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Marcel Reich-Ranicki – die Biografie

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Uwe Wittstock: Marcel Reich-Ranicki. Die Biografie.

München: Blessing 2015.

432 Seiten, Euro 19,99 [D].

ISBN 978-3-89667-543-9

Er war beredt und streitsüchtig, dabei aufrichtig und unsterblich verliebt in die deutsche Literatur: Marcel Reich-Ranicki alias Marcel Reich alias Marceli alias Marceli Ranicki. Geboren wird er in Wloclawek, die Schule besucht er bis zum Abitur in Berlin, er überlebt im Ghetto von Warschau und arbeitet als polnischer Konsul in London. Am 21. Juli 1958 trifft Marcel Reich-Ranicki, wie er fortan heisst, in Frankfurt am Main ein. Der Vater ist, erst in Polen, danach in Berlin, ein wenig erfolgreicher Geschäftsmann; seine Mutter, ursprünglich aus dem schlesischen Deutschland, liebt klassische Musik und deutsche Literatur; beides gibt sie an den Sohn Marcel weiter. In seinem Elternhaus hält man nicht viel von Religion, von der der Sohn kaum etwas weiss, nur dass er ihretwegen stets und überall ausgegrenzt wird und als Aussenseiter gilt. Im Ghetto von Warschau begegnet ihm etwas Wunderbares: die Liebe seines Lebens in Gestalt von Teofila Langnas. Zweimal müssen sie heiraten, das erste Mal hastig im Ghetto, das zweite Mal offiziell, deshalb aber nicht weniger hastig, auf dem Standesamt in Warschau, um gemeinsam nach Moskau und Leningrad reisen zu dürfen.

Ausser einem kurzen Intermezzo als Angestellter bei einem staatlichen Verlag, für den er deutsche Bücher aus der DDR auf Polnisch herausgibt, arbeitet Ranicki seit 1951 als freier Autor und Schriftsteller, schreibt Rezensionen und Berichte für polnische Zeitschriften und Zeitungen und den Rundfunk. Im Frühjahr 1953 erscheint ein erster Text des Kritikers Marceli Ranicki auf Deutsch - und löst sogleich einen Eklat aus, aus ideologischen Gründen. Im gleichen Jahr wird er in Polen mit einem Publikationsverbot belegt, unter anderem auch, weil sich die antisemitische Stimmung in Polen seit 1956 zunehmend verschärft.

Innerhalb von nur vier Monaten nach seiner Ankunft in Deutschland findet Reich-Ranicki wichtige Unterstützer, darunter Hansjakob Stehle und Friedrich Sieburg, der Chef des Literaturressorts der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, und der Schriftsteller Siegfried Lenz in Hamburg. Dort kommt er auch vorerst unter, arbeitet, immer freiberuflich, und verfasst Artikel für „Die Welt", „Die Zeit" und den NDR. Gesellschaftlich fühlt er sich ziemlich isoliert, wie er später sagt.

Ab 1958 wird Reich-Ranicki, wie er jetzt in Deutschland ganz offiziell heisst, als Kritiker, zu den Treffen der Gruppe 47 eingeladen, allerdings will Hans Werner Richter, Triebfeder der Gruppe, ihn schon 1961 wieder hinausdrängen. Er sei zu akademisch, statt eines informellen Ideenaustauschs seien die Treffen allzu professionell. Als sich PEN-Ost und PEN-West in der „Zeit"-Redaktion in Hamburg begegnen, wissen die westlichen Autoren und Journalisten praktisch nichts über ihre Kollegen aus dem Osten, mit einer Ausnahme: Marcel Reich-Ranicki, er kennt sich bestens mit DDR-Literatur aus. Dankbar sind die westlichen Kollegen ihm dafür allerdings nicht: Sowohl für Hans Magnus Enzensberger als auch für Martin Walser ist Reich-Ranicki zu grobschlächtig und fehl am Platz. Während er in diesen Tagen die Demokratie verteidigt, zieht es Enzensberger nach Kuba, Walser flirtet mit der DKP, Peter Weiss mit dem Kommunismus und Erich Fried besingt in seinen Gedichten die Revolution. Reich-Ranicki, der den Kommunismus samt Ideologie und Realität am eigenen Leib erfahren hat, hält sich davon fern.

20 Jahre lang arbeitet Marcel Reich-Ranicki daheim an seinem Schreibtisch, ohne je zu einer Redaktionssitzung der „Zeit" geladen zu werden. Da nimmt es kaum Wunder, dass er sofort zusagt, als ihm 1973 - dank Joachim Fests - der Posten des Chefs der Literaturredaktion der FAZ angeboten wird. Zum ersten Mal arbeitet Reich-Ranicki mit Kollegen in einer Redaktion zusammen, nicht immer ohne Widerstände. Aber immerhin verfasst er bzw. lässt er, 15 Jahre lang, 600 bis 800 Rezensionen pro Jahr verfassen und sorgt für unzählige Schriftstellerporträts im Feuilleton. Jetzt steigt er zum „Literaturpapst" auf. Diese Jahre von 1973 bis 1988 gehören, wie er später gesteht, für ihn zur schönsten Zeit seines Lebens, er befindet sich im Zentrum der deutschen Literatur. 1986 kommt es zum Zerwürfnis zwischen Fest und Reich-Ranicki. 1988 verlässt er die FAZ. Jetzt beginnt Reich-Ranickis Karriere als „Popstar der Kritik", wie der Titel des entsprechenden Kapitels lautet. 13 Jahre lang bestreitet er das legendäre „Literarische Quartett" beim ZDF, das in insgesamt 47 Sendungen - sechs pro Jahr - über 400 Bücher vorstellt und heftig diskutiert. Bis zum 30. Juni 2000 sind Helmuth Karasek und Sigrid Löffler dabei, die von Iris Radisch ersetzt wird bis zur letzten Sendung im Dezember 2001.  1999 erscheint Marcel Reich-Ranickis Autobiografie „Mein Leben" und wird mit 1,4 Millionen verkauften Büchern ein beispielloser Bestseller. Am 11. Oktober 2008 sorgt Marcel Reich-Ranicki noch einmal für einen letzten Eklat: Er lehnt den Deutschen Fernsehpreis ab. Er ist 88 Jahre alt und müde. An ihrem 90. Geburtstag stürzt seine Frau und muss ins Krankenhaus, am 29. April 2011 stirbt sie. Für Marcel Reich-Ranicki ein unvorstellbarer Verlust, siebzig Jahre waren sie miteinander verheiratet. Von da an hört er vor allem Musik. Am 27. Januar 2012 hält er noch eine Rede im Deutschen Bundestag, im September 2012 gibt er sein letztes Interview. Marcel Reich-Ranicki stirbt am 18. September 2013. Reich-Ranicki, der heimatlose Jude und Überlebende aus Polen, ist und bleibt ein fester Bestandteil der deutschen Literaturgeschichte. Weder vor, noch - vorläufig zumindest - nach ihm hat es einen Kritiker gegeben, der die deutsche Literatur so nachhaltig beeinflusst hat. In diesem Sinne ist er auf jeden Fall unsterblich.