Thomas Stoppacher: Jüdische Sommerfrische in Bad Gleichenberg. Eine Spurensuche.
Graz: CLIO 2013
160 Seiten mit zahlr. Abb., Euro 15,00
ISBN: 978-3-902542-35-9
Haben sich bislang vorgelegte Publikationen über Bad Gleichenberg im Wesentlichen auf Ortschroniken und die Darstellung der allgemeinen Geschichte beschränkt, so widmet sich der Grazer Historiker Thomas Stoppacher mit seinem Buch Jüdische Sommerfrische in Bad Gleichenberg. Eine Spurensuche erstmals dem jüdischen Leben im steirischen Kurort und schliesst damit eine Forschungslücke. Anhand umfangreichem Quellenmaterial aus regionalen, österreichischen, aber auch israelischen Archiven zeichnet er die Geschichte und Tradition der jüdischen Sommerfrische in Bad Gleichenberg nach, wobei er den zeitlichen Bogen vom späten 19. Jahrhundert über die Zwischenkriegszeit und dem „Anschluss" Österreichs an das Deutsche Reich bis hin zur Zeit nach 1945 spannt. Eine Folge der rechtlichen Gleichstellung der Jüdinnen und Juden Österreich-Ungarns durch die Verfassung von 1867 war die Hoffnung des Erreichens auch der gesellschaftlichen Anerkennung, was sich nicht zuletzt im Aufkommen der jüdischen Sommerfrische zeigte. Neben den medizinischen Beweggründen, „auf Kur zu fahren", spielte das soziale Leben in einem spezifischen Milieu fern der Grossstadt eine nicht zu unterschätzende Rolle.
Bad Gleichenberg gehörte neben Bad Gastein, Bad Ischl und Bad Aussee zu jenen österreichischen Kurorten, die vorwiegend von jüdischen Gästen - grossteils aus Wien und Ungarn/Siebenbürgen - besucht wurden. Eine nennenswerte lokale jüdische Gemeinde hatte sich hingegen nie entwickelt. Mit dem Anstieg der Besucherzahlen entstand eine eigene Infrastruktur: zunächst koschere Restaurants und Bäckereien, später mehrere Pensionen, sowie ein jüdischer Friedhof, ein israelitisches Hospital und ein rituelles Bad. Die Möglichkeit, die religiösen Vorschriften auch während des Kuraufenthaltes einzuhalten, wurde zudem durch die Anwesenheit eines Rabbiners und eines Schächters sichergestellt. Die in der Zwischenkriegszeit zunehmende Judenfeindlichkeit zeigte sich in zahlreichen Tourismus- und Kurorten im so genannten „Sommerfrischen-Antisemitismus". In Bad Gleichenberg trat sie laut Thomas Stoppacher vergleichsweise selten in Erscheinung.
Im Detail berichtet der Autor über die Villa Dreibaum, dem für die jüdischen Gäste bedeutendsten Haus im Ort, das von Salomon Eisen und nach dessen Tod von seinen Erbinnen als Pension und Gasthaus mit rituellem Bad im Keller geführt wurde. Im März 1938 zählte es neben dem israelitischen Hospital, das im Buch ebenfalls eine gesonderte Betrachtung erhalten hat, und anderen jüdischen Gaststätten zu jenen Einrichtungen, die im Zuge der „wilden Arisierungen" von den Nationalsozialisten beschlagnahmt wurden. Die Villa Dreibaum wurde in der Folge als Parteihaus der lokalen NSDAP genutzt und kurz vor Kriegende vollständig niedergebrannt. „Ein vergessenes Kapitel Kulturgeschichte" nennt Stoppacher seine besonders interessanten Ausführungen über Theater, Kabarett und Musik in Bad Gleichenberg und über Künstlerinnen und Künstler als Gäste im Kurort. Darunter finden sich namhafte Persönlichkeiten wie Elias Canetti und Manes Sperber, sowie Fritz Grünbaum, Karl Farkas und Hermann Leopoldi, die ihre Programme in Gleichenberg zum Besten gegeben haben.
Die abschliessend gestellte Frage, wie mit dem jüdischen Erbe des Ortes umgegangen wird, beantwortet der Autor anhand exemplarisch skizzierter Rückstellungsverfahren, am jüdischen Friedhof in Trautmannsdorf, dem einzigen, sichtbar erhaltenen Zeichen der damaligen Infrastruktur, sowie an der Bedeutung des Ortes für die aus Österreich vertriebenen Jüdinnen und Juden nach der Shoah. Stoppacher konstatiert: „Die Rückkehr in die mit schönen Erinnerungen behafteten Ferienorte, in denen oft nicht mehr viel an die frühere Zeit erinnerte, ist schwierig. So ist zum Beispiel Bad Gastein, das in Salzburg der traditionelle jüdische Kurort schlechthin war, für viele alte zurückgekehrte Juden das Synonym für ihr entwendetes und entfremdetes Österreich. Dennoch offenbarte sich bei vielen ausgewanderten Juden nach einigen Jahren die Sehnsucht nach den Sommerfrischeorten ungehemmter als jene nach dem früheren Wohnort. Dieser mobilisierte viel stärker schmerzhafte Erinnerungen an Demütigungen und Deportationen nahestehender Menschen, oftmals durch Nachbarn, die sich am Raubzug beteiligten. Eine Rückkehr in den sommerlichen Urlaubsort hingegen war meist mit positiven Gedanken verbunden. Die Landschaft und die Natur der frühen Heimat existierten schliesslich schon vor dem NS-Regime." Dass die jüdische Geschichte Bad Gleichenbergs dem Vergessen anheim fällt, hat Thomas Stoppacher mit seiner beeindruckenden Studie entgegengewirkt.