Ausgabe

Das Drama an der Donau

Alfred Lang

Teil 1: Die Vertreibung der Juden aus Kittsee, Burgenland

Auch 80 Jahre nach dem verhängnisvollen Jahr 1938 gibt es noch keine umfassende ­historische Aufarbeitung der Vertreibung der burgenländischen Juden.

Inhalt

Eine nicht unbeträchtliche Anzahl regionaler und lokaler Studien zeigt jedoch sehr eindrucksvoll, dass buchstäblich über Nacht eine Kultur und ihre Menschen ausgelöscht wurden, die mehr als dreihundert Jahre Teil des Lebens in vielen Dörfern und Städten dieses Landstrichs waren. Dazu gehörte auch Kittsee, eine der ‚Schewa Kehillot‘, der ‚Sieben Gemeinden‘, die sich unter der Fürstenfamilie Esterházy eine relative Eigenständigkeit hatten erkaufen können. Obwohl laut Volkszählung von 1934 Kittsee mit 62 Personen oder 2,3% der Dorfbevölkerung zum Zeitpunkt des ‚Anschlusses‘ bereits zu den kleineren jüdischen Gemeinden des Burgenlandes zählte, ist deren Ende der „womöglich berühmteste [...] Flüchtlingsfall [...] von 1938“, der nicht nur Erwähnung in der internationalen Presse sondern auch Eingang in Beratungen höchster NS-Kreise fand. Der folgende Artikel zeichnet im Lichte neuer Quellen die Ereignisse nach.

Die Verfolgung der burgenländischen Juden setzte bereits mit dem Tag des Einmarsches der deutschen Truppen in Österreich am 12. März 1938 ein. Teilweise kam es schon am Vorabend des ‚Anschlusses‘ zu gewaltsamen Übergriffen, die in den kommenden Wochen an Zahl und Intensität rasch zunehmen sollten und schliesslich in einem Pogrom endeten, das die gesamte jüdische Bevölkerung des Burgenlandes erfasste. Die Strategie der neuen Machthaber – an der Spitze der illegale Gauleiter und spätere Kurzzeit-Landeshauptmann des Burgenlandes Dr. Tobias Portschy – bestand darin, durch Verbreitung von Angst und Schrecken die Menschen derart einzuschüchtern, dass sie bereit waren ‚Verzichtserklärungen‘ zu unterschreiben, in denen sie ‚freiwillig‘ ihr Hab und Gut dem Deutschen Reich überantworteten und zusicherten, auf schnellstem Wege das Land zu verlassen. Wo dies nicht gelang, griff man zum Mittel der organisierten, gewaltsamen und illegalen Abschiebung über die Staatsgrenzen nach Ungarn, Jugoslawien und in die Tschechoslowakei, aber auch nach Wien. In einer Rede am 2. April 1938 hatte Portschy bereits angekündigte, dass man die „Zigeuner- und die Judenfrage [...] mit nationalsozialistischer Konsequenz lösen werde“. Portschy, aus ärmlichsten Verhältnissen im Südburgenland stammend, war ein ehrgeiziger Emporkömmling, der sich durch ein schnelles und radikales Vorgehen für weitere Karrieresprünge in der NS-Hierarchie in Stellung bringen wollte. Zumindest sollte es ihm gelingen, dass zur Zeit der Novemberpogrome, als in Wien und anderen Städten im Deutschen Reich, die Judenverfolgung einen ersten Höhepunkt erreichte, im Burgenland nur mehr eine Handvoll Jüdinnen und Juden lebte. Immerhin hatte das Burgenland vor 1938 mit mindestens 3.600 Personen nach Wien und Niederösterreich den drittgrössten jüdischen Bevölkerungsanteil.

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Der Grenzübergang von Kittsee/AT nach Jarovce/SK vor dem ‚Anschluss‘. In der Mitte unten das Kaffee-­Restaurant der ­jüdischen Familie Leopold Salomon.
Foto: Archiv Burgenländische Forschungsgesellschaft, mit freundlicher Genehmigung.

Zu Recht wird daher in Bezug auf die Vertreibung der burgenländischen Juden immer wieder darauf hingewiesen, dass diese besonders rasch und besonders gründlich erfolgte, im Falle von Kittsee jedenfalls nur fünf Wochen nach dem ‚Anschluss‘. Die Ereignisse von Kittsee sind zugleich ein Beispiel für die Politik des NS-Regimes gegenüber den Juden in einer Phase, die gleichsam das Vorspiel zur Shoah bildete; die israelische Historikerin Milka Zalmon spricht in diesem Zusammenhang sogar vom „Burgenland test case“. Die Vertreibungen zeigen aber auch die widerwillige Haltung der internationalen Staatengemeinschaft, in dieser Zeit höchster Not die Menschen aufzunehmen.

Der Historiker Jonny Moser, selbst in einer jüdischen Familie im nordburgenländischen Parndorf aufgewachsen, war einer der Ersten, die sich nach 1945 wissenschaftlich mit der Verfolgung und Vernichtung der österreichischen und insbesondere der burgenländischen Juden beschäftigt haben; er nennt den 16. April 1938 als Tag der Vertreibung: „Am 16. April 1938 holte man die Juden von Kittsee und von Pama um Mitternacht aus ihren Betten und brachte sie an die Staatsgrenze, wo man sie mitten auf der Donau auf einem Wellenbrecher aus­setzte“. Der Ablauf lässt sich heute relativ genau rekonstruieren. Der 16. April 1938 war ein Samstag und damit Schabbat und zugleich der erste Tag von Pessach 1938. Bereits Tage zuvor wurden den Juden die Reisepässe abgenommen und die Geschäfte von jüdischen Kaufleuten in Kittsee und in umliegenden Gemeinden beschlagnahmt und geschlossen. Unter diesen Betrieben befand sich auch die Gastwirtschaft von Aladár Reisner. Herr Reisner schilderte wenig später die Ereignisse des 16. April dem amerikanischen Reporter Hubert Renfro Knickerpocker, der diese noch im Juni 1938 in einer Reihe us-amerikanischer Regionalzeitungen veröffentlichte. Demnach kamen in den frühen Morgenstunden des 16. April 1938, als die meisten Dorfbewohner noch schliefen, fünf SS-Männer in den Ort: „Als sie in unser Haus kamen lagen wir noch im Bett. Sie stiessen mich, meine Frau, meine 65jährige Mutter und meine 2 und 4 Jahre alten Kinder aus den Betten. Wir waren noch im Nachtgewand als sie meine Familie mit Schlägen in den Keller trieben und mich in ein Zimmer einsperrten. Kurz darauf kam ein baumlanger, blonder Kerl herein. Es war, wie ich später erfuhr, der Kommandant: Anton Woelke aus Berlin, erst 23 Jahre alt. Er hielt mir ein Papier unter die Nase und schrie: ‚Du Judenschwein! Gib zu, dass du all dein Geld durch Betrug und Schwindel erwirtschaftet hast. […] Ich sagte zu ihm: ‘Das ist nicht war, ich habe nie jemanden betrogen.‘ ‚Du lügst!‘, schrie er mich an und schlug mir so hart ins Gesicht, dass ich vom Sessel fiel.“ Nach weiterer Gewaltanwendung musste Herr Reisner schliesslich eine Verzichtserklärung bezüglich seines Vermögens sowie eine Zusage zur freiwilligen Ausreise unterzeichnen. Nicht anders erging es den Tag über der restlichen jüdischen Bevölkerung von Kittsee bis schliesslich in den Abendstunden des 16. April der Abtransport erfolgte: „Als die Nacht hereinbrach haben sie uns alle zusammengetrieben, auf Lastautos verladen und davongefahren. Wir wussten nicht, wohin sie uns bringen. Wir durften keinen Groschen Geld und auch sonst nichts mitnehmen, ausser der Kleidung, die wir am Körper trugen. Gegen Mitternacht kamen wir an die Donau, dort setzten sie uns in ein Boot, ruderten uns auf eine grosse Insel und setzten uns dort aus. Es war stockdunkle Nacht. Die Temperaturen waren um den Gefrierpunkt. Wir hatten keine Mäntel. Einige der Frauen hatten nichts ausser ihren Nachthemden an. Mit uns war auch der alte Rabbi, 82 Jahre.“

Áron Grünhut, eine Zentralfigur auf Seiten jener, die sich später von der Tschechoslowakei aus um die Rettung der Vertriebenen verdient gemacht haben, gibt die ‚Keschmark­insel‘ als Ort der Aussetzung an. Tatsächlich ist auf älteren Karten eine bewaldete Aulandschaft nahe der Stadt Devín/Theben als ‚Käsmacher‘ eingezeichnet, die von Kleinbauern als Weidegebiet genutzt wurde. Diese wird auf der Österreich zugewandten Seite vom Hauptstrom der Donau und auf der anderen Seite von einem kleinen Nebenarm begrenzt, wodurch eine Insellage entsteht.

Zeitgenössische Meldungen der Jewish Telegraphic Agency (J.T.A.) geben die Zahl der ausgesetzten Personen mit 51 an. Aladár Reisner spricht von 38 Personen aus Kittsee und weiteren 13 aus Pama. Folgt man den J.T.A. Meldungen sowie den Schilderungen von Aladár Reisner, so wurden die Vertriebenen am Morgen des nächsten Tages (Sonntag, 17. April), von Fischern entdeckt und notdürftig versorgt. Anschliessend kamen sie in Polizeigewahrsam nach Bratislava/Pressburg. Ihre Hoffnung, nun gerettet zu sein, sollte sich alsbald als trügerisch herausstellen. Nach Verhören und Rücksprachen mit den Ministerien und Behörden in Prag wurde ihnen die Einreise bzw. der weitere Aufenthalt in der Tschechoslowakei verweigert und noch für den Abend die Rückschiebung angeordnet. Diese erfolgte jedoch nicht nach Österreich/ins Deutsche Reich sondern über die damals ebenfalls nahe Staatsgrenze nach Ungarn, wohl deshalb, weil man sich dort grössere Chancen auf Erfolg ausrechnete: „In der Nacht des 17. April holte uns die tschechische Polizei aus dem Gefängnis und fuhr uns in Polizeiautos an die ungarische Grenze. Sie warteten ziemlich lange bis sie sicher waren, dass keine ungarische Grenzgendarmerie in der Nähe war. >

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Juden sind unerwünscht“, Grenzübergang Kittsee/AT–Jarovce/SK.

Foto: Szegedi Tudományegyetem Klebersberg Könyvtár, Szeged, Ungarn.
Mit freundlicher Genehmigung A. Lang.

Dann schickten sie uns durch den Stacheldrahtzaun über die Grenze nach Ungarn und schärften uns ein, ja nicht mehr zurück zu kommen.“ Um möglichst wenig Aufmerksamkeit zu erregen, wurden die 51 Personen an verschiedenen Stellen in Gruppen über die Grenze geschoben. Über jene Gruppe, der Aladár Reisner angehörte, haben wir detaillierte Informationen über den weiteren Ablauf. Herr Reisner schildert eine nächtliche Wanderung bis in das ca. 10 km entfernte, damals ungarische Oroszvár/Karlburg (ugs. ‚Kadlburg‘; heute Rusovce, Slowakei), wo sie zunächst Rast in einer Baracke fanden. Alsbald war jedoch die ungarische Gendarmerie zur Stelle und bewachte die Gruppe den Tag über – um sie dann in der Nacht des 18. April (Montag) wieder in die Tschechoslowakei zurückzuschieben: „Sie verluden uns auf ein Fuhrwerk und brachten uns zur tschechischen Grenze zurück. Und dann warteten sie, genau wie vorher die Tschechen, bis die Grenzpatrouille vorbei war und schoben uns in die Tschechoslowakei zurück.“ Wieder auf tschechoslowakischer Seite fand die Gruppe abermals für ein paar Stunden Unterschlupf, diesmal in einem Heustadel. Bei Tagesanbruch (Dienstag, 19. April) setzten sie ihren Weg fort, wurden aber alsbald von der tschechischen Grenzwache entdeckt, bis zum Einbruch der Dunkelheit festgehalten – und wieder nach Ungarn getrieben. Dort fand die Gruppe erstmals seit drei Tagen und drei Nächten ausgiebigere Rast im Kuhstall eines Rinderhofes. Sie wurden abermals von der ungarischen Gendarmerie entdeckt, festgehalten und in der darauffolgenden Nacht (Mittwoch, 20. April) wieder in die Tschechoslowakei zurückgeschoben, dort abermals gefangen genommen, auf eine Gendarmeriestation gebracht und um Mitternacht wieder nach Ungarn abgeschoben. In Ungarn werden sie sofort gefasst und noch vor Sonnaufgang abermals in die Tschechoslowakei vertrieben. In der Tschechoslowakei finden sie neuerlich einen Heustadl – und stossen dabei auf eine der anderen Flüchtlingsgruppen, die, wie Aladár Reisner betont, in einer noch schlechteren Verfassung als sie selber waren. Insgesamt zählten sie nun 27 Personen. Gegen 7.00 Uhr Morgen dieses 21. April (Donnerstag) werden sie von berittener tschechischer Gendarmerie umstellt. Alles Bitten und Flehen ob des schlechten Zustandes und der völligen Erschöpfung nutzte nichts: „Sie ritten mit ihren Pferden direkt auf uns zu sodass wir aufspringen mussten und wie Vieh vor ihnen herrannten. Das war das erste Mal, dass wir am Tag gejagt wurden.“ Diesmal hatte die ungarische Grenzpolizei die Abschiebeaktion jedoch beobachtet und versuchte diese zu verhindern: „Die tschechischen Gendarmen befahlen uns, durch den Grenzzaun nach Ungarn zu kriechen. Die ungarischen Gendarmen erhoben drohend ihre Gewehre und schrien, keinen Schritt weiter zu machen. Wir dachten, jetzt sterben wir hier.“ Zum Glück, so Aladár Reisner, kam es zu keiner Schiesserei und die Kontrahenten auf beiden Seiten der Grenze mussten schliesslich einsehen, dass sie an einem toten Punkt angelangt waren: „Also trieben sie uns – die Tschechen mit ihren Pferden auf der einen Seite und die Ungarn auf der anderen Seite – mehrere Kilometer die Strasse am Grenzzaun entlang bis zum Dreiländereck. Dort brachen wir zusammen und schliefen ein.“ Inzwischen war der fünfte Tag (21. April) seit der Vertreibung aus Kittsee angebrochen und die Gruppe befand sich wieder vor den Toren von Kittsee: „Wir hatten nicht einmal mehr genügend Kraft um Angst zu haben, als uns plötzlich derselbe SS Kommandant, der uns vor Tagen aus unseren Häusern geholt hatte, mit einem Fahrrad entgegen kam. Er war von der österreichischen Grenzgendarmerie verständigt worden und schrie uns an: „‘Wer seid ihr?‘ Wir sagten: ‚Wir sind die Juden von Kittsee!‘ und schilderten, was passiert war. Er wurde wütend und schrie: ‚Ihr Sau-Juden! Lügner! Zeigt mir eure Papiere. Wie könnt ihr beweisen, dass ihr aus Kittsee stammt?‘ Wir sagten ihm, dass er wissen müsste, dass wir keine Papiere haben, da er sie uns ja abgenommen hatte. Er verfluchte uns einige Male, dann ging er zur ungarischen Grenze, sprach mit den Gendarmen, musste aber bald einsehen, dass er uns nicht nach Ungarn zurückschieben konnte, nicht jetzt, noch irgendwann. Er kam zurück, noch wütender als vorher und sagte: ‚Kommt, meine Hübschen, ich bin froh, dass ich euch nochmals in meinen Händen habe!‘“ Die Gruppe wurde daraufhin wieder nach Kittsee verfrachtet und im Keller jenes Hauses inhaftiert, das einst das Gasthaus von Aladár Reisner war. Nach Demütigungen und Misshandungen erfolgte gegen Mitternacht erneut der Abtransport aus Kittsee, wobei sich Anton Woelke ein besonderes Spektakel einfallen liess: „Er orderte einen Lastwagen, liess uns aufsitzen und – begleitet von den Klängen einer Blasmusikkapelle und brennenden Fackeln – veranstaltete er eine Art ‚Triumphzug‘ als wir den Ort verliessen.“ Nach der Schilderung von Aladár Reisner dauerte die Fahrt diesmal über vier Stunden und endete nach 70 Kilometern an der Grenze nahe der ungarischen Stadt Sopron/Ödenburg. Auf diese Weise wollte man die inzwischen hellhörigen Grenzgendarmen im Dreiländereck umgehen. Von Sopron/Ödenburg aus wurde die Gruppe schliesslich nach Rajka/Ragendorf gebracht, wo bereits ihr ‚Quartier‘ für die nächsten Monate wartete.