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Leben in der Retorte.

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Fritz Kolb: Leben in der Retorte. Als österreichischer

Alpinist in indischen Internierungslagern. Hg. v. Karl

Wimmler und Margit Franz. Mit einem Geleitwort von

Bundespräsident Dr. Heinz Fischer. Graz: Clio-Verlag 2014.

280 Seiten mit zahlr. Abb., Euro 18,00

ISBN 978-3-902542-42-7

Es ist wohl sein politischstes Buch, das Fritz Kolb am Ende eines ereignisreichen Lebens geschrieben hat. Nach pädagogischen und bildungspolitischen Publikationen in der Zwischenkriegszeit, weltpolitischen Überlegungen und einer Autobiografie, in denen er seine parteipolitischen Enttäuschungen 1980 aufgearbeitet hat, hinterfragt er in „Leben in der Retorte" politische Mythen, zertrümmert Helden der Nachkriegszeit und erzählt erstmalig die gemeinsame Internierung von überzeugten Nationalsozialisten wie Heinrich Harrer und von Flüchtlingen vor dem Nationalsozialismus sowie in Indien Gestrandeten.

Fritz Kolb war gemeinsam mit seinem Berg- und Berufskollegen Ludwig Krenek, beide engagierte Erzieher des Roten Wiens und Lehrer in der Individualpsychologischen Versuchsschule nach Alfred Adler, nach einer britisch-österreichischen Himalaya-Expedition im Spätsommer 1939 in Indien interniert worden. Im Buch beschreibt er, wie sich die Gruppe der Antinationalsozialisten im Lager bildet, nachdem alle Internierten vom deutschen Supervisor am 20. April 1940 aufgefordert worden waren, den Geburtstag Hitlers mit einem deutschen Gruss zu begehen. Beim Abendappell stellten sich fünf Leute getrennt auf, ein Sozialdemokrat, ein Pazifist und drei noch internierte jüdische Internierte. Kolb wurde schnell zum Sprecher dieser Gruppe von Gegnern der Nationalsozialisten, die nach der Reinternierung vieler jüdischer Flüchtlinge nach den deutschen Angriffen auf Frankreich im Frühjahr 1940 zu einer beachtlichen Grösse anwuchs. Eine handfeste Prügelei mit den Nationalsozialisten Weihnachten 1940 verschaffte ihnen nach zahlreichen tätlichen Übergriffen der Nationalsozialisten und vielen misslungenen Erklärungsversuchen gegenüber den Briten endgültig die Legitimität, als eigene, separat zu behandelnde Gruppe betrachtet zu werden. Endlich bekamen die jüdischen und antinationalsozialistischen Internierten einen eigenen Lagerbereich, mit Stacheldraht von den überzeugten Nationalsozialisten und ihrem opportunistischen Mitläufern getrennt, und konnten somit erstmals aufatmen, nicht auch noch 8000 Kilometer von der Heimat entfernt von Nationalsozialisten verfolgt und misshandelt zu werden.

Kolb wäre nicht ein glühender Anhänger des Roten Wiens, hätte er nicht die Veränderung der Gesellschaft zugunsten einer Gemeinschaft von Gemeinwohl-interessierten Individuen im Auge. So begibt er sich in den Jahren seiner Internierung, die ihn zwischen 1939 und 1944 in vier verschiedene Lager bringen, auf die Suche nach Verhaltensweisen, die Gemeinschaft fördern bzw. zerstören, nach Personen, die Vorbild sind, nach Personen, die ihn berühren, positiv wie negativ. Er sucht nach identitätsstiftenden Momenten in Zeiten des Zerfalls von Weltordnungen, er beobachtet das individuelle Verhalten, Opportunismen sowie Charakter- und Ideologiestärke von Einzelnen, im Angesichts der deutschen Siege und Vormärsche. Kolb generiert kein Wir, sondern folgt der individualpsychologischen Methodologie und versucht den Einzelnen am Schnittpunkt zur Gesellschaft bzw. Lagergemeinschaft zu erfassen.

So entstand ein Text, der spannend zu lesen, kurzweilig ob der vielen beschriebenen bisher vollkommen unbekannten historischen Fakten in der Internierung. Er entwirft aber auch ein buntes Bild seiner Mitinternierten und spart bei manchen nicht an harscher Kritik. Biografische Notizen, emotionale Beschreibungen von der jahrelangen Trennung seiner Frau in Grossbritannien, und die Benennung von psychologischen Phänomenen im Zuge von Internierung, wie beispielsweise die Zuneigung zu Haustieren, finden genauso Platz, wie die namentliche Nennung von Flüchtlingen, die bisher von der offiziellen Geschichtsschreibung vergessen worden sind - und manchmal fügt er sogar die Nennung ihres Schicksals in der erzwungenen Emigration hinzu. So ist das Buch Erfahrungsbericht, aber auch politische Analyse und Quellensammlung zugleich.

Es dauerte mehr als 30 Jahre einen Verleger in Österreich für diesen Text zu finden. 1949 näherte sich Kolb der Internierung in Indien in Form des Kinderbuches „Tschok", indem er politische Aspekte vollkommen ausklammerte. Erst am Ende seines Lebens hat Kolb es gewagt, als erster weltweit niederzuschreiben, dass nationalsozialistische Propaganda und Verfolgung bis in indische Internierungslager reichten. Somit erscheint der Text „Leben in der Retorte" als politischer Auftrag Kolbs, jahrzehntelanges Verschweigen und Verleugnen (österreichischer) Geschichtspolitik endgültig hinter sich zu lassen - und wird somit zum Vermächtnis des politischen Menschen Fritz Kolb.