Am 2. Juni 2015 hätte sich der Geburtstag des Eisclowns Buddy Elias zum 90. Mal gejährt, im März dieses Jahres ist er verstorben. Peter Bollag hat ihm und seinem Partner Otti Rehorek ein erzählerisches Denkmal gesetzt. Steffi und Peter Bollag leben in Basel, doch die Familie ihrer Mutter stammt aus Wien. Beide Geschwister haben im vergangenen Jahr zwei wunderschön ausgestattete Bücher herausgebracht, die sich mit Aspekten jüdischer Geschichte in Wien und in der Schweiz auseinandersetzen. Sie nähern sich der Frage jüdischer Identität dabei auf ganz unterschiedliche Weise an. Bruder und Schwester kommen mehrmals im Jahr gerne nach Wien.
Peter und Steffi Bollag vor dem Holocaust-Mahnmal auf dem Wiener Judenplatz, Januar 2015. Foto: T. Walzer.
DAVID: Ihre Mutter ist in Wien geboren, wuchs hier auf und musste vor der Verfolgung im Nationalsozialismus fliehen. In der Schweiz fand sie eine neue Heimat. Wie haben Sie als ihre Kinder den Weg zurück nach Wien gefunden?
Steffi Bollag: Als Kind habe ich geglaubt, unsere Mutter sei als Erwachsene quasi vom Himmel gefallen. Da waren keine Bilder, keine Geschichten aus ihrer Kindheit. Unser Vater hingegen vermittelte uns seine Faszination für Wien - sie rührte daher, dass sein Vater in Budapest eine Jeschiwe besucht hatte. Einmal wollte er mit seiner Familie nach Wien fahren, nicht immer nur nach Arosa oder nach Wengen, wie ordentliche Schweizer es zu tun pflegten. So kamen wir Kinder mit unseren Eltern 1969 zum ersten Mal nach Wien. Und unsere Mutter sagte hier nicht: „ich will weg", oder „es ist schrecklich". Vor diesem denkwürdigen ersten Wiener Familienausflug war sie zuletzt 1948/49 in der Stadt gewesen - und das war für sie ganz in Ordnung so. Zwischen der Schweiz und Wien lagen damals Welten. Unser Vater und wir Kinder aber haben uns in die Stadt Wien verliebt.
DAVID: Woran erinnern Sie sich, wenn Sie an diese erste Wien-Reise zurück denken? Was waren die prägenden Eindrücke von der ehemaligen Heimat Ihrer Mutter?
Steffi Bollag: Drei Dinge sind mir in Erinnerung geblieben. Wir trafen ein dickes Mädchen, in ganz schlechten Kleidern, und für sie war ich (auch ein dickes Kind) wie ein Wesen von einem anderen Stern - in schönen Kleidern. Unsere Mutter kaufte in der Apotheke Borwasser, betrachtete die Verpackung und kommentierte: „Es hat sich nichts geändert". In der Wäscherei gab meine Mutter den Namen „Steiner" an, statt Bollag: aus Angst vor dem Antisemitismus.
Peter Bollag: Wir wohnten damals im Hotel Matauschek in der Breitenseer Strasse im 14. Bezirk. Dort gab es Onkel Pepi, er wurde später ein berühmter Schrammel-Musiker. Dieser Onkel Pepi sagte: „Hitler war mein Idol". Er wirkte auf mich wie jemand, der kein inneres Feuer mehr hat.
DAVID: Mit welcher Haltung begegneten Sie als Juden aus Basel diesem Nachkriegs-Österreich?
Peter Bollag: 1974 brachte die Kronenzeitung eine Serie „Juden in Österreich" mit antisemitischen Untertönen. Es gab die Diskussion um Bruno Kreisky als österreichischer Bundeskanzler. Unser Vater sagte: „Wenn diese Diskussion sich als schlecht heraus stellt, fahren wir nicht nach Österreich". Sie war aber nicht schlecht, und so fuhren wir weiter hin. Man merkte deutlich, wie dünn das Eis war: Beim nächsten Wien-Aufenthalt blieb Herr Matauschek eher kühl, und wir dachten, das sei wohl der Antisemitismus-Diskussion zuzuschreiben. Tatsächlich hatte er Probleme mit dem Personal, und wir haben sein Auftreten völlig falsch interpretiert.
DAVID: Wohin führten Ihre Wege damals in Wien?
Steffi Bollag: In Wien gab es damals noch zwei lebende Verwandte: einmal einen ultraorthodoxen Onkel, Schmi Flesch. Er korrespondierte angeblich mit Albert Einstein. Keiner durfte in sein Zimmer, Genaues wusste man nicht. Das war ein Cousin unserer Grossmutter. Und dann gab es noch Tante Stella, geborene Leitner, sie lebte auch in der Haidgasse 14 im zweiten Bezirk. Schon unser Urgrossvater Siegfried Hofmann hatte dort gewohnt und ein Modistinnen-Geschäft betrieben. Unsere Mutter wuchs in der Haidgasse bei ihren Grosseltern auf.
DAVID: Letztes Jahr haben Sie in der Haidgasse beim Wohnhaus Ihrer Familie Stolpersteine anbringen lassen - wie kam es dazu?
Steffi Bollag: Unser Onkel Hans sagte immer: „Als Hitler gekommen ist, hatte ich das Schlimmste bereits erlebt." Damit meinte er den Tod seines Vaters Siegfried, als er 16 Jahre alt war. Hans musste alle erhalten. Besucher fragten unsere Urgrossmutter Hermine, die gerade Witwe geworden war: „Frau Mintschi, wovon werden Sie und die Kinder leben?" So kam der Onkel zur Firma „Duldner und Deutsch". An eine eigene Karriereplanung war für Hans unter diesen Umständen nicht zu denken. In den 1980er Jahren waren unsere Eltern dann einmal in der Wohnung in der Haidgasse. Sie wurden freundlich empfangen, und die Leute, die damals dort wohnten, waren sehr gerührt. Die Speis war noch original, und an der Wand fanden sich sogar jene Striche, mithilfe derer die Mutter als Kind abgemessen worden war. Unserer Mutter hat dann, als die Idee dazu aufkam, die Sache mit den Stolpersteinen sehr gefallen. Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr bin ich davon überzeugt, dass die Stolpersteine der Auftakt für unsere Mutter waren, zu sagen - Jetzt ist es gut. Sie ist sieben Monate danach in Ruhe und Frieden gestorben.
DAVID: Sie kommen aus einem religiösen Umfeld und legen viel Wert auf diese Tradition. Wie erleben Sie die Ausübung der jüdischen Religion im heutigen Wiener Alltag?
Peter Bollag: Das Bethaus in der Grünangergasse wirkt wie ein Stibl im Polen des 19. Jahrhunderts, wie aus einer anderen Zeit. Da ist keine Romantik drum herum, viele sprechen amerikanisches Englisch. Aber diese Stibl-Atmosphäre ist sehr faszinierend. Und ich stelle fest, es gibt so etwas wie eine religiöse Renaissance: sieben Restaurants, zwei Bäckereien. Das jüdische Wien wächst also, es wird dynamischer. „Alle gehen weg" - diese Einschätzung stimmt heute nicht mehr. Ich erlebe das als sinnlich positiv. Wie kann man also in Wien als Jude leben? Eigentlich besser als in Basel, meine ich, die Infrastruktur ist zumindest gleich gut.
DAVID: Wie sind Ihre Bücher zustande gekommen?
Peter Bollag: Seinerzeit habe ich meine Magister-Arbeit über Werfels „Blassblaue Frauenhandschrift" geschrieben. Mein Wissen über die österreichisch-ungarische Monarchie stammt von dort. Dann hatte ich die Idee, über den „Erzi", den Erzherzog Eugen von Habsburg-Lothringen, der lange in Basel lebte, zu arbeiten. Später wurde mir klar, dieses Thema läuft mir nicht davon, aber die Eisclowns sind noch da, darüber muss man also jetzt gleich etwas schreiben, und so entstand das aktuelle Buch. Mich faszinierten die 30er Jahre, der 2. Bezirk, welche Basis man Ende der 1920er Jahre finden konnte, wie das Leben für Juden damals funktionierte - und wie hatte Corti seinen Film gemacht? Der Wiener Eiszauber war das Vorbild für Holiday on Ice.
Steffi Bollag: Für mich hat jetzt ein neuer Abschnitt begonnen. Unsere Mama ist nicht mehr da. Das Kapitel unserer Überlebenden wurde am 23. Dezember 2014 geschlossen. Das beschäftigt mich sehr, da kommt viel in Bewegung. In „BocHüs" habe ich eine Rückblende auf unsere Kindheit geschrieben, ich habe sie „veterinarisiert und alimentisiert". Aber lesen Sie selbst!
Vielen Dank für das spannende Gespräch, und herzlichen Glückwunsch zu den beiden gelungenen Büchern!
Lebens.mittelpunkt. Eine kulinarische Satire.
Lebensmittel standen seit Steffi Bollags Kindheit im Zentrum der Familie - die Küche, ihre Ingredienzien, Werkzeuge und Abläufe, war doch ihr Vater Küchenchef in einem Basler Altersheim. Ausgehend von der prägenden, geborgenen Kindheit schuf die Autorin ein Panorama ihrer Erfahrungen. Menschen wurden dabei zu appetitlich benannten Speisen, die sich in einem Reigen kulinarischer Satiren mit kriminalistischem Einschlag zu einem nachdenklichen Panorama des Alltags von alten Menschen, Aussenseitern, Querdenkern und scharfsinnigen Beobachtern fügen. Mit ihrer pointierten Sprache, voll Wortspielen und Witz sind die Texte ein intellektuelles Vergnügen zu lesen, aber auch tief berührend in ihren liebevollen Einsichten in menschliche Befindlichkeiten und die Vielfalt jeden irdischen Seins.
Steffi Bollag: Lebens.mittelpunkt. Eine kulinarische Satire. ISBN 978-3-033-04330-5. http://ellynelba.com/ Bestellung unter: vanille@ellynelba.com
Zwei Eisclowns erobern die Welt. Buddy Elias und Otti Rehorek.
Peter Bollag zeichnet in einem kunstvoll gespannten Bogen die Geschichte der Basler Eisclowns Buddy und Baddy über das lange 20. Jahrhundert hinweg nach. Buddy ist der Cousin der berühmten Tagebuchschreiberin Anne Frank und heute Präsident des Basler Anne Frank Fond. Seinen Partner Otti hat Bollag über viele Jahre als Speaker bei Fussball-Matches erlebt - eine prägende Kindheitserinnerung. Dazwischen liegen Stationen von Frankfurt bis Pilsen und Japan bis Ägypten, und natürlich die USA, von Verfolgung, Krieg, Überleben und Erfolg. Das profund recherchierte und unterhaltsam geschriebene Buch bietet faszinierende Einblicke in den facettenreichen Alltag zweier früher Stars der Unterhaltungsindustrie.
Peter Bollag: Zwei Eisclowns erobern die Welt. Buddy Elias und Otti Rehorek. Basel: Christoph Merian Verlag 2014. 216 Seiten, zahlreiche Abbildungen. ISBN 978-3-85616-636-6.