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Das Anderl von Rinn.

Wolfgang BENZ

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Ritualmordlegenden gehören seit dem Mittelalter zum Instrumentarium der Judenfeindschaft. Rainer Erb nennt sie „Wahnvorstellung mit mörderischer Konsequenz" und verweist auf die weite Verbreitung, auch in anderen Religionen als der christlichen, und die lange Tradition der Vorstellung, dass andersgläubige Minderheiten die Kinder von Gastvölkern ermorden, um ihr Blut für rituelle oder magische Zwecke zu gewinnen. Die Unterstellung, Juden würden aus diesem Grund Christenkinder töten, weil sie deren Blut etwa zur Herstellung von Matzen benötigen würden, ist nicht nur angesichts der jüdischen Speisegesetze völlig absurd, aber so zählebig wie andere irrationale Beschuldigungen, die Judenfeindschaft artikulieren.

Welche Wirkung Ritualmordlegenden haben können, erfuhr die Welt im Jahre 1946, als in Kielce in Polen ein Pogrom gegen jüdische Holocaust-Überlebende losbrach, nachdem ein Kind verschwunden war und das Gerücht sich verbreitete, Juden hätten es aus rituellem Grund getötet. Bürger wurden zum Mob, in atavistischer Raserei töteten sie am 4. Juli 1946 mehr als 40 Menschen, die gerade dem Holocaust entronnen und voll Hoffnung in ihre Heimatstadt zurückgekehrt waren.

Ritualmordlegenden dienen seit dem Mittelalter der Stigmatisierung der Juden als Fremde, die auf Grund ihres Glaubens auszugrenzen sind. Dazu sind „teuflische" Machenschaften wie Hostienfrevel und Ritualmord als sinnfällige „Beweise" der Andersartigkeit der Juden notwendig und nützlich. Die Verhöhnung der Passion Christi, die Juden angeblich anlässlich des mörderischen Blutfrevels vor allem zur Pessachzeit zelebrieren, ist seit der ersten Beschuldigung zur Zeit des Mittelalters in die christliche Volksfrömmigkeit eingedrungen und teilweise bis in die Gegenwart wirkmächtig geblieben. 1144 wird als legendäres Opfer eines Ritualmordes William von Norwich genannt. Die Legende von seinem Tod durch Judenhand verbreitete sich von England aus in ganz Europa, fand viele Nachahmungen bis ins 20. Jahrhundert hinein. Einen Höhepunkt bildete die Geschichte des Simon von Trient aus dem Jahr 1475.

Zu den Motiven der Errichtung eines Kultus gehörte das Bedürfnis, einen lokalen Märtyrer zu verehren, womöglich durch eine Wallfahrt, die auch wirtschaftlichen Segen brachte. Die Installation war einfach: Verschwand irgendwo ein Kind, wurden die örtlichen Juden des Ritualmords beschuldigt und durch Folter zum „Geständnis" der Missetat gezwungen. Das war in Trient 1475 sowohl im Motiv, einen Heiligen zu gewinnen, wie in der Methode ganz eindeutig vorbildlich für viele Fälle, auch für die Stiftung des Anderl-von-Rinn-Kultes in Tirol.

Dessen Beginn war typisch, obwohl das Ereignis, auf das sich der Kult gründete, schon mehr als 150 Jahre zurücklag: Den Arzt des Haller Frauenstiftes, Hippolyt Guarinoni (1571-1654) inspirierte 1619 das Gerücht über einen fünf Generationen zurückliegenden Ritualmord, das er durch Nachforschungen und Eingebungen zu der Gewissheit verdichtete, am 12. Juli 1462 hätten durchreisende jüdische Kaufleute das Kind Andreas Oxner von seinem Taufpaten gekauft und durch Folter zum Tode gebracht. Die Forschungen des Doktors Guarinoni waren von frommem Eifer geleitet und die wichtigsten Ergebnisse seines Forschens (wie das Todesdatum des dreijährigen Anderl) erschienen ihm in Träumen. Das dürftige Fundament war, zeitgemässem Empfinden nach, kein Hindernis für die Etablierung eines Märtyrerkultes, der bis zum Ende des 20. Jahrhunderts blühte.

1678 wurde eine Kirche über dem „Judenstein" errichtet, eine Kinderleiche wurde als Reliquie dorthin überführt und 1744 am Hochaltar zur Schau gestellt. 1755 erliess Papst Benedikt XIV. die Constitutio „Beatus Andreas", was der Seligsprechung gleichkam. Pilger zum Judenstein genossen einen „ewigen vollkommenen Ablass". Eine attraktive Wallfahrt weit über die Region hinaus war damit bestätigt.

Eine 1803 in Innsbruck veröffentlichte „kurze Geschichte des unschuldigen Kindleins und wunderbaren Blutzeugens Andreas von Rinn" schmückt in einer detaillierten Schilderung der angeblichen Leiden des Märtyrers auch die blasphemischen Motive der Juden aus, die den Knaben auf einen Stein gezerrt hätten, auf dem er gemartert worden sei, wie einst Jesus am Kreuz:

            „Mit ausgespannten Armen

            War er izt Jesum gleich:

            Der Stein wird aus Erbarmen

            Bey dieser Marter weich:

            Nur nicht der Juden Herzen,

            Die bey der Qual und Pein

            Des schönen Kindes Scherzen,

            Und sich recht teuflisch freu'n."

Gedichtet hatte diesen Vers (und insgesamt zehn Lieder zum Lob des Anderl) der Priester Lorenz Falschlunger vom Prämonstatenser-Chorherrenstift Wiltau. Die Knittelverse sind ein eindrucksvoller Beweis, wie tief der Anderl-Kult in der Volksfrömmigkeit verwurzelt war. Das lässt auch Schlüsse auf die Intensität der Judenfeindschaft (ausgeprägt als religiös motivierter Antijudaismus) in der ganzen Region zu.

Amtskirchliches Verehrungsverbot 1988

Die Verehrung des Anderl von Rinn blühte weit über Tirol hinaus. Grund dafür waren auch die zahlreichen Traktate, Erbauungsbücher, Erzählungen, die kursierten. Die Brüder Grimm nahmen die Geschichte „Der Judenstein" in ihre Sammlung deutscher Sagen (1816) auf. „Im Jahre 1462 ist es zu Tirol im Dorfe Rinn geschehen, dass etliche Juden einen armen Bauer durch eine grosse Menge Geld dahin brachten, ihnen sein kleines Kind hinzugeben. Sie nahmen es mit hinaus in den Wald und marterten es dort auf einem grossen Stein, seitdem der Judenstein genannt, auf die entsetzlichste Weise zu Tod." Die Mutter habe, als der Mord geschah, auf dem Feld gearbeitet. Von Herzens Bangigkeit getrieben eilte sie nachhause, wo der Mann ihr das Geld zeigte, das sie aus Armut und Not befreien würde. Das Geld verwandelte sich aber zu Laub, der Vater wurde wahnsinnig und grämte sich tot.

Dem Anderl gewidmete Volksschauspiele, Messen, Andachtsbilder verankerten den Kult in der katholischen Folklore. Schliesslich bemächtigte sich auch der moderne Antisemitismus des 19. Jahrhunderts des Stoffs. Der Wiener katholische Geistliche Joseph Deckert veröffentlichte 1893 eine Schrift mit dem Titel „Vier Tiroler Kinder, Opfer des Chassidischen Fanatismus", in der er den Anderl-Kult für den Rassenantisemitismus vereinnahmte, der in der NS-Zeit seinen Zenit erreichte.

Die katholische Kirche beendete den Kult schrittweise. 1953 strich der Innsbrucker Bischof Paulus Rusch den Anderl-Gedenktag am 12. Juli aus dem kirchlichen Festkalender. 1985 liess Bischof Stecher die angeblichen Gebeine des Anderl von Rinn aus dem Altar der Kirche über dem Judenstein entfernen. Ein Wandbild in der Pfarrkirche Rinn, das den Ritualmord schildert, (mit der Inschrift „Sie schneiden dem Martyrer die Gurgel ab und nehmen alles Blut von ihm") wurde übermalt. 1988 wurde die Verehrung des Andreas als Märtyrer amtskirchlich in aller Form verboten.

Dass die Kirche so deutlich auf Distanz ging, beeindruckte die Gemeinde der Anderl-Verehrer wenig. Katholische Fundamentalisten gehen unbeirrt alljährlich am Sonntag nach dem 12. Juli auf Pilgerfahrt nach Rinn. Da ihnen die Nutzung der Kirche untersagt ist, gedenken sie ihres Anderl durch Prozession und Feldmesse. Die Wallfahrer kommen nicht nur aus Tirol, sondern reisen mit Bussen von weither an. Zu den Gläubigen gesellen sich politisch rechts Stehende und Judenfeinde. Motor des fortdauernden Anderlkultes ist der Kaplan im Ruhestand Gottfried Melzer, ein suspendierter Geistlicher, der 1998 auch wegen Verhetzung verurteilt wurde. Ihm zur Seite stehen der Theologe Robert Brandner und der ehemalige Bischof von St. Pölten, Kurt Krenn. Sie glauben immer noch, dass es jüdische Ritualmorde gegeben hat und dass das Anderl keine Fiktion ist.

Volksfrömmigkeit - Judenhass - reaktionärer Traditionalismus

Für Reaktionäre und Traditionalisten bildet die Legende vom Märtyrertod des Andreas von Rinn die Brücke zum Antisemitismus, auf der sie sich mit Rechtsextremisten in gemeinsamer Judenfeindschaft begegnen. Der Anderl-Kult zeigt auch, welch hartnäckigen Bestand Ressentiments haben und mit wie geringen Mitteln sie am Leben gehalten werden können. Kaplan i.R. Melzer fristet mit dem Handel von Anderl-Devotionalien und Mess-Stipendien (nach altem Ritus) wohl seinen Lebensunterhalt und hält die Gemeinde durch den „Anderl-Boten" und Traktatliteratur zusammen.

In einem Mirakelbuch, das 1991 im weit rechts stehenden Verlag „Pro Fide Catholica" erschien (der fälschlich Nähe zur Amtskirche suggeriert), trug Kaplan Gottfried Melzer die Beweise wunderbaren Wirkens des Anderl von Rinn zusammen, die als Zeugnisse der Volksfrömmigkeit berichtet und überliefert wurden. Er griff dazu auf ein Buch zurück, das der Prämonstratenser-Chorherr Ignaz Zach 1724 in Augsburg veröffentlicht hatte unter dem Titel „Ausführliche Beschreibung der Marter eines heiligen und unschuldigen Kinds Andreae von Rinn in Tyrol und Bistum Brixen". Als Beweise fortwirkender Wundertätigkeit sind Berichte über Gebetserhörungen vor allem aus den 1980er Jahren mitgeteilt: Ein vierjähriges Mädchen überlebte mit Anderls Hilfe eine Gehirnhautentzündung, ein kleiner Junge überstand einen Sturz, ein Kind wurde von schwerer Nervenkrankheit geheilt, ein anderes von Erblindung, ein viertes überstand einen Blinddarmdurchbruch. Aber nicht nur Kindern wurde geholfen. Aus Lindenberg in Deutschland schrieb eine Frau am 5. Juni 1989: „Ich will mich beim seligen Anderl bedanken. Ich habe ihm vier Wochen die Litanei gebetet und Veröffentlichung versprochen: Ich hatte an beiden Händen Gelenksrheuma. Die waren so dick geschwollen und schmerzten sehr. Im Krankenhaus konnten sie nicht helfen. Das Anderl hat mir zu Hause schneller geholfen."

Bei Autounfällen wie bei Unfrieden in der Familie, wenn Jugendliche in schlechte Gesellschaft geraten, wenn Dinge verloren gehen oder gestohlen werden, Anderl lässt seine Gemeinde nicht im Stich, glauben einige, und nach der Überzeugung des Kaplans Melzer war er auch beim Zusammenbruch des Kommunismus segensreich tätig. „Wir schreiben diesen unblutigen Machtwechsel der Fürbitte Kaiser Karls und des sel. Andreas von Rinn zu."

Der Anderl-Kult ist ein Lehrstück, wie Volksfrömmigkeit und Judenhass zusammen mit reaktionärem Traditionalismus politische Bedeutung gewinnen. Denn die Anderl-Gemeinde ist politisch rechtsaussen positioniert und wird vom radikalen Rechtspopulismus für seine Zwecke instrumentalisiert. Der Anderl-Kult ist auch ein Lehrstück für die Grenzen der Aufklärung.