Peter Autengruber - Birgit Nemec - Oliver Rathkolb
- Florian Wenninger: Umstrittene Wiener Strassennamen. Ein kritisches
Lesebuch. Wien-Graz-Klagenfurt: Pichler/Styria 2014.
280 Seiten, zahlreiche S/W-Abbildungen, Euro 24,99.-
ISBN: 978-3-85431-669-5
Strassennamen sind nicht nur unverzichtbare praktische Orientierungshilfen im städtischen Alltag, sie bilden auch einen wesentlichen Teil der öffentlichen Erinnerungskultur und des kollektiven Gedenkens: Strassen, Gassen, Plätze, Wege, Alleen, Brücken, Stege - insgesamt 6.638 Verkehrsflächen, hatte die Stadt Wien mit Stichtag 1. Mai 2012 erfasst. Sie wurden von Peter Autengruber in seinem „Lexikon der Wiener Strassennamen" (8. Aufl. Wien: Pichler Verlag 2012) ausführlich dokumentiert (vgl. DAVID Heft Nr. 96/2013).
Im April 2012 sorgte die Umbenennung des Dr.-Karl-Lueger-Rings in „Universitätsring" für Schlagzeilen und machte deutlich, wie brisant und politisch aktuell die Namensgebung von öffentlichen Verkehrsflächen sein kann. Der beliebte Wiener Bürgermeister Dr. Karl Lueger (1844-1910), zugleich einer der profiliertesten politischen Gestalten des Fin de Siècle, war auch durch seinen programmatischen und populistischen Radau-Antisemitismus in die Geschichte Österreichs eingegangen.
Der Entscheidung war eine ausführliche öffentliche Diskussion mit allen Politischen Parteien, unterstützt von namhaften Fachhistorikern vorausgegangen. Vor allem hatte der Wiener Kulturstadtrat Andreas Mailath-Pokorny die fortgesetzte Debatte im Jahre 2011 zum Anlass genommen, eine Forschungsgruppe am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien mit der kritischen Analyse sämtlicher auf Personen bezogene Benennungen öffentlicher Verkehrsflächen in Wien zu beauftragen. Das vorliegende Buch ist ein Ergebnis dieser Analyse, das Projektteam sind zugleich die Autoren des vorliegenden Bandes:
Weitere Mitarbeiter/innen werden in der Einleitung genannt und bedankt. In der Einleitung (S. 10-13) wird vor allem die Problematik der Benennung öffentlicher Verkehrsflächen erläutert: Strassennamen vermitteln ein verzerrtes Bild der Vergangenheit einer Stadt, denn sie reduzieren die Stadtgeschichte auf Menschen eines bestimmten Sozialprofils: männlich, wohlhabend, überproportional künstlerisch begabt und von aristokratischer Herkunft. Bei Strassenbenennungen einer Stadt spielen andere Berufe als die des Politikers, des Geistlichen, des Wissenschafters oder des Kulturschaffenden kaum eine Rolle. Ereignisgeschichtliche Bezüge beschränken sich im Wesentlichen auf Militärisches und Hochkulturelles.
In Wien gab es (mit Stichtag 1. September 2014) 6.696 benannte Verkehrsflächen (inklusive 300 Parks), davon 4.249 nach Personen benannt, mit einem deutlichen Übergewicht von 3.863 Männern gegenüber 386 Frauen. Bei Forschungsbeginn wurden die namensgebenden Persönlichkeiten - wohl auch aus Gründen der Arbeitsteilung - vom Projektteam in Berufsgruppen unterteilt. Im Zuge des Forschungsprozesses wurde schon relativ früh die Gruppe der „problematischen" NamensgeberInnen auf etwa 400 Personen eingegrenzt, wobei im Hinblick auf die Projektdauer und die zur Verfügung stehenden Mittel der Forschungsschwerpunkt auf den Zeitraum 1938-1945 gelegt wurde. Die von den Autoren gewissermassen als „suspekt" eingestuften Personen wurden knapp 170 in dieses „Handbuch der Umstrittenen" aufgenommen und darin die Gründe genannt, die zur Aufnahme in das „kritische Lesebuch" geführt hatten.
Es werden also Personen vorgestellt, deren permanente Ehrung durch Benennung öffentlicher Flächen nach Ansicht der Autoren zumindest einer eingehenden Diskussion bedarf. Dabei ging es den Autoren „nicht um die Auslöschung von Geschichte, sondern um die Darstellung von Licht- und Schattenseiten geehrter Persönlichkeiten, die z. B. durch Zusatzinformationen verdeutlicht oder aber im Einzelfall tatsächlich durch eine Umbenennung gelöst werden kann."
Bekannte Namen wie der erwähnte Bürgermeister Karl Lueger, Kardinal Theodor Innitzer, Bundespräsident Karl Renner, Bundeskanzler Ignaz Seipel, Stardirigent Herbert von Karajan, der Mediziner und Sozialreformer Julius Tandler oder die Radikone Franz Dusika kommen in dem „kritischen Lesebuch" ebenso vor wie heute weit gehend unbekannte Persönlichkeiten wie die Schriftstellerin Maria Grengg, der Arzt Erwin Stransky, der Volkskundler Michael Haberlandt oder der Opernsänger Josef von Manowarda.
Insgesamt eine bemerkenswerte Publikation, zugleich ein Beispiel für die hohe Verantwortung und Machtposition von HistorikerInnen in ihrer Funktion als wissenschaftliche Gutachter.