Ottakring, insbesondere der Brunnenmarkt mit seinem fast orientalischen Ambiente, wird heute gerne als einer der Orte in Wien angesehen, wo die gegenwärtige Zuwanderungswelle am konzentriertesten manifest wird. Ottakring nahm aber im Rahmen der Stadtentwicklung und des Bevölkerungszuwachses immer schon eine Vorreiterrolle ein.
Bis zur Stadterweiterung von 1891 eine eigene Gemeinde, war dieser einstmals beschauliche Weinort infolge der wachsenden Industrialisierung im späten 19. Jahrhundert geradezu von einer Bevölkerungsexplosion geprägt.1 Unter den zahlreichen Industriebetrieben, die sich in dieser Gegend niederliessen, dominierte vor allem die Textilindustrie, des Weiteren zahlreiche metall- und holzverarbeitende Unternehmen, aber auch Kleingewerbe und anderes mehr. Von grosser Bedeutung war auch die Ottakringer Brauerei, die 1850 von den Cousins Jakob und Ignaz Kuffner erworben wurde, die aus einer aus Mähren kommenden und schon länger im Brauereiwesen tätigen jüdischen Familie stammten. Unter ihrer Leitung sollte sich das Unternehmen bald zu einer der grössten Brauereien im Wiener Raum entwickeln.
Insbesondere Ignaz Kuffner (1822-1882), der von 1870-1876 auch Bürgermeister von Ottakring war, engagierte sich in diesen schwierigen Zeiten des Umbruchs für seine Gemeinde. Er rief zahlreiche karitative Stiftungen ins Leben, liess Schulen erbauen, bemühte sich die schlechte Verkehrssituation zu verbessern, gründete die örtliche Freiwillige Feuerwehr und anderes mehr. Auch sorgte er in seinem eigenen Betrieb für verbesserte Verhältnisse der Arbeiterschaft, so gab es neben Urlaubsansprüchen und Sonderzulagen auch eine werkseigene Küche. 1878 wurde er dementsprechend für seine Verdienste als „Wohltäter der Armen" vom Kaiser in den Adelsstand erhoben.2
Kuffner Sternwarte (Wikipedia)
1890 hatte sich die Bevölkerungsanzahl von Ottakring innerhalb von rund 15 Jahren verdoppelt und war bereits auf über 100.000 Menschen angewachsen, damit war dieser Vorort damals die zweitgrösste Gemeinde Niederösterreichs überhaupt.3 Begleitet von einem rasanten Bauboom, der nahezu US- amerikanischen Verhältnissen gleichkam, wurden ganze Stadtviertel aus dem Boden gestampft, die weitgehend billigst gebaute Zinskasernen umfassten, die die elenden Wohnverhältnisse der Bevölkerung, die zu drei Viertel aus Arbeitern bestand, kaum verbesserte. Die Zuwanderer waren überwiegend Tschechen, aber auch einige Juden, die wahrscheinlich in der Textilindustrie und im Kleingewerbe tätig waren, liessen sich hier nieder und bildeten eine kleine, aber stetig wachsende Gemeinde, die jedoch die längste Zeit keinen eigenen Kultusverband bildete und nur über einige private Betstuben verfügte.
Erst auf die Initiative Ignaz Kuffners, der selbst immer ein frommer Jude blieb, konstituierte sich 1874 unter Zusammenlegung der jüdischen Gemeinden der Vororte von Ottakring, Hernals und Neulerchenfeld eine eigene Kultusgemeinde, die über ein einfaches Bethaus in Hernals verfügte. In der Folge formierte sich auch ein Tempelverein unter Leitung von Josef Sittig, der Gelder für den Bau einer dringend benötigten Synagoge sammelte.4 Da die meisten der Gemeindemitglieder eher den unteren Schichten angehörten und nicht sehr finanzkräftig waren, unterstützte Ignaz Kuffner das Projekt grosszügig und stellte ein Legat von 5.000 Gulden zum Ankauf eines Grundstückes zur Verfügung. Als er 1882 verstarb, erhöhte sein Sohn und Erbe Moritz (1854-1939) das Legat dermassen, dass man schliesslich ein Areal in der Hubergasse 8 erstehen konnte - nicht weit entfernt vom heutigen Brunnenmarkt. 5
Ludwig Tischler (Privat)
Überhaupt setzte Moritz Kuffner, der noch in sehr jungen Jahren die Brauerei übernehmen musste, die Tradition seines Vaters fort und unterstützte zahlreiche soziale Vereine, darunter auch die Arbeiterheime von Ottakring und Favoriten. Dementsprechend ist anzunehmen, dass Moritz Kuffner, der selber dem Tempelverein angehörte, noch weitere Spenden für das Projekt tätigte.
Angesichts dieses Umstandes konnte man im August 1885 die feierliche Grundsteinlegung begehen, wobei auch der ausführende Baumeister Donat Zifferer (1845-1909) als weiterer Förderer des Tempels anzusehen ist. Auch Zifferer stammte aus einer mährisch-jüdischen Familie und hatte seine Ausbildung an der Brünner Technischen Hochschule erhalten. Als einer der grössten Bauunternehmer in Wien hatte er sein Vermögen in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts durch den Aufkauf und Verbauung von Baulosen des Stadterweiterungsfonds gemacht. In guter jüdischer Tradition agierte er als grosszügiger Mäzen und engagierte sich in der Wohlfahrt und Armenfürsorge.6 Dieser Ausrichtung entsprechend verzichtete Zifferer beim Bau des Tempels auf sein Honorar und hatte möglicherweise darüber hinaus das Projekt auch sonst finanziell unterstützt.
Mit ziemlicher Sicherheit war es auch Donat Zifferer, der den Architekten Ludwig Tischler (1840-1906) als Planverfasser für den Tempel vermittelte. Beide waren in der „Allgemeinen Österreichischen Baugesellschaft" tätig und arbeiteten schon des längeren als Architekt und Baumeister zusammen, wobei ihr Schwerpunkt zumeist gehobene Mietpalais waren. Tischler, der aus Triest stammte, aber schon in Wien studiert hatte, gehörte mit rund 250 Bauten zu den meistbeschäftigten Architekten der Ringstrassen-Ära. Obwohl selbst kein Jude, war er neben seiner engen Zusammenarbeit mit Donat Zifferer und dem Bau des Ottakringer Tempels auch sonst schicksalhaft mit der Geschichte der Wiener Juden verbunden. In seiner Anfangszeit in den frühen siebziger Jahren war er mit der Errichtung einiger Hotels in Hinblick auf die Wiener Weltausstellung von 1873 befasst, darunter auch das „Hotel Metropol" am Morzinplatz. Die längste Zeit galt es als eines der nobelsten Hotels in Wien und wurde auch manchmal aufgrund seiner Situierung in einer vorwiegend von Juden bewohnten Gegend als „jüdisches Sacher" bezeichnet. Nach dem „Anschluss" von 1938 „arisiert", gelangte es als berüchtigter Sitz der Gestapoleitstelle zu trauriger Berühmtheit.7
Moriz Kuffner (Wikipedia)
Feierliche Einweihung 1886
Der Ottakringer Tempel wurde von Ludwig Tischler als eine einfache dreischiffige Anlage entworfen, deren gemusterte Fassade in farbigem Klinker sich an der Formensprache der lombardischen Romanik orientierte. Mit diesem Konzept wurde zwar ein Sakralbau vermittelt, der aber relativ schlicht gehalten in die Häuserreihe eingebunden war und darüber hinaus über keine Kuppel oder Turm verfügte.8 Die Kosten des Baus, der in diesem eher ärmlichen Arbeiterviertel bezeichnenderweise „ohne besonderen Luxus und sehr zweckentsprechend" ausgeführt wurde, beliefen sich damals auf 50.000 Gulden.9
Am 23. September 1886 konnte schliesslich die feierliche Einweihung erfolgen, die auch „Unter lebhafter Beteiligung der christlichen Bevölkerung" stattfand. Tatsächlich nahm an der Feier, die möglicherweise auch auf Betreiben von Moritz Kuffner in der Gemeinde einen besonderen Stellenwert inne hatte, alles was Rang und Namen hatte teil: neben Vertretern der Wiener Kultusgemeinde und mehrerer Nachbargemeinden war Bezirkshauptmann Habicher anwesend sowie diverse Reichstagsabgeordnete, Vertreter der Schulbehörden, der Pfarrer von Ottakring und andere christliche Geistliche und nicht zuletzt Bürgermeister Antonin Zagorsky, der schon seit jeher in enger Zusammenarbeit mit den Kuffners für die Gemeinde tätig war. Die Feier selbst begann mit dem Absingen des 24. Psalmes durch Oberkantor Schlesinger, der über eine besonders schöne Stimme verfügte, dann erfolgte der Umzug der Thorarollen und das Anzünden des ewigen Lichtes. Rabbiner Dr. Güdemann betonte in seiner Festpredigt die Verdienste der Familie Kuffner um den Bau des Tempels und den damit erhofften Aufschwung für die örtliche Kultusgemeinde. Wie üblich endete die Feier mit einem Gebet für den Kaiser und dem Absingen der Volkshymne.
Zweifellos verdankt sich der Bau vor allem Moritz von Kuffner, der die vom Vater Ignaz - dem es selbst nicht mehr vergönnt war, die Einweihung zu erleben - vorgegebene Tradition weiter geführt hatte. Generell war Moritz Kuffner eine vielseitig gebildete und interessierte Persönlichkeit. Neben seiner fachlichen Ausbildung zum Chemiker war er ein höchst kunstsinniger Mensch, der u.a. zu den Mitbegründern des Wiener Musikvereines zählte und über eine grosse Kunstsammlung verfügte. Darüber hinaus war er ein damals international anerkannter Alpinist und brennend an Astronomie interessiert. Als Norbert Herz, der damalige Ordinarius für theoretische Astronomie an ihn herantrat, eine private Sternwarte zu errichten, stellte er spontan ein Grundstück auf dem Gallitzinberg zur Verfügung und finanzierte das Projekt, das im selben Jahr wie der Ottakringer Tempel errichtet wurde und damit den grossen Aufschwung der Gemeinde symbolisiert. Bis heute trägt die „Kuffner-Sternwarte" den Namen dieser bemerkenswerten Familie.
Schon bald nach der Einweihung des Tempels wurde Ottakring 1891 im Zuge der Stadterweiterung Wien angeschlossen und die örtliche jüdische Gemeinde der Wiener Kultusgemeinde unterstellt. Noch im selben Jahr wurde auch der Bau infolge der stetig wachsenden Zahl der Mitglieder, die bereits auf 3.000 angestiegen war, erstmals erweitert, so dass der Innenraum jetzt Sitze für knapp 700 Gläubige umfasste.10 1928 wurde noch zusätzlich von dem Architekten Ignaz Reiser ein Winterbetsaal errichtet. Nur zehn Jahre später im November 1938 wurde der Ottakringer Tempel - wie alle anderen - von den NS- Horden in Brand gesteckt, und die Geschichte der Ottakringer jüdischen Gemeinde, die zwar bescheiden, aber signifikant für die Entwicklung der jüdischen Bevölkerung in Wien war, fand damit ihr Ende.
Der vergessene Moritz Kuffner
Das weitere Schicksal der drei Protagonisten, die an der Errichtung der Ottakringer Synagoge so massgeblich Anteil gehabt hatten, des Architekten Ludwig Tischlers, des Baumeisters Donat Zifferer und des Mäzens Moritz Kuffner, hätte unterschiedlicher nicht sein können. Ludwig Tischler entwarf weiterhin zahlreiche noble Mietpalais, Hotels und anderes mehr. Als er 1906 in voller Schaffenskraft plötzlich verschied, waren viele seiner Projekte noch gar nicht vollendet, darunter auch der so genannte „kleine Tempel" in Brünn, das eines seiner letzten Bauvorhaben war.
Der um nur wenige Jahre jüngere Donat Zifferer arbeitete weiterhin sehr erfolgreich als Bauunternehmer. Sein 25-jähriges Berufsjubiläum feierte er demgemäss im grossen Stil in den Festsälen des „Hotel Metropol".11 Ausserdem hatte er seit 1895 als Vertreter der Liberalen einen Sitz im Wiener Gemeinderat, dem er bis 1906 angehörte, und war damit gemeinsam mit Wihelm Stiassny einer der wenigen jüdischen Abgeordneten. Als engagierter Freimaurer war er auch Ehrenmitglied zahlreicher in- und ausländischer Logen. In seinen letzten Jahren arbeitete er des Öfteren mit seinem Schwiegersohn Ernst von Gotthilf (1876-1929) zusammen, der später mit seinem Partner Alexander Neumann einer der bedeutendsten Architekten auf dem Gebiet des Bankenbaus werden sollte.12 Aber auch Zifferers Frau Rosa, geb. Schüler (1851-1911), war politisch aktiv und eine der führenden Frauenrechtlerinnen ihrer Zeit. Zifferer, der sich um 1906 krankheitsbedingt aus dem Berufsleben zurückziehen musste, ist schliesslich 1911 an einer Lungenentzündung verstorben.
Moritz Kuffner engagierte sich auch weiterhin für die Anliegen der Juden und war - nachdem die Ottakringer Gemeinde der Wiener Kultusgemeinde eingliedert worden war - über lange Jahre im Vorstand der IKG aktiv.13 Als weltoffener liberaler Mensch war sein Ottakringer Palais eines der Zentren des geistigen Wiens, wo die bedeutendsten politischen und intellektuellen Persönlichkeiten verkehrten. Ungeachtet seiner zahlreichen Interessen und Aktivitäten war er aber auch weiterhin sehr erfolgreich als Unternehmer und stellte den Betrieb auf eine moderne Basis um.
Umso härter trafen ihn die Ereignisse rund um den sogenannten „Anschluss" Österreichs von 1938. Die Ottakringer Brauerei wurde „arisiert", sein Palais von der Gestapo heimgesucht und seine Kunstsammlung beschlagnahmt. Der bereits über achtzigjährige und schwerkranke Mann, dessen Lebenswerk zerstört war, konnte im August 1938 von seinem Sohn nur mit viel Mühe und Beziehungen nach Pressburg und von dort in die Schweiz gebracht werden, wo er im März 1939 in einer Zürcher Klinik verstarb. In Österreich gedachte damals kein Mensch an den Mann, der sich um das heimische Brauwesen und die Entwicklung von Ottakring - insbesondere der örtlichen jüdischen Gemeinde - so verdient gemacht hatte, einzig in einer englischen Bergsteigerzeitschrift erschien ein Nachruf, der die längste Zeit das einzige Zeugnis von Moritz Kuffners Verdiensten sein sollte.14
1 1891 wurde Ottakring der Stadt Wien eingemeindet und bildete unter Zusammenlegung mit Neulerchenfeld den 16. Bezirk.
2 P. Habison, Der Brauherr als Bauherr, Moriz v. Kuffner und seine Sternwarte, in: Astronomisches Mäzenatentum (Hg. G. Wolfschmidt), Hamburg 2008, S. 131ff.
3 F. Czeike/W. Lugsch, Studie zur Sozialgeschichte von Ottakring, Wiener Schriften, H. 2, 1955
4 K. Schneider, Die Geschichte der Gemeinde Ottakring, Wien 1892, S. 677ff.
5 Kleine Chronik - Die Einweihung des neuerbauten Tempels in der Hubergasse 8, in: Österreich-ungarische Cantorenzeitung H.32, 8.10.1886, S. 5f.
6 Nachruf Donat Zifferer, in: Der Bautechniker 29.9.1909, S. 800.
7 Siehe dazu: U. Prokop, Ludwig Tischler, in: Wiener Architektenlexikon 1770-1945, www.architektenlexikon.at. - Der prominenteste Häftling im Hotel Metropol war Louis Nathaniel Rothschild, der über ein Jahr einsass und erst nach der Zahlung einer enormen Summe freigelassen wurde, Stefan Zweig hat diese Episode in seiner „Schachnovelle" thematisiert.
8 B. Martens/H. Peter, Die zerstörten Synagogen Wiens, Wien 2009, und P. Genée, Wiener Synagogen 1825-1938, Wien 1987.
9 Siehe Kleine Chronik, zit. Anm. 5.
10 Der Erweiterungsbau von 1891 wurde von dem örtlichen Baumeister Franz Vock durchgeführt. Siehe dazu K. Schneider, zit. Anm. 4.
11 Neue Freie Presse 1.10.1905.
12 Zu den bedeutendsten Bankgebäuden der Ateliergemeinschaft gehört die ehemalige CA in der Schottengasse, die ehemalige Länderbank am Hof und die Ankerversicherung am Hohen Markt.
13 Moritz Kuffner hatte diese Funktion von 1900-1913 inne.
14 Obituary Moritz Kuffner, The Alpine Journal 1939.