Ausgabe

„Ja, das ist meine Kultusgemeinde!“

Tina WALZER

Content

In der Israelitischen Kultusgemeinde Wien tritt eine neue Generation an, das Ruder  zu übernehmen. Sie tritt selbstbewusst auf und identifiziert sich mit Österreich durchwegs positiv. Eindrucksvoller Anlass, diesen Paradigmenwechsel zu vollziehen, war die Ausrichtung der Europäischen Makkabi Spiele 2011 in Wien. Die Nachkriegs-Ära, so scheint es, haben nun auch die Wiener Juden hinter sich gelassen. Der hoffnungsfrohe Blick in eine gemeinsame Zukunft hat die traumatisierte, angstbetonte Zurückgezogenheit abgelöst. Erst in den vergangenen zehn Jahren hatte sich die strenge Haltung der Abgrenzung etwas gelockert, die Gemeinde trat, gerade auch durch das vermehrte Ansprechen des Themas Restitution, in einen Dialog mit der nichtjüdischen Umwelt ein. Die heutige Haltung ist mittlerweile vom Blick in die Zukunft geprägt: statt den Opfern der Shoah kommt nun der lebenden Gemeinde die Rolle des sinnstiftenden Zusammenhalts zu. Grosse Investitionen in die Infrastruktur unterstreichen die Überzeugung, in Wien eine sichere Heimat zu haben.

DAVID: Herr Präsident, Sie stehen für einen Generationenwechsel innerhalb der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, und im November werden dort Wahlen stattfinden. Was sind denn Ihre Visionen, Ihre Zielvorstellungen für Ihre Gemeinde?

Sehr gerne erinnere ich mich an die Zusammenarbeit mit meinem Team, als wir die Europäischen Makkabi Spiele 2011 in Wien vorbereitet haben. Die Begeisterung für die gemeinsame Sache stieg von Tag zu Tag. Ich stelle mir vor, dass sich mittelfristig eine große Anzahl von Mitgliedern der Israelitischen Kultusgemeinde Wien so sehr mit der IKG Wien identifiziert, dass sie sagen: „Ja, das ist meine Kultusgemeinde!" Es ist mir sehr wichtig, dieses Ziel zu erreichen.

 h94_020

20. Mai 2012, Tag der offenen Tür im Stadttempel: 4.000 Besucher nahmen die Gelegenheit wahr, den Alltag der Wiener jüdischen Gemeinde kennenzulernen. Foto: Daniel Shaked, mit freundlicher Genehmigung IKG Bildarchiv.

DAVID: Unter dem Motto „Jüdisches Wien erleben" haben Sie im Mai einen Tag der offenen Tür im Kultusgemeinde-Gebäude in der Seitenstettengasse veranstaltet. Es war eine der seltenen Gelegenheiten auch für Nichtjuden, hinter die Kulissen blicken zu dürfen und den Alltag der Wiener Juden kennen zu lernen. Welche Signale möchten Sie dorthin senden?

Mir geht es um eine Politik der Öffnung. Das Interesse ist enorm groß und wir bekommen viel positives Echo. Mehr als 4.000 Personen haben den Tag der offenen Tür im Stadttempel besucht. Viele haben sich gewundert: „Wieso darf  ich als Nichtjude in die Synagoge hinein?" Wichtig ist mir, Irrtümer aufzuklären, zu informieren und zum näheren Kennenlernen einzuladen. Das Ziel ist, der österreichischen Bevölkerung zu zeigen, wir sind genauso Bürger dieses Landes wie die Mehrheit der Bevölkerung, wir haben bloß eine andere Religion. Wir wollen uns als Teil der österreichischen Gesellschaft präsentieren. Die Veranstaltung war ein Erfolg, auf den ich stolz bin. Das Interesse für die jüdische Gemeinde ist riesig und daher möchte ich dieses Interesse, das wir in Gang gesetzt haben, weiter fördern. Einer der nächsten Schritte könnte sein, dass wir an österreichischen Schulen Informationstage abhalten.

DAVID: Auch nach innen ist Ihnen das Thema Kommunikation ein Anliegen?

Ja, wir arbeiten gerade an einem Auftritt der IKG Wien in der Internet-Plattform facebook. Das sollen junge Mitglieder der IKG machen, denn ich möchte junge Leute fördern und sie daher bereits in die Planung und Erstellung  des IKG-Auftritts in facebook involvieren. Jedes Gemeindemitglied hat seinen Platz in der Kultusgemeinde! Es ist mir sehr wichtig, dass auch die jungen Leute sich hier zugehörig fühlen und den  Alltag in der Gemeinde aktiv mitgestalten.

 h94_009

Das Wiener Rathaus, anlässlich der Europäischen Makkabi Spiele 2011 beflaggt mit der Fahne Israels. Foto: Video Andre 2011, mit freundlicher Genehmigung IKG Wien.

DAVID: Die IKG Wien hat in den letzten Jahren enorm in ihre Infrastruktur investiert. Wie sehen Sie Ihre Rolle als Präsident der Kultusgemeinde, was möchten Sie Ihren Mitgliedern bieten?

Viele können von den großen Strukturen, die wir geschaffen haben, profitieren.  Mir ist wichtig, das auch zu vermitteln. Ich bin ein Präsident für alle, ein Präsident zum Anfassen. Bei mir finden zweimal im Monat Sprechstunden statt, ich bin dreimal in der Woche ganztägig in der IKG anwesend, und ich gehe auch einmal pro Monat in andere  Institutionen der IKG , ins Elternheim  Maimonides Zentrum, ins psychosoziale Zentrum ESRA, in die Zwi Perez Chajes-Schule, ins Berufsbildungszentrum  JBBZ. Die Mitglieder können dort jederzeit unangemeldet zu mir kommen, ich höre zu, und ich bemühe mich, jedem zu helfen.

DAVID: Sehen Sie Potential zur Verbesserung des Angebots der IKG?

Die Sozialmassnahmen der IKG Wien würde ich gerne ausbauen und denke da an die Einrichtung einer Freiwilligentruppe, die beispielsweise Senioren unterstützt. Mir liegt auch am Herzen, die Kulturarbeit zu verstärken - noch mehr Events zu veranstalten, im Stadttempel noch mehr Feiern abzuhalten, zu Purim, Simchat Thora, Chanukka. Wir verfügen über ein wunderbares Gemeindezentrum, ich möchte, dass unsere Veranstaltungen  von noch mehr Gemeindemitgliedern, aber auch von Nicht-Gemeindemitgliedern besucht werden.

 h94_018

Prominente Unterstützung bei der Eröffnung der Makkabi Spiele am Wiener Rathausplatz, 6. Juli 2011 .Von links: Motti Tichauer, Vorsitzender der European Makkabi Confederation, der österreichische Bundespräsident Heinz Fischer und seiner Gattin Margit Fischer, sowie Präsident Oskar Deutsch, damals Vorsitzender des Organisationskomitees der Europäischen Makkabi Spiele 2011 in Wien. Foto: Video Andre 2011, mit freundlicher Genehmigung IKG Wien.

DAVID: Die Einwanderung ist sicherlich eines der Hauptthemen der IKG Wien. Woher kam denn  Ihre eigene Familie nach Wien, und wann?

Mein Vater kam aus dem siebenbürgischen Klausenburg, heute Cluj in Rumänien, in den späten 1950er Jahren nach Wien, mit seinem Vater, seinem Bruder und seinen Schwestern. Seine Mutter wurde in Ausch-witz vergast. Meine Mutter stammt aus dem galizischen Lemberg, heute Lwiw in der Ukraine. Als Kind wurde sie in ein Kloster gesteckt und hat so überlebt. Alle anderen Familienmitglieder sind umgekommen. Freunde ihrer Eltern adoptierten sie. Die neue Familie zog nach Krakau, dann nach Prag, wo meine Mutter die Schule besucht und maturiert hat. Nächste Station war Wien. Das Ziel war eigentlich Israel, doch die Familie blieb schließlich hier hängen. Aufgrund geschäftlicher Erfolge, mein Vater war im Kaffeegeschäft, der Vater meiner Mutter als Juwelier tätig, war das Hierbleiben dann eine Selbstverständlichkeit. Ich kam 1963 im Wiener Rudolfinerhaus zur Welt.

DAVID: Die Leichtigkeit, mit der Sie sich als Österreicher bezeichnen, war nicht immer selbstverständlich unter den Juden in Wien. Erst die neue junge Generation in der IKG Wien, allen voran die meist aus bucharischen Familien stammenden Madrichim der Makkabi Spiele, zeigt sich sehr von Wien begeistert. Ist das der neue Trend innerhalb der jüdischen Bevölkerung, und wodurch wurde er ausgelöst?

Im Laufe der Makkabi Spiele war vor dem Wiener Rathaus tagelang eine riesige israelische Flagge aufgespannt. Bei der Eröffnungsfeier haben 5.000 Juden aus 40 verschiedenen Ländern die Hatikva gesungen. Da sind viele Gemeindemitglieder zu mir gekommen, sie waren gerührt und begeistert: „Du hast es geschafft", sagten sie zu mir, „dass wir uns jetzt als österreichische Staatsbürger fühlen! Wir gehören nun hierher, wir sind stolze Juden  in Österreich."

DAVID: Als die jungen Athleten der deutschen Delegation beim Einzug in die Arena vor der Tribüne plötzlich 200-stimmig „Deutschland! Deutschland!" skandierten und begeistert ihre schwarz-rot-goldene Nationalflagge schwenkten, stand dem Publikum das Herz vor Schreck zuerst still. Viele brachen danach in Tränen der Erleichterung, der Ergriffenheit aus. Bekamen Sie da eine Gänsehaut?

Wir haben im Makkabi Komitee diese Situation noch lange danach intensiv diskutiert. Was wir alle festgestellt haben: Es gibt eine Umkehr im Denken. Juden fühlen sich jetzt als deutsche oder als österreichische Juden.

DAVID: Wie beobachten Sie die aktuellen Vorfälle in Ungarn, etwa gegen den Budapester Oberrabbiner, die antisemitische Ausfälle? Gibt es eine neue Fluchtbewegung aus Ungarn?

Einige jüdische Familien sind bereits aus Ungarn  nach Wien gekommen, ihre Kinder werden im kommenden Schuljahr in die ZPC-Schule gehen. Wir werden alle, die kommen, unterstützen und ihnen helfen. Die Entwicklung in Ungarn gegenüber der jüdischen Bevölkerung  ist sehr besorgniserregend. Die Bewegung Jobbik agiert, und die ungarische Regierung lässt sie gewähren, gebietet dem Treiben keinen Einhalt. Hier kann die IKG Wien nur ihre Hilfe anbieten. In erster Linie ist es aber Sache der Europäischen Union, nicht einfach wegzusehen, sondern die Initiative zu ergreifen, um Minderheiten in Ungarn ein normales Leben zu ermöglichen.

DAVID: Ariel Muzicant sagte unlängst in einer Podiumsdiskussion, in 20 Jahren werde wahrscheinlich in Österreich nur mehr die IKG Wien existieren, alle anderen Kultusgemeinden - Salzburg, Linz, Innsbruck, Graz - wären bis dahin „ausgestorben". Wer wird dann die Agenden der Juden in den Ländern wahrnehmen? In Deutschland gibt es heute viele Landjudengemeinden, mit vielen neuen Synagogen. Sehen Sie das für Österreich auch, wäre das vorstellbar?

Wir wollen, dass Juden  nach Österreich kommen. Sie sollen die Anforderungen  für die Rot-Weiss-Rot-Karte erfüllen, um am österreichischen Arbeitsmarkt bestehen zu können. Was wir nicht wollen, ist eine Situation wie in Deutschland, wo es eine große jüdische Einwanderung gab, an deren Ende dann viele Einwanderer Hartz-IV-Empfänger wurden. In Österreich ist die Beschneidung von Buben „noch" möglich, außerdem haben wir die nötige Infrastruktur, wir haben Sport- und Jugendorganisationen, Berufs- und Schuleinrichtungen. Es gibt koschere Lebensmittelgeschäfte, ein Elternheim, etc. In Wien gibt es an jedem Abend auch jüdische Kulturveranstaltungen. Das heißt: ob religiös oder säkular, alles ist in Wien möglich. Mit der bestehenden Infrastruktur könnten 10.000 bis 15.000 Juden zusätzlich versorgt werden. Die Zuwanderung sollte innerhalb eines angemessenen Zeitraumes erfolgen, vielleicht jährlich 100 bis 150 Familien. So könnte das Blühen und Gedeihen der jüdischen Gemeinde in Wien für die nächsten 20, 30 Jahre sichergestellt werden.

DAVID: Sollen die Zuwanderer ausschließlich nach Wien kommen?

Es spricht nichts dagegen, auch die anderen Gemeinden zu stärken, wie Graz, Innsbruck, Linz und Salzburg. Das hängt von den Jobaussichten in den Bundesländern ab. Dort gibt es wunderschöne Synagogen. Es wäre wunderbar, wenn sich die anderen Gemeinden durch den Zuzug jüdischer Familien wieder vergrößern.

DAVID: Die IKG Wien blickt auf eine bedeutende liberale Tradition zurück. Wollen Sie wieder dorthin, oder wollen Sie die IKG noch orthodoxer machen?

Innerhalb der IKG gibt es viele Richtungen. Die IKG hat diese Vielfalt unterstützt und jeder Einzelne hat die Möglichkeit, sich eine Gruppierung auszusuchen. Nehmen Sie beispielsweise die ZPC-Schule: Die Kindern lernen dort Religion, aber danach entscheidet jeder für sich, wie er sein Leben fortsetzt. Mein Großvater kam aus einem streng gläubigen Haus, nach dem Krieg war er nicht mehr religiös. Er sagte zu mir: "Wichtig ist, dass Du alles über die Religion lernst, dass Du alles weißt. Danach entscheidest Du frei." Mir ist wichtig, dass der Jugend alles  über  Religion beigebracht wird, und sie sich frei dann entscheidet, welchen Weg sie einschlagen möchte.

DAVID: Die Frage der Restitution hat die IKG in den vergangenen Jahren intensiv beschäftigt. Ist das Thema für Sie nun abgeschlossen?

Das Thema ist nicht abgeschlossen.  Im Bereich der Kunstrestitution hat sich speziell in Österreich vieles bewegt, Österreich ist das einzige Land, das ein Kunstrückgabegesetz hat. Dennoch gibt es da noch einiges zu tun. Es sind noch Liegenschaftsfälle bei der Schiedsinstanz für Liegenschaften anhängig. Außerdem müssen noch Lücken geschlossen werden, wie z.B. beim Staatsbürgerschaftsgesetz. Betreffend Pensionen, Pflegegeld, etc. für ehemalige Österreicher gibt es noch viele unbearbeitete Anträge. Der Entschädigungsfonds hat in seiner letzten Aussendung informiert, dass die Auszahlungen an die Betroffenen bzw. ihre Erben fast zu 100 Prozent erfolgt sind.

DAVID: Was sehen Sie als die Rolle des Jüdischen Museums Wien? Was soll das Museum können?

Das jüdische Museum ist ein Museum der Stadt Wien. Ein Teil der Sammlungen gehört der IKG. Die IKG wünscht sich eine von Historikern konzipierte Dauerausstellung, die dem jetzigen Standard von Museumsausstellungen angepasst ist. Die Präsentation dieser Ausstellung soll sehr viele Besucher anlocken. Wünschenswert wären überdies dem Zeitgeist entsprechende Wechselausstellungen zur jüdischen Geschichte, Musik und Kunst.

DAVID: Die jüdischen Friedhöfe in Österreich sind heilige Orte, sie sind aber auch Denkmäler, und sie funktionieren als Erinnerungsorte der ausgelöschten jüdischen Gemeinden - stimmt das für Sie? Welche Elemente sollen erhalten bleiben, woran soll also langfristig erinnert werden?

Der Religion entsprechend, darf ein jüdischer Friedhof nicht aufgelassen werden. Daher ist es wichtig, dass alle jüdischen Friedhöfe in Österreich instandgesetzt werden und dass für ihre Pflege Sorge getragen wird. Diese Fragen hat die IKG bereits bei den Verhandlungen zum Entschädigungsfonds eingebracht. Die IKG hat jahrelang dafür gekämpft, dass die Republik dies anerkennt. Wir haben viel erreicht, doch ist noch einiges offen und wir hoffen, für alle offenen Themen in den nächsten Monaten Lösungen zu finden.

DAVID: Was wünschen Sie sich für die Zukunft der IKG Wien?

Die Gemeinde soll für alle, Juden und Nichtjuden dieses Landes, ein Ort der Begegnung und des Austauschs sein. Ich möchte den Bürgern dieses Landes durch Aktivitäten und Aufklärung mehr Wissen und ein besseres Verständnis über das Judentum vermitteln. Wir wollen uns zeigen, wir wollen Barrieren überwinden!

DAVID: Herr Präsident, vielen Dank für das Gespräch!