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Die Geschichte von Narziss im Midrasch – oder – Wem gehört der Zauber der Schönheit?

Admiel KOSMAN

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Ein bekannter griechische Mythos erzählt von Narkissos (Narziss), einem schönen Mann, der erfüllt vom Bewusstsein seiner eignen Schönheit herzlos die Liebe von Frauen und Männern zurückwies. Diese Ablehnung widerfuhr nicht nur der Bergnymphe Echo, sondern einer böotischen Version der Erzählung zufolge auch einem Mann namens Ameinios. Als Narziss Letzterem ein Schwert sandte und damit sein Liebe zurückwies, verflucht ihn dieser auf das Übelste, bevor er sich mit dem Schwert selbst tötete. Artemis hörte die Fluchbitte Ameinios und strafte Narziss mit unerfüllbarer Selbstliebe. Eines Tages betrachtete Narziss in einer Quelle sein Spiegelbild, und er verliebte sich in sich selbst. Als er jedoch erkannte, dass seine Selbstliebe zwecklos ist, stiess er sich einen Dolch in die Brust und starb. Der griechischen Mythologie zufolge soll seinem Blute die weisse Narzisse mit den rotgelben Herzblättern entsprungen sein.

Im Midrasch Sifre zu Numeri lässt sich eine recht interessante Parallele dieser Geschichte finden. Im Folgenden sollen in eine Analyse dieser beiden Traditionen einige Unterschiede zwischen der rabbinisch-talmudischen Welt und der Welt der griechischen Kultur hervorgehoben werden.

„Schimon der Gerechte sagte: Ich habe nie ein Nasiratsschuldopfer gegessen, ausser einem. Als einer aus dem Süden kam [mit] schönen Augen und gutem Aussehen und herabwallenden Locken. Ich sagte zu ihm: Welchen Grund hattest du, solch schönes Haar zu verderben? Er sagte zu mir: Ich war der Hirte in meiner Stadt, und einmal ging ich, um aus einer Quelle Wasser zu schöpfen und betrachtete mein Spiegelbild. Und mein Herz wallte auf wegen mir und versuchte, mich aus der Welt zu schaffen. Ich sagte zu ihm [dem Herzen]: Frevler, du bist stolz auf etwas, das nicht dein ist, sondern dem Staub und den Maden und Würmern. Siehe, für den Himmel werde ich dich scheren. Da neigte ich [Schimon] mein Haupt, küsste ihn auf sein Haupt und sagte zu ihm: Deinesgleichen sollen viele in Israel sein, die den Willen G'ttes tun. Und an dir hat sich erfüllt [Num. 6,2]: `Wenn ein Mann oder eine Frau es deutlich ausspricht, dass er das Gelübde eines Nasirs gelobt, um (sich) für den Herrn zum Nasir zu weihen.´"1

Schimon der Gerechte, der im 3. Jahrhundert vor der christlichen Zeitrechnung lebte, ist der älteste Gelehrte der mündlich überlieferten Tradition, der namentlich bekannt ist. Der Erzählung zufolge scheint sich Schimon der Gerechte dem Asketismus (Nasirat) und der Enthaltsamkeit wiedersetzt zu haben. Aus diesem Grund hatte er - bis auf den oben erwähnten Fall - nie an den Opfermahlzeiten der Asketen (Nasiräer) teilgenommen. Diese Erzählung stammt aus der Ära des Zweiten Tempels, doch ihr Kern ist weitaus älter. Der Nasiräer, der ein befristetes „Mönchstum" auf sich genommen hatte, wusste, dass er am Ende dieser Phase sein Haar abscheren muss.

Tiefgründiger jüdischer Mythos

Im griechischen Mythos sieht Narziss sein Spiegelbild und verliebt sich in sich selbst. Für Narziss ist es selbstverständlich, dass er die Eigenschaft der Schönheit besitzt und er selbst es ist, den er zu sehen vermag. Narziss verfängt sich also im Zauber „seiner selbst". In der jüdischen Version der Geschichte hingegen erkennt der Asket, dass das Wasser lediglich den Anschein erweckt, als wäre es „er selbst". Er begreift die Elemente der Zusammensetzung seiner Existenz, die als phänomenologische Analyse der Arroganz, Gier und Bosheit gelesen werden können, welche die menschliche Realität massgeblich bestimmen.

Im Folgenden sollen drei Aspekte hervorgehoben werden:

Erstens heisst es, dass der Asket sein Herz beziehungsweise seine Triebe zu beherrschen vermochte. Wie während einer Meditation schaut er nicht nur ihre überschwemmende Energie, sondern erkennt auch ihre Gefahr für die Seele. Dabei wird ihm bewusst, dass die Triebe nicht ihn selbst ausmachen, sondern von aussen kommende Elemente sind, welche vorgeben, „er selbst" zu sein. In der obigen Erzählung wird nicht gesagt, was genau die Triebe vom Asketen verlangen, aber die meisten Ausleger meinen zu Recht, dass sie ihn dazu auffordern mit seiner Schönheit die Frauen zu verführen.

Offensichtlich erkannte der Asket die Gefahr, die in der Identifikation zwischen seinem Inneren und seiner äusseren Schönheit besteht und er im Fall der Nichtbeachtung der Warnung „von der Welt" fortgetragen werden würde.

Hier ist zu überlegen, worin die Bedeutung des Wortes „Welt" in diesem Zusammenhang liegen könnte. Der Terminus „Welt" wird in der rabbinischen Literatur in diesem Kontext in der Regel anstelle der modernen Wörter „Authentizität" und „Selbstständigkeit" verwendetet.2

Zweitens heisst es, dass der Asket mit jenen Kräften, die sich seiner Seele zu bemächtigen versuchen, eine Unterhaltung führt beziehungsweise sie attackiert: „Frevler, du bist stolz auf etwas, das nicht dein ist, sondern dem Staub und den Maden und Würmern?" Diese Triebe verfügen offensichtlich die Fähigkeit, sich so zu verstellen, dass sie als das böse und schlechte „Ich" beziehungsweise „Selbst" des Asketen erscheinen. Es ist hier zu fragen, woher jene Bosheit stammt. Ich glaube, dass der Ursprung im Stolz zu suchen ist, der danach trachtet, mit materiellen oder immateriellen Reichtum anzugeben. Der Stolz wiederum hat seine Wurzel in der Gier, möglichst viel zu besitzen, um damit seine grandiose Selbstpräsentation zu ermöglichen. Dies alles ist eine Form des Diebstahls, da sich die Triebe eine Welt aneignen, die ihnen selbst nicht gehören. Denn die Triebe versuchen der Welt beziehungsweise der Authentizität des Menschen habhaft zu werden und den Menschen so zu beherrschen, dass er eine Identität annimmt, die nicht authentisch ist. Diese Verkettung von Fehlern, die Buddha als „Dummheit" bezeichnet, erzeugt bei dem Verführten das Gefühl einer absoluten Macht, der Hybris des „Don Juan", der Kraft desjenigen, der in die Falle seiner eigenen Fantasie getappt ist.

Hier summiert sich also ein ganzer Komplex von Assoziationen, der eine philosophische Weltanschauung repräsentiert: Das Böse der Welt entstammt der Arroganz. Die Arroganz geht aus der Gier hervor, welche danach verlangt, immer mehr zu besitzen. Und die Gier, immer mehr zu besitzen, verursacht Selbstverführung, Diebstahl fremden Eigentums und die Ausnutzung des Mitmenschen.

Wenn wir weiter darüber nachdenken, werden wir verstehen, dass der Asket hier zwar ein Argument des Marxismus hervor bringt, aber im Gegensatz zu Marx, der das extrovertierte Besitztum als die „Ursünde" der Kultur betrachtete, der Asket bereits die innere Gier nach Besitztum als die Ursache für das Schlechte in der Welt erkennt - nämlich in der Selbstwahrnehmung, welche das „stiehlt", was ihr nicht gehört.

Diese Selbstwahrnehmung ist wie das Spiegelbild im See, und sie ist es, die die Identifikation zwischen dem „Ich" und der „Schönheit" herstellt. Das Ich betrachtet sich als sehr wertvoll und verhält sich mit Stolz. Dieser vermeintliche „Wert" des Ichs ist eine illegitime Illusion, da ihm die Schönheit ebenso wenig zu eigen ist wie die Schönheit einer Blume oder einer Wolke.

Die Spiele des Egos und ihre Überwindung

Der jüdische Asket tritt grundsätzlich anders auf als Narziss im griechischen Mythos. Die Bezeichnung des Ersteren als „Nasir" zeigt in schöner Weise seine Charaktertugenden: nämlich, dass der junge Mann sich selbst von der Identifikation mit seinem Spiegelbild entfernt (mesir azmo).

Der griechisch-westliche Mensch vermag nicht das nachzuvollziehen, was der antike orientalische Mensch versteht - nämlich, dass sich die Ursache alles Schlechten nicht ausser uns befindet, sondern in uns selbst, dass das Konzept der Unreinheit nur eine Konstruktion unseres Selbst ist, mit deren Genese wir uns fortwährend mit unserem Inneren beschäftigen: Die Vorstellung vom Ego, dass wir wertvoll sind.3

Die Identifikation des Selbst mit dem Ego wurde uns lediglich als Leihgabe und Heilmittel vom Universum gegeben. Die Identifikation mit positiv besetzten Charaktereigenschaften wie zum Beispiel Schönheit, Klugheit, Mut usw. veranlassen uns dazu, im Laufe unseres Lebens allerhand „Spiegelbilder" zu erstellen und anschliessend einen Schritt darüber hinauszugehen, indem wir daraus folgern: Wir sind die „Schönen", die „Klugen" oder die „Mutigen".

Narziss versinkt in der Selbstimagination, die sich vor ihm im Wasser befand.4 Er war nicht dazu in der Lage, den Ruf der Bergnymphe Echo zu erwidern, die seine Liebe benötigte. So ertrank er in den Untiefen seines Selbst.

Dagegen fällt die Reaktion des Asketen in Bezug auf sein Spiegelbild radikal und entschlossen aus: Er schwört, dass er sein schönes Haar zerstören wird. Doch es wird jedem Menschen einleuchten, dass ein solcher radikaler Eingriff langfristig zwecklos ist. Denn das „innere Ungeziefer" ist kein Ergebnis der schönen Haare, sondern eine Folge der Spielchen des Egos. Was wird also der Asket unserer Erzählung machen, wenn er zum Beispiel entdeckt, dass gerade die Glatze sein sehr schönes Gesicht betont? Ist es dann sein Schicksal, sich köpfen zu lassen? Natürlich nicht.

Nun ist nachvollziehbar, dass sich die Askese nur für einen bestimmten Zeitraum eignet. Ohne eine Vertiefung dieser Lehre anzuwenden, ohne die Fähigkeit, die Ursache des Problems zu beseitigen, muss das Problem des Asketen ungelöst bleiben. Doch wenn er in der Lage ist, dieses Problem aus seiner inneren Welt zu schaffen, so wird er demütig und bescheiden werden. Sobald er demütig und bescheiden ist, wird er sein schönes Haar nicht zerstören müssen. Er wird seine Haare mit Freude behalten können - wie alle schönen Dinge der Welt, über deren wunderhafte Existenz der Mensch nur Gutes sagen und die er als Liebesgeschenk der Bergnymphe Echo geben muss, die ihn nötig hat.

Admiel Kosman ist Professor für Jüdische Studien an der Universität Potsdam und akademischer Leiter des Abraham-Geiger-Kollegs.

1  Der Midrasch Sifre zu Numeri. Übersetzt und erklärt von Dagmar Börner-Klein. Stuttgart Berlin Köln 1997, S. 42 zu Num. 6,2.

2  Vgl. z.B. Midrasch Exodus Raba 52, 3: „Jeder  einzelne Gerechte hat eine Welt für sich selbst." In diesem Zusammenhang muss auch der Ausdruck „die kommende Welt" verstanden werden.

3  Ähnliche Äusserungen finden wir schon in der Predigt Buddhas unter dem Baum aus dem 6. Jh. v.Chr.

4  Das Wasser repräsentiert hier das instabile Element, das Unstetige in uns selbst.