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DAVID im Gespräch mit Martin Engelberg, Liste CHAJ – Jüdisches Leben

Alfred GERSTL

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Bei den Wahlen für die Kultusgemeinde im November tritt Mag. Martin Engelberg mit seiner neuen Liste CHAJ - Jüdisches Leben an. Seine Mitstreiter decken ein breites Spektrum ab, das von Atheisten bis Orthodoxen, von Neueinsteigern bis zu erfahrenen Gemeinde-Politikern reicht. Im Gespräch mit unserem Redaktionsmitglied Alfred Gerstl erläutert der Psychoanalytiker, Coach und Unternehmensberater Engelberg die politischen Ziele von CHAJ.

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© Georges Schneider

DAVID: Herr Engelberg, Ihre Wahl-Liste trägt die Bezeichnung CHAJ - Jüdisches Leben. Wie beurteilen Sie jüdisches Leben in Österreich heute, verglichen mit der Zeit nach der Shoa?

Martin Engelberg: In Bezug auf das jüdische Leben in Österreich sehe ich drei Phasen. Die erste Phase war jene nach dem Krieg. Da sassen viele Juden auf gepackten Koffern, weil sie die Entwicklung nach 1945 noch nicht richtig einschätzen konnten und ihnen anfänglich nicht klar war, welchen Weg Österreich einschlagen würde. In der zweiten Phase ab Ende der siebziger Jahre, zu Anfang der achtziger Jahre fiel dann die klare Entscheidung innerhalb des österreichischen Judentums, dass es in diesem Land eine jüdische Gemeinde geben soll. Unter den Präsidenten Ivan Hacker, Paul Grosz und Ariel Muzicant wurde deshalb der Aufbau der Infrastruktur für die Gemeinde vorangetrieben, der Umzug der IKG in die Seitenstettengasse vollzogen und sehr viel gebaut.  Jetzt steht die dritte Phase in unserer Gemeinde an: Alle diese Einrichtungen mit Leben zu erfüllen, unseren Mitgliedern dort ein Zuhause zu geben.

Was unterscheidet jüdisches Leben in Österreich von anderen europäischen Ländern?

Die Wiener Kultusgemeinde ist mit einer erstaunlichen Infrastruktur ausgestattet. Doch die Hauptfrage ist: Wie füllt man sie mit Leben? Viel zu viele Mitglieder haben mit der Kultusgemeinde, mit den zahlreichen Einrichtungen nichts zu tun. Wenn ich in den Tempel gehe, fallen mir extreme Unterschiede zwischen den Besucherzahlen zu Yom Kippur und an einem normalen Schabbat auf. Deshalb fragt sich CHAJ: Welche Programme können wir entwickeln, um nicht nur zu den Hohen Feiertagen Menschen in die Synagoge oder zu Gemeinde-Veranstaltungen zu bringen? Wie können wir jene jüdischen Kinder gewinnen, die nicht in jüdische Schulen gehen?

Dies ist laut Ihrem Programm ein wichtiges Ziel. Wodurch hebt sich CHAJ sonst noch positiv von den anderen wahlwerbenden Listen ab?

CHAJ fragt sich, was kann man für die jüdische Gemeinde besser machen? Uns geht es darum, dass sich alle jüdischen Menschen - auch Nicht-Mitglieder der Kultusgemeinde - von Aktivitäten der Gemeinde angesprochen fühlen. Bisher kam nur ein kleiner Teil der Gemeinde-Mitglieder in den Genuss von Leistungen. Entsprechend ist ein grosser Teil abgedriftet und beteiligt sich nicht mehr am jüdischen Leben.

Wir wollen deshalb konkret hinterfragen, was die Kultusgemeinde tun kann, um Brücken zwischen den doch sehr heterogenen Mitgliedsgruppen zu schlagen, sowohl zu Nicht-Religiösen als auch zu den Orthodoxen, die mit der IKG wenig anfangen können. Bislang wurden sie einfach mit Subventionen abgespeist. Gleichzeitig war es für Jugendliche oder Religiöse schwierig, auch nur ein paar Tausend Euro Förderung zu bekommen - wo liegen also die Prioritäten? Das Zusammenführen von Menschen wird der Hauptfokus von CHAJ sein.

Wie bewerten Sie die Bilanz des früheren Präsidenten Muzicant?

Ariel Muzicant hat für die Gemeinde zweifellos viel geleistet. Er hat zahlreiche Projekte auf die Beine gestellt. Dafür werden ihm auch zu Recht Dank und Respekt entgegen gebracht. Heute, nachdem diese Arbeit geleistet ist, stehen wir vor der Herausforderung diese Institutionen nachhaltig zu erhalten und zu beleben. Ganz wesentlich ist, ob die Gemeinde die Infrastruktur auch in Zukunft erhalten kann. Dafür ist die Frage der Transparenz entscheidend. CHAJ möchte deshalb einen Kassasturz machen, um zu sehen, wie es mit den Finanzen wirklich aussieht. Denn einmal heisst es, die Gemeinde sei „bankrott", einmal sie sei „saniert". Es gibt zu viele Vereine und Stiftungen, niemand hat einen Überblick. Der Kassasturz ist wichtig, um für die Zukunft gerüstet zu sein.

Dr. Muzicant hat sicherlich auch einen eigenen Politstil geprägt. Er hat sich sehr offensiv und manchmal auch recht forsch zu Fragen der Innenpolitik geäussert. Sagen wir es einmal so: Die feine Klinge war nicht die seine ... Vielleicht eher der Vorschlaghammer. Als wirklich grosses Verdienst bleibt aber ohne jeden Zweifel, dass er sich aktiv für die Restitution eingesetzt hat.

Der Rücktritt Muzicants als IKG-Präsident im Februar dieses Jahres war ein Versuch, Oskar Deutsch die Möglichkeit zu geben, Erfahrung als interimistischer Präsident zu sammeln. Abgesehen von seinem Konflikt mit Darabos - hat er sich aus Ihrer Sicht bewährt?

 Wenn es sein Ziel war, Ossi Deutsch noch schnell Profilierungsmöglichkeiten zu geben, dann bin ich mir nicht sicher, ob das so funktioniert.

Zuletzt hat es in Österreich heftige Diskussionen über die Vorwürfe von Verteidigungsminister Darabos an Israels Aussenminister Lieberman und der Kritik von Oskar Deutsch an Darabos gegeben. Wie bewerten Sie die Aussagen von Deutsch?

Öffentliche Auftritte sind für eine jüdische Gemeinde immer schwierig: Einerseits muss man selbstbewusst und mutig seinen Standpunkt vertreten. Andererseits muss man klug agieren und eine Strategie haben. Man sollte genau abwägen, wann man sich zu Wort meldet und womit und wann nicht. Das kann eine Gratwanderung sein, die in diesem Fall meinem Empfinden nach nicht ganz geglückt ist. Sein Statement, der Minister habe ein Problem mit lebenden Juden, war unpassend. Dass er daraufhin im „Falter" zum „Dolm der Woche" erklärt wurde, war für die gesamte Gemeinde ein suboptimales Resultat.

Derzeit läuft in Österreich, Deutschland und der Schweiz eine heftig geführte Diskussion über die Beschneidung? Was zeigt diese Debatte für Sie - Sie haben sich ja kürzlich in einem Kommentar in der "Presse" an ihr beteiligt - auf?

Die Debatte ist zum Glück wieder eingeschlafen. Aber, sie führte uns vor Augen, wie verzerrt das Bild mancher über die jüdische Bevölkerung und unsere Traditionen ist. Rabbiner Hofmeister hat hier sehr wertvolle Aufklärungsarbeit in der Öffentlichkeit geleistet. Eine klare politische Reaktion der Gemeindeführung gegenüber den populistischen Dummheiten aus Vorarlberg und Kärnten habe ich allerdings vermisst.

Ihre Liste ist, was die Kandidaten und Kandidatinnen angeht, sehr repräsentativ für die Zusammensetzung der Gemeinde. Welche Motivation haben Ihre Mitstreiter, sich für CHAJ zu engagieren?

Alle eint derselbe Wunsch: dass sich die Menschen in der Gemeinde mehr zu Hause fühlen sollen. Denn das Zusammengehörigkeitsgefühl hat jüdische Gemeinden immer ausgezeichnet. Für CHAJ kandidieren sowohl Neueinsteiger als auch Personen, die früher bei anderen Fraktionen bzw. Kandidatenlisten Erfahrungen gesammelt haben. Parteien haben sich jedoch de facto aufgehört.

Seit wann sind Sie selbst politisch aktiv?

Ich wurde 1985 zum ersten Mal in den Kultusvorstand gewählt. Politisch aktiv war ich jedoch bereits seit meiner Mittelschul-Zeit, als wir die Vereinigung Jüdischer Mittelschüler gründeten. Viele damals geschlossene Freundschaften halten bis heute an. Als Student betätigte ich mich in der Jüdischen Hochschülerschaft, und war Präsident des Dachverbandes der jüdischen Jugendorganisationen. Zudem war und bin ich publizistisch aktiv, etwa als Mitherausgeber und Kolumnist der Zeitschrift „Nu" und mit Gastbeiträgen in der „Presse".

Sie betätigen sich auch häufig publizistisch in „Nu". Diese Zeitschrift haben Sie im Jahr 2000 mitgegründet. Anfänglich hat sie vorwiegend über Interna aus der Kultusgemeinde berichtet. Heute enthält sie viele Beiträge, die auch eine breitere Leserschaft interessieren. Wie kam es zu diesem Wandel?

An den Kritikpunkten an der Gemeinde hat sich nicht so viel geändert. Aber in unserem Umfeld haben wir immer wieder gespürt, wie schwierig es ist, Kritik zu äussern: Ihr habt ja Recht - aber man darf das nicht schreiben, sagten uns viele. Deshalb haben wir auf die Verbreiterung der Themen gesetzt, auch kontroversielle angesprochen, vor allem weil die Zeitschrift „Gemeinde" das nicht bewerkstelligt. Die Einführung des neuen Magazins „Wina" entsprach dem in der Ausschreibung erklärten Wunsch von Muzicant „Nu" zu kopieren. Das ist bestens - Konkurrenz belebt natürlich. Aber die Kritik ist, dass sehr viel Geld in „Wina" hineingebuttert wird. Mit so viel Geld könnte man mehr aus dieser Zeitschrift machen oder das Geld besser für andere Sachen verwenden.

Hält man sich den Zustand der heimischen Politik generell vor Augen, so muss man jeden, der sich politisch betätigt eigentlich fragen: Warum tun Sie sich das an?

(Lacht.) Das ist eine gute Frage, die ich mir selbst schon oft gestellt habe. Man kann für die Gemeinde natürlich auch viel tun, ohne in offiziellen Gremien zu sitzen. Es war dann aber eine wirklich schwierige Entscheidung. Beruflich bin ich sehr engagiert und habe eine Familie. Die Frage war: Kann ich mir den Zeitaufwand leisten? Mit einem guten Zeitmanagement geht das. Denn die Gemeinde liegt mir sehr am Herzen, ich kenne sie und die Probleme, vor denen sie steht, sehr gut. Im Laufe meiner politischen Tätigkeit habe ich erkannt, dass es Verbesserungspotenzial gibt. Auch habe ich ja publizistisch immer die Gemeinde-Politik kritisch kommentiert. Daher habe ich mir selbst die Frage gestellt: Wenn du glaubst die besseren Antworten zu haben, warum machst du das nicht selber?

Wir von CHAJ haben auch das Gefühl, dass die Kultusgemeinde vor einer Zeitenwende steht. Viele Leute haben uns angesprochen und ermuntert, anzutreten. Viele in der Gemeinde setzen in einen Wandel grosse Hoffnungen. Wir wollen ihnen jetzt ein Angebot für einen Wandel machen.

Und natürlich hoffe ich auf die Unterstützung durch meine Frau und meine Kinder, um das Amt so ausüben zu können, wie es notwendig ist. Es ist auf alle Fälle möglich, den Präsidentenposten zeiteffizienter auszuüben, es ist laut Statuten ja kein Fulltime-Job. Denn für diese ehrenamtliche Funktion kämen sonst nur wenige Personen in Frage, die über das notwendige Einkommen oder Vermögen verfügen. Generell sollten die politischen Strukturen viel effizienter gestaltet werden. Auch sollte ein Präsident mehr delegieren. Notwendig sind eine Modernisierung und Professionalisierung der politischen Arbeit.

Eine ihrer neuen Initiativen ist der CHAJ Sabbat, zu dem, wie ich beobachten konnte, sowohl Orthodoxe als auch Juden kommen, die in den letzten Jahren nichts mit der Gemeinde zu tun hatten.

Am CHAJ Sabbat nehme ich persönlich sehr gerne teil. Mit meiner Familie haben wir immer Freitag abend zu Hause gefeiert, wir wollten aber mehr und neue Teilnehmer ansprechen. Den CHAJ Sabbat wird es auch nach der Wahl geben. Denn eine solche Veranstaltung muss institutionalisiert sein: Menschen, die zu Hause keinen Schabbat feiern, die alleine sind, oder Gäste aus dem Ausland, sollen einen Anknüpfungspunkt haben. In vielen Gemeinden sind solche Anlässe Standard. Der CHAJ Sabbat ist damit ein gutes Beispiel für das, woran es in unserer Gemeinde fehlt.

Es gibt keine offene Diskussion über die Jugendarbeit oder wie man Leute in den Stadttempel bringen kann. Wie kann den verschiedenen Gruppen Spannendes geboten werden, und zwar sowohl unter der Woche und am Wochenende? Wir hingegen haben uns die Frage gestellt: Was wollen die Gemeindemitglieder wirklich? Deshalb haben wir einen Fragebogen ausgeschickt, den wir gerade auswerten.

Im Wahlkampf wurden spezifische Probleme der bucharischen Juden thematisiert. Wie sehen Sie die Situation dieser ethnischen Gruppe?

Ich habe seit vielen Jahren einen sehr guten Kontakt zur bucharischen Gemeinde. In Bezug auf die bucharischen Juden fühle ich mich an unsere eigene Eltern-Generation erinnert, die sich hier anfänglich ebenfalls fremd gefühlt hat und alles neu aufbauen musste. Die bucharischen Juden befinden sich bei den anfangs beschriebenen Phasen vielleicht erst in der Aufbauphase. Aber jedenfalls gibt es jetzt neue, junge Repräsentanten, mit denen die Zusammenarbeit bestens funktioniert. Ich biete den bucharischen Juden eine neue Partnerschaft an. Wir müssen weg vom Ansatz: „Was wollt ihr: Ein neues Bethaus oder etwas anderes? Bekommt ihr - aber dafür wählt ihr uns und unterstützt uns die nächsten 5 Jahre."

Wir haben uns bisher auf Wien konzentriert. Wie sieht es mit ihren Beziehungen zu den anderen jüdischen Gemeinden aus?

Ich habe sehr guten Kontakt zu allen vier österreichischen Gemeinden. Warum in den letzten Jahren so eine Missstimmung entstanden ist, kann ich mir nicht erklären. Ich bin aber überzeugt, dass man mit allen gut zusammen arbeiten und ein gutes Einvernehmen herstellen kann.

Was wären Ihre drei Hauptprojekte, sollten Sie zum Präsidenten gewählt werden?

Im amerikanischen gibt es den Begriff des „outreach" - das wäre unser allerwichtigstes Anliegen: Die Gemeinde soll das Herz der jüdischen Bevölkerung Wiens werden. Zweitens die Kinder- und Jugendarbeit massiv ausbauen. Und drittens brauchen wir eine neue Ära der Transparenz in den Finanzen.

Wie lautet ihr persönliches Wahlziel?

Dass Chaj stark genug wird, um gute Arbeit für die Gemeinde zu leisten.

Herr Engelberg, herzlichen Dank für das Gespräch!