„Lwiw International Airport“ steht für die Ankommenden auf dem Flughafendach; bezeichnender Weise in latei-nischer Schrift. Dieses Lemberg im ehe-
maligen Ostgalizien war später das polnische LwÓw und das russische L’vov.
Nicht nur die Bevölkerung, auch die Löwenstadt ist im letzten Jahrhundert viel herumgekommen. Oder besser: Immer wieder kommt jemand anderer, und nimmt denen, die gerade da sind, alles weg, verjagt sie oder bringt sie um; ein Vorwand dafür findet sich immer. Aber man weiss es ohnehin: Galiziens Geschichte, und damit auch die der Juden, ist so tragisch und so vielfältig wie die Geschichte Europas und Asiens zusammen. An diesem hellen Frühlingstag erwartet uns also unsere Reiseleiterin, eine zierliche Philologin. Sie wird uns auf unserer Musik- und Literaturreise von Lemberg nach Brody führen, in den Geburtsort von Joseph Roth, im ehemaligen k. u. k. Kronland Galizien und Lodomerien, das jetzt die Westukraine ist. Die Strasse mit den zahllosen Schlaglöchern und einsamen Bushaltestellen führt vorbei an niedrigen alten Häusern mit Veranden in Laubsägen-Architektur, manchmal einer windschiefen Schrebergartenhütte; aber alle mit Gärten, in denen jetzt die Obstbäume blühen, wie ein Versprechen. Wer irgendwie kann, sagt die Reiseleiterin ohne Beschönigung, hat so eine Datscha, wo man Gemüse anbaut und sich Kleinvieh hält. Bei den niedrigen Gehältern ist ein Zweit- und Dritt-Job nötig. Öffentlich Bedienstete, die mit etwas Glück in einem Callcenter arbeiten, verdienen sich dort das Doppelte dazu. Die Ukrainer haben längst gelernt, flexibel zu sein. Dass der Fortschritt überhaupt weiterkommt mit den Elektrischen und Elektron, den O-Bussen, ist eine der vielen Paradoxien in diesem Land.
Es ist wenig Verkehr. Man sieht noch Ladas und sogar Pferdefuhrwerke. Diese gehören den vielen „Unbestimmten“ (Roth, „Volkscafé“, 1919). „Bestimmte“ fahren hingegen heutzutage BMW oder Mercedes und kaufen sich in Wien, Salzburg oder Kitzbühel Häuser und Hotels. Von den Wenigen wird ein Land allerdings nicht reich. Das war schon in der Donaumonarchie so: Galizien war bitter arm. Und auch heute fehlt noch immer eine breite, solide Mittelschicht. Kein Wunder, denn im ostukrainischen Donezk Oblast wütet ein Krieg.
Dann die ersten schüchternen Industriebauten zwischen ihren verfallenden Vorgängern, die ersten, einst wohlhabenden Bürgerhäuser – so manche haben seinerzeit jüdischen Intellektuellen gehört, „…eine halbverklungene Sage aus den Zeiten der Vorvergangenheit“ („Die Mülli“, 1919). Diese Region nostalgisch zu verklären wird einem allerdings schnell abgewöhnt. Das k.u.k. der untergegangenen Doppelmonarchie steht heute für Korruption und Krieg. „Zwischenreich“ hatte Roth es genannt. Geblieben ist zum Glück ein drittes „K“, es steht für Kultur. Aus der heutigen Westukraine kam einst nicht nur Joseph Roth – auch Sigmund Freuds Mutter stammte von hier, Paul Celan, Rose Ausländer, Karl Emil Franzos, Manés Sperber, Leopold Ritter von Sacher-Masoch, Gregor von Rezzori, Joseph Schmidt, Leonard Bernsteins Eltern und viele andere. Umgekehrt war Wolfgang Amadeus Mozarts Sohn Franz Xaver als Lehrer jahrelang erfolgreich in Lemberg tätig. Heute lesen wir eindrucksvolle Musiker-Namen von dort auf den internationalen Programmzetteln. Lemberg ist Weltkulturerbe.
Lemberg
Die prachtvollen Bauten im Wiener Ringstrassen-Stil sind fast alle restauriert, zumeist mit ausländischen Mitteln: Die Oper, das Nationalmuseum, Architektur-Juwelen des Duos Helmer und Fellner wie das Nobelhotel George und das opulente ehemalige k.u.k. Offiziers-Casino nahe der Universität. Wären da nicht die kyrillischen Aufschriften, man käme sich vor wie in Wien, Graz oder Prag. Die Ukrainer sind stolz auf ihr kulturelles Erbe, auch auf jenes der Donaumonarchie; erstaunlich eigentlich, wenn man bedenkt, dass fast 90 Prozent der Bürger Grosseltern haben, die nicht hier geboren sind. Trotzdem – das Café Wien ist so, wie es heisst, mit dem Glas Wasser zum Kleinen Schwarzen und inklusive eines Bildes von Franz Joseph I. „Seine hellen und harten Augen sehen seit vielen Jahren in eine verlorene Ferne“ schreibt Roth. „Die kalte Sonne der Habsburger erlosch, aber es war eine Sonne gewesen.“ Schon damals hatte es zahllose Kaffeehäuser gegeben in Lemberg, im Imperial waren 150 Zeitungen aufgelegen. Kaffeehäuser gibt es immer noch, allen voran das Café Veronika mit seinem grandiosen Art Déco-Interieur.
Alle haben ihre Spuren rund um den Rynok, den Ringplatz hinterlassen: Jan Sobieski hat hier gewohnt, die Venezianer hatten natürlich eine Niederlassung, und wer weiss schon, was in den Gewölben unter der historischen Apotheke alles gebraut wurde? Es gibt Kirchen für jede christliche Glaubensrichtung. Die Armenier statteten die ihre sogar mit kostbaren Jugendstil-Fresken des Lemberger Malers Jan Henryk Rosen aus. Aber die meisten der grossartigen Synagogen wurden von den Nazis zerstört. Im 19. Jahrhundert war der Lemberger Bahnhof einer der grössten der Monarchie. Er hatte sogar schon elektrische Beleuchtung. Die Stadt war nach Wien, Prag und Budapest die viertgrösste Österreich-Ungarns. Mehr als die Hälfte der Einwohner waren Polen, 45.000 waren Juden und 30.000 Ruthenen, wie man die Ukrainer damals nannte. In der Blacharska, zwischen engen, winkeligen Gassen, stand die älteste Synagoge, die Goldene Rojse. Von ihr ist nur mehr eine erschütternd leere Gedenkstätte geblieben, die daran erinnert, dass die Nazis das G’tteshaus 1942 mitsamt der jüdischen Gemeinde vernichtet haben. Auf dem ständigen Jahrmarkt dort war seinerzeit keine Ware so schlecht gewesen, dass sie nicht einen Käufer gefunden hätte, berichtete Hermann Blumenthal. Die Frühlingssonne scheint auf den stillen Platz vor der Ruine und auf den Schanigarten des koscheren Beisls daneben.
Gleich unterhalb der Dominikanerkirche haben sich einige Künstlerlokale etabliert. In einem davon hält eine Philologin von der hiesigen Universität für uns einen Vortrag – in tadellosem, österreichischem Deutsch. Und ja, sie wird von Joseph-Roth-Gesellschaften oft in deutschsprachige Länder eingeladen. Man ist recht gut vernetzt. Bereitwillig markiert sie mir auf dem Stadtplan das Haus von Roths Onkel Siegmund Grübel in der Chekhova. Dieser war als Malz- und Hopfengrosshändler in der Lage, Roth und seine Mutter zu unterstützen. „Sie hatte kein Geld und keinen Mann. Sie sang oft ukrainische Lieder … und die Armen sind es, die bei uns zu Hause singen, nicht die Glücklichen, wie in den westlichen Ländern“, wird Roth an seinen damaligen Verleger schreiben. Genauso treffsicher wird er in seinem Roman „Radetzkymarsch“ die Gründe für den Untergang der Doppelmonarchie aufzeigen. Im Grätzel um das Wohnhaus des Onkels sind die einst gediegenen Bürgerhäuser „... schäbig geworden. Sie tragen gewendete Anzüge und zerbeulte, vom Wetter hergenommene Hüte.“ Es ist Abend geworden, und im Stadtzentrum geht es inzwischen lebhaft zu. Gassen, Plätze und Schanigärten sind voll fröhlicher junger Leute. Kinder tollen umher und ein fahrbarer Stand verkauft zahlreiche Kaffeesorten. In den teuren, hell erleuchteten Restaurants und Hotelbars wickeln jetzt „Bestimmte“ ihre Geschäfte ab – bestimmte und unbestimmte. Unmittelbar daneben Hauseinfahrten, an deren kreativen Leitungsinstallationen man lieber nicht ankommen möchte. Abseits des Zentrums glimmt hinter den Fenstern der Bürgerhäuser, Plattenbauten und Datschas nur eine „todmatte Glühbirne“ („Die Bar des Volkes“, 1920) am prachtvollen Luster, oder sie baumelt einfach von einem Draht. Strom ist zu teuer für die knappen Einkommen der „Unbestimmten“.
Und doch sind all diese heutigen Behausungen direkt paradiesisch im Vergleich zu den halbverfallenen Hütten mit ihren Dächern aus verfaultem Stroh, in denen die analphabetische Masse der ruthenischen Bauern, Häusler und Taglöhner mit ihren Grossfamilien anno k.u.k. in Galizien vegetiert hatte; gewöhnlich in nur einem Raum auf 15-20 Quadratmetern, inklusive Backofen und dem wenigen Vieh. Das galt auch für die Juden der armseligen Schtetln, die Flickschneider und -schuster; ganz zu schweigen von den Familien, die in den Bohrlöchern des Erdölgebietes mit ihren Kindern wie Sklaven schuften mussten: Galizien war damals das Texas der Monarchie. Im Shevchenkivskyy Hay Freilichtmuseum kann man die Hütten zusammen mit den dunkel gebeizten Holzkirchen sehen: niedrige Räume, jetzt museumsgepflegt für allerlei Aktivitäten, hier traditionelle Volkstänze, dort ein Kinderprogramm, oder ein Workshop mit historischen Musikinstrumenten.
Brody
Von Lemberg sind es an die 90 Kilometer nach Brody, knapp vor der russischen Grenze, in die Geburtsstadt von Joseph Roth. Weidenbüsche, Pappeln und blühende Akazien säumen die Strasse. „In der Ferne leuchtet der Schlamm wie schmutziges Silber („Reise nach Galizien“, 1924). „… keiner war so kräftig wie der Sumpf. Niemand konnte der Grenze standhalten“ („Radetzkymarsch“, 1933). An der west-östlichen Czarny Szalak, dem uralten Schwarzen (Handels-) Weg über die podolische Hochebene, hatten die Sobieski und Potocki ihre Burgen und Schlösser. Im strengen Olesko war Jan Sobieski geboren worden. Ein Kolossalgemälde von Altomonte erinnert dort an die Türkenschlacht um Wien von 1683. Mit Brettern verschalt ist das Tor des baufälligen Pidhirtsi, das man einst das Galizische Versailles nannte. Ganz verschwunden sind die jüdischen Schtetln: ausgelöscht.
Brody war einmal Freihandelsstadt gewesen, reich durch den Ost-West-Transithandel. Es gab ausländische Konsulate und Kontore und Speicher für Pelze, Wolle, Tee, italienische Stoffe, Edelsteine, Gewürze. Nach 1848 war Brody verarmt, weil sich der Handel nach Süden verlagert hatte, es wurde zur Stadt der Deserteure und Schmuggler: „Verfallen wie Brody“ sagte man. Noch immer kreuzen sich die Ost-West- und die Nord-Süd-Strasse auf dem Marktplatz. Er ist längst asphaltiert, wie auch die Strasse zum Bahnhof und „… wenn es regnet, muss man (k)einen Wagen nehmen, weil die Strasse schlecht geschottert ist und im Wasser steht.“ („Juden auf Wanderschaft“, 1927). Da ist die Goldgasse mit dem Katzenbuckelpflaster, auf der einst die Offiziere über den Korso flanierten. Aber jetzt? „Die Häuser sind wie schmutzige Kinder in der Fremde, die sich ihrer schlechten Kleidung schämen und scheu zusammenrücken.“ („Volkscafé“, 1919). Immer noch scheint zu gelten: „Die Händler lebten viel eher von Zufällen als von Aussichten“ („Radetzkymarsch“, 1933). Die „Unbestimmten“, die aus den armseligen Geschäften kommen, aus den Häusern mit den baufälligen Balkonen, unter denen man nicht gern vorbei geht, oder aus den Branntweinschenken, wo man heute nur einen 40-Grädigen statt des 90-Grädigen trinkt, werden wohl dazu nicken. Jene Kaserne, in der dieser 90-Grädige das Unheil gehäuft hatte über Carl Joseph von Trotta und seinen Major Zoglauer, diese Kaserne gibt es schon lang nicht mehr. Ihr Platz ist leer. Aber vorne an der Ecke findet sich noch das Hotel des Herrn Brodnitzer. Daran führt uns der Weg vorbei zur Ruine der Festungssynagoge. 1941 haben sie die Nazis zusammen mit rund 40 weiteren Bethäusern zertrümmert. Etwa 9.000 Juden aus Brody haben die Nazis ermordet. Nur an die 200 konnten sich in Verstecken retten. 60.000 Juden wurden im gesamten ehemaligen Ostgalizien nach dem Einmarsch der Deutschen Wehrmacht umgebracht. >
„Gewen is dos Schtetl in a tol … In di ferte sejt is gewen
… die stodtische Kretschma…“ (Saul Miller, „Dobromil“) Die Schtetln mit ihrer verzweifelten Armut gibt es nicht mehr, und nicht mehr den „zargon“ des Jiddischen. Die leeren Fensterhöhlen der grossen Synagoge schauen hinauf in den weiten Himmel. Ihre geschwärzten, zerbröckelnden Wände sind lautlose Zeugen einer vernichteten Elite von Ärzten, Beamten, Kaufleuten, Bierbrauern, von Handwerkern und Ackerbauern, denen die damaligen Kronländer ihren wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung verdankt hatten. Zeit und Raum scheinen an diesem stillen, trüben Vormittag ihre Gültigkeit verloren zu haben. Um die abbröckelnden Mauern hat sich der Sumpf nach einem Regen den Wiesenstreifen zurückgeholt. Gegenüber, wo das jüdische rituelle Bad war, hat man neben dem neuen Feuerwehrhaus eine Sporthallte errichtet – mit einem Schwimmbad. Um die abenteuerlich engen Kurven der Schotterstrasse und über eine prekäre Brücke geht es hinaus zum neuen jüdischen Friedhof am Rand eines Föhren- und Kiefernwaldes. Wenigstens die eine Hälfte davon hat man wundersamer Weise vor der Verwüstung retten können. Die halbverwitterten Grabsteine drängen sich eng aneinander, weil Freunde und Verwandte auch in der Ewigkeit nah beisammen bleiben wollten. Viele Namen der Toten sind inzwischen mit Farbe nachgemalt. Auch das Grabmal des letzten Rabbiners ist noch da. „G‘tt ist hoch“, pflegten die galizischen Acker- und Waldbauern zu sagen.
Wieder zurück, hält unser Bus neben einem kleinen, armseligen Park hinter dem ehemaligen k.u.k. Kronprinz-Rudolf-Gymnasium von Brody, wo um1900 die Unterrichtssprache Deutsch war. „Dort, wo man Kaffee trinkt, waren die Österreicher“ hat unser örtlicher Reiseführer auf der Fahrt erklärt, „dort, wo man Tee trinkt, sind die Russen“. Ein zerrissenes Land: Krieg im Osten, aber auch eine ungarische Minderheit in der Karpatho-Ukraine, dazwischen die vielen, die auf eine baldige Mitgliedschaft in der EU hoffen. Das Gymnasium wurde nach einem Wiener Vorbild errichtet, und schon seine Rückfront kommt einem vertraut vor. Der grosszügige Stiegenaufgang, die Wände im verblichenen Grün, die hohen Fenster in ihren weissen Rahmen: Später wird es drinnen genauso wie in meiner eigenen Schulzeit sein. Jetzt ist gerade Pause. Aus dem Schultor strömen die Kinder ins Freie. Ein kleiner Bub kommt auf mich zu. „I speak English“, sagt er, sichtlich stolz. „This is Joseph Roth’s Gymnasium. Come in!“ Sein kleines Gesichtchen strahlt. Er läuft mir voraus, weil er mir das Denkmal vor dem Schultor und den Eingang zeigen will. Als ich ihm vom Tor noch einmal nachschaue, winkt er mir von draussen fröhlich zu.