widersprüche werden deutlich herausgearbeitet. In einem Land der gescheiterten Aufstände und Revolutionen brachten die Jahre 1918-1920 für Österreich so etwas wie einen einzigartigen Quantensprung des gesellschaftlichen Fortschritts, den es in diesen Dimensionen nie zuvor und nie danach gegeben hat: der Übergang von der > Monarchie zur Republik, die Etablierung eines parlamentarischen Regierungssystems, das Frauenwahlrecht, gewaltige sozialpolitische Errungenschaften (Kranken- und Arbeitslosenversicherung, Arbeiterurlaub, Achtstundentag, Betriebsrätegesetz, Schaffung von Arbeiterkammern) und eine demokratische Verfassung, die bis heute Bestand hat. Auf der anderen Seite war es eine Zeit grösster Not und beginnender politischer und kultureller Gegensätze, die eine gemeinsame Aufbruchstimmung verhinderten. Die durch jene Umbrüche ausgelöste Reformdynamik kam nach dem Zerfall der Koalition von Christlichsozialen und Sozialdemokraten 1920 zum Erliegen und konnte in der Folge nur noch im „Roten Wien“ mit beachtlichen Resultaten fortgeführt werden.
Pfoser und Weigl haben die thematischen Blöcke ihres Buches „Aufbrüche“ – „Niederlagen“ – „Kulturkämpfe“ benannt, hinter denen sie die jeweiligen Abhandlungen gruppieren. Die Autoren unternehmen dabei eine anregende und instruktive tour d’horizon durch die Problemfelder der frühen Nachkriegszeit.
Zusammenbruch und Zerfall der Donaumonarchie schufen nicht nur ein zentraleuropäisches Machtvakuum, sondern führten auch zur Auflösung des gemeinsamen Wirtschaftsraumes. Der Anschluss an Deutschland schien zum Allheilmittel für die Lösung offener Fragen zu werden. Dem tat auch das Anschlussverbot des Friedensvertrages von Saint Germain (1919) keinen Abbruch, die Anschlussaktivitäten verlagerten sich bloss von bundesstaatlicher Ebene auf jene der Länder – wie diesbezügliche Abstimmungen in Tirol und Salzburg demonstrierten. Seuchen (Spanische Grippe, Tuberkulose), prekäre Ernährungslage und Versorgungsdefizite brachten das Land an den Rand einer humanitären Katastrophe. Internationale Hilfslieferungen konnten noch das Schlimmste verhindern. Die hungernden Städte mussten ernährt werden. Damit war auch die Basis für den nachhaltigen Gegensatz zwischen Stadt und Land geschaffen, der in der Folge durch politische und kulturelle Differenzen noch vertieft wurde. Insbesondere verschärften sich die Ressentiments gegen den „Wasserkopf“ Wien.
Durch ein neues Frauenbild, die moderne urbane Kultur, Sport, Theater und Kino fühlten sich all jene herausgefordert, die dahinter Sittenverfall und einen Angriff auf die traditionellen Stützen der Gesellschaft witterten. Die katholische Kirche verfügte noch immer – besonders in ländlichen Regionen – über enorme Mobilisierungskraft und konnte sich etwa bei der Verhinderung der obligatorischen Zivilehe, die Scheidungen ermöglicht hätte, erfolgreich behaupten. Der politische Katholizismus spaltete die Gesellschaft und trug mit der Intensivierung des Kulturkampfes eine Mitverantwortung an der Destabilisierung der jungen Republik.
Das Kapitel „Der Jud ist schuld!“ gibt beklemmende Einblicke in den sich radikalisierenden Antisemitismus, der, wenn auch in unterschiedlichen Nuancen, von Nationalsozialisten, Grossdeutschen und Christlichsozialen instrumentalisiert wurde. Eine masslose Hetzkampagne gegen ostjüdische Flüchtlinge erschwerte diesen zur Erlangung der Staatsbürgerschaft für Österreich zu optieren, was teilweise zu Ausweisungen führte. Antisemitismus beeinflusste ebenso den Kulturkampf: 1921 wollte die christlichsozial-grossdeutsche Regierungskoalition die Aufführung von Schnitzlers Reigen verbieten, scheiterte aber am Widerstand des Wiener Bürgermeisters Reumann. Der Schriftsteller Hugo Bettauer war (1925) eines der ersten Mordopfer antisemitischer Stimmungsmache. Die Sozialdemokratie wurde als „Judenschutztruppe“ attackiert und verteidigte sich mitunter zwiespältig: Zwar wurde der Antisemitismus entschieden verurteilt, andererseits aber die Kooperation der christlichsozial geführten Regierung mit „jüdischem Kapital“ kritisiert und deshalb die Christlichsozialen des „Schwindelantisemitismus“ bezichtigt. Bei solcher Argumentation wurden zugleich die Ressentiments jener bestätigt, die Judentum mit Kapital gleichsetzten. Jüdinnen und Juden wurden aus Turn- und Alpinvereinen ausgeschlossen, konnten sich angesichts regelmässiger Prügelexzesse an den Universitäten und Hochschulen nicht mehr sicher fühlen.
Eine galoppierende Inflation beraubte vor allem den Mittelstand seines Sicherheitsgefühls. Dazu gesellte sich eine Angst vor Umsturz und Kommunismus. Durch derlei Phobien wurde die Beseitigung des „revolutionären Schutts“ als vermeintlich politischen Ausweg angestrebt und später auch exekutiert. Die stabilisierende, letztlich staatstragende Rolle der Sozialdemokratie in der „Ersten Stunde Null“ blieb nicht nur unbedankt: im Zuge jener „Aufräumarbeiten“ wurde neben der parlamentarischen Demokratie auch die Sozialdemokratie als einzige politische Kraft, die uneingeschränkt die Republik bejahte, mit Gewalt beseitigt.
Erwähnenswert ist auch der Exkurs „Drei Schriftsteller und die ,Österreichische Idee‘“: Hofmannsthal, gegenüber der Republik reserviert und strikter Gegner eines „Anschlusses“ an das Deutsche Reich, versuchte seine während der letzten Jahre der Monarchie kultivierte „Österreichische Idee“ als „nationalen Kosmopolitismus“ bei den Salzburger Festspielen weiterzuführen. Für Robert Musil waren nationale Ideen nichts anderes als ideologische „Blendgranaten“. Deutschtümelei und Österreichertum waren ihm gleichermassen fremd, wenngleich er aus pragmatischen Gründen eine Vereinigung mit Deutschland bevorzugt hätte. Unter den österreichischen Autoren gab es keinen engagierteren Republikaner als Karl Kraus. Schon allein der Abscheu der zuvor geschehenen, in seinem Monumentaldrama „Die letzten Tage der Menschheit“ so eindringlich dokumentierten Grausamkeiten war Triebkraft für sein rastloses Wirken, das ihn während seiner letzten Jahre auf die Seite der Sozialdemokratie führte, an deren Republikfeiern er stets mitwirkte. Bei aller wissenschaftlichen Distanz der beiden Autoren bricht bei der Würdigung von Karl Kraus eine grosse Sympathie durch: „In seiner analytischen Unbeugsamkeit war er von allen österreichischen Schriftstellern der Begnadetste, Österreich mit aller Kraft zu schmähen und gleichzeitig mit unbändiger Liebe zu ihm verbunden zu sein.“ (S. 248)
Die erste Stunde Null ist ein gelungener, wichtiger Beitrag zum 100-Jahr-Jubiläum der Republik Österreich.