Philipp Mettauer, Erzwungene Emigration nach Argentinien. Österreichisch-jüdische Lebensgeschichten. (Studien zur Geschichte und Kultur der Iberischen und Iberoamerikanischen Länder Bd. 14. Münster, Aschendorff Verlag, 2010). ISBN 978-3-402-14900-3, 230 S.
Philipp Mettauers Dissertationsschrift an der Universität Wien beschäftigt sich mit einem facettenreichen Teilaspekt der Verfolgungsgeschichte der NS-Zeit: der Flucht von etwa 2300 österreichischen Jüdinnen und Juden nach Argentinien. Als bereits während des 2. Weltkriegs mit dem Faschismus sympathisierendes Land, das Flüchtlingen die Einreise verweigerte, als Zufluchtsort für Nazi-Verbrecher und als Militärdiktatur (1976-1983) erwies sich Argentinien für seine jüdische Emigranten als besonders ambivalent. Schon der Peronismus erinnerte viele von ihnen an Nazi-Deutschland. (S. 138f.) Unter der „brutal antisemitischen" (S. 153) Junta „verschwanden" dann etwa 30.000 Regimegegner, darunter 6000 Juden und Jüdinnen, ein im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung auffallend hoher Prozentsatz. Diese Jahre verursachten auch bei vielen „Nur-Mitwissern" unter den jüdischen Emigranten eine Re-Traumatisierung.
Mettauers Forschungen sind hauptsächlich der Oral History verpflichtet und stützen sich in erster Line auf Interviews. Zusätzlich benützte er zahlreiche lebensgeschichtliche Aufzeichnungen, etwa 400 Privatbriefe von drei verschwägerten Familien und Archivmaterial aus Österreich sowie schwer zugängliche Archivalien in Argentinien. Er selbst führte zwischen 2001 und 2003 mehr als 80 meist deutschsprachige Interviews, deren offene narrative Fragestellung nach der Lebensgeschichte dem Interviewten ein möglichst ungehindertes freies Erzählen ermöglichte. Die kritische Auseinandersetzung mit den Methoden der Oral History, die Mettauer an den Beginn seiner Auswertungen stellt, macht deren Anwendbarkeit und Grenzen, aber auch den hohen Wert persönlicher Aussagen für die Geschichtsforschung deutlich. (S. 10-18) Sein sehr persönliches Vorwort reflektiert den „Haftungszusammenhang" (S. 8) eines nachgeborenen nichtjüdischen Historikers mit großem Interesse an der Psychoanalyse (S. 28-31), der, das ist den Interviewausschnitten anzumerken, für seine Interviewpartner/innen eine Atmosphäre des Vertrauens und der Offenheit schaffen konnte.
Sechs große Kapitel widmen sich den Methoden, den Quellen und dem Forschungsstand (S. 9-41), der Verfolgung in Österreich (S. 42-73), der Flucht nach Argentinien (S. 74-106), dem „Neuanfang in der Fremde" (S. 107-132), der Wahrnehmung der argentinischen Politik durch die Emigranten (S. 133-157) und ihrer Wahrnehmung Österreichs nach 1945 bis zur vereinzelten „Remigration" einiger Kinder und Enkel (S. 158-193). Eine Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse, ein Nachwort, das noch einmal die Gesprächspartner mit ihren unterschiedlichen Identitäten und Schicksalen würdigt, sowie ein ausführliches Quellen- und Literaturverzeichnis und ein Orts- und Namensregister schließen das Buch ab.
Die zahlreichen ausführlichen Auszüge aus den Interviews, die möglichst nahe am Sprechduktus, oft mit spanischen Einwürfen, transkribiert wurden, bringen die Erlebnisse und Emotionen der Emigranten sehr nahe, ohne sich in Empathie zu verstricken. Abgesehen von der „Geschichte an sich", der Beschreibung der Diskriminierungen, Schikanen, der „unendlichen Emigrationsbürokratie" (S. 98), der schwierigen Reise und Ankunft und der Auswirkungen der argentinischen Politik auf das politische und private Leben liefert Mettauers Buch Metaebenen, die für die sozialwissenschaftliche Forschung allgemein von Bedeutung sind. Die erinnerten Altersstufen lassen eine Lesung als Geschichte der Kindheit während der NS-Zeit zu, ein in den letzten Jahren viel beachtetes Forschungsthema. Die Tatsache, dass einige Flüchtlinge ihre Habseligkeiten mit einem sog. „Lift" transportieren konnten und auswählen mussten, was sie mitnahmen oder zurückließen, macht das Buch auch zu einer Geschichte von Objekten. Die Schikanen durch die Einwanderungsbehörde und die hohe Verzollung erschwerten deren Auswahl zusätzlich. Eine Familie nahm ihre Skier in die Emigration mit - die Enttäuschung war groß, als diese im Keller verschimmeln mussten. Die Hoffnung, mit wertvollen Gegenständen wie Teppichen, Bildern oder Geschirr die erste Zeit finanziell zu überbrücken oder zumindest ein Stück Heimat mitnehmen zu können, zerschlugen sich oft, denn die Plünderungen setzten bereits beim Verpacken ein und viele Container kamen nie in Buenos Aires an (S. 101-106). Wo der Transfer glückte, fühlte sich der Besucher beim Betreten der Wohnung in Buenos Aires in einen großbürgerlichen Wiener Salon der 1930er Jahre versetzt.
Mettauers Buch leistet auch ein Beitrag zur Migrationsforschung, insbesondere zur Untersuchung der Integrationsstrategien angesichts völlig neuer Gegebenheiten. Klima, Sprache, Mentalität und Gepflogenheiten wurden als „eine andere Welt" empfunden (S. 105), auf die die Einwander/innen je nach persönlicher Verfassung mit Schock oder Überraschung reagierten. Insbesondere die selbstbewussten jungen Frauen konnten sich schwer mit der eingeschränkten Freiheit in der konservativen katholischen Gesellschaft Argentiniens abfinden. Frauen gingen nicht alleine auf der Straße, und es gab nach Geschlechtern getrennte Kaffeehäuser - eine Tatsache, die insbesondere auf Juden und Jüdinnen aus Wien höchst befremdlich wirkte. Die Ausschnitte aus den Interviews illustrieren die Problematik der Neufindung und Definition von Identität nach einem Bruch, der alle bisherigen Zugehörigkeiten in Frage stellte. Die unterschiedlichen kreativen Zugänge und Strategien sichtbar zu machen und hinter den historischen und sozio-kulturellen Analysen die konkreten Menschen hervortreten zu lassen, ist das Verdienst von Mettauers Buch. Die interessanten Fragestellungen, die historischen Informationen zu einem relativ wenig erforschten Exilland, die vielen berührenden Interviewpassagen und die gute Lesbarkeit machen es zu einer höchst empfehlenswerten Lektüre.