Die Aufrechterhaltung der Besatzung des Westjordanlandes bringt zahlreiche Gefahren für die israelische Gesellschaft und den israelischen Staat mit sich, sodass die permanente Diskussion über Möglichkeiten eines wie auch immer gearteten Rückzugs auch ganz unabhängig von der Situation der palästinensischen Bevölkerung nur allzu verständlich ist. Völlig zu Recht verweisen Gegner der Besatzung darauf, dass, um nur einige Argumente zu erwähnen, man mit den finanziellen Mitteln, die zu ihrer Aufrechterhaltung aufgebracht werden müssen, vermutlich die gesamte Negev-Wüste in eine blühende Agrarlandschaft verwandeln könnte, dass der militärische Schutz jener Siedlungen, die keinerlei Sicherheitsrelevanz haben, unnötig Kräfte bindet, die an anderer Stelle dringend gebraucht würden, und dass die Besatzung es der palästinensischen Propaganda unnötig leichtmacht, sich der Weltöffentlichkeit permanent als Opfer darzustellen und die dringend notwendige Selbstkritik in Form einer Auseinandersetzung über die katastrophalen Fehlentwicklungen in der eigenen Gesellschaft mit Verweis auf die Besatzungssituation ein ums andere Mal abzublocken. Als zentrales Argument gegen die Besatzung, die in den letzten Jahren immer mehr an Relevanz gewonnen hat und weit über die zionistische Linke hinaus geteilt wird, muss jedoch die Notwendigkeit genannt werden, sich auf die äusseren Bedrohungen zu konzentrieren. Die Bedrohung durch das Nuklear- und Raketenprogramm des iranischen Regimes hat auch bei der Initiierung des Friedensprozesses Anfang der neunziger Jahre eine entscheidende Rolle gespielt. Zweitens wird immer häufiger auf die demographische Entwicklung verwiesen, die bald zu einer arabischen Bevölkerungsmehrheit führen könnte.
Das heisst: Auch aus einer zionistischen Perspektive gibt es zahlreiche Gründe, einen wie auch immer im Detail zu realisierenden Rückzug aus den umstrittenen Gebieten zu befürworten - und ebenso viele, die dagegen sprechen, in der deutschsprachigen Nahost-Diskussion aber kaum Erwähnung finden. Neben den Fragen, um wieder nur einige zu nennen, inwiefern ein Rückzug nicht automatisch ein Nachgeben gegenüber dem Antisemitismus bedeuten würde, ob er von den Feinden Israels nicht nahezu zwangsläufig als Ermunterung zur Eskalation ihres Kampfes verstanden werden müsste, warum sich niemand dafür interessiert, wie es in einem Staat Palästina um die Rechte seiner Bürger und insbesondere Bürgerinnen bestellt wäre und warum die Etablierung solch eines Staates wie selbstverständlich dazu führen würde, dass dort keine Juden mehr leben dürfen, während es die ganze Welt für völlig normal hält, dass im israelischen Kernland über eine Million Araber als gleichberechtigte Staatsbürger wohnen, bleibt das zentrale Argument gegen einen Rückzug der Sicherheitsaspekt. Sollte eine aus Verhandlungen resultierende Gründung eines palästinensischen Staates die Sicherheitsinteressen Israels berücksichtigen und also etwa eine Entmilitarisierung Palästinas, eine israelische Militärpräsenz am Jordan und die Akzeptanz Israels als jüdischen Staat beinhalten, so wäre, anders als Brumlik suggeriert, weiterhin eine deutliche Mehrheit der israelischen Bevölkerung dafür; sie wäre wohl auch zu Kompromissen in der Frage der Teilung Jerusalems bereit. Auf palästinensischer Seite stellt sich das leider anders dar: Nach einer aktuellen Umfrage fordern 55 Prozent der Palästinenser in der Westbank und 68 Prozent im Gaza-Streifen das „historische Palästina" vom Jordan bis zum Mittelmeer; weniger als 30 Prozent unterstützen eine Zwei-Staaten-Lösung.
Jeder Befürworter einer Beendigung der Besatzung und der Etablierung einer palästinensischen Staatlichkeit muss die Frage beantworten, was geschehen soll, wenn solch ein Schritt eben nicht die Beendigung des Konflikts bedeutet und ganz im Gegenteil von der gegnerischen Seite als Beleg verstanden wird, dass man durch permanente Gewalt Israel seinen Willen aufzwingen kann. Was tun, wenn ein palästinensischer Staat nur als Basis verwendet würde, um den Krieg zur „Befreiung ganz Palästinas" unter besseren Bedingungen fortzuführen? Die bisherigen Erfahrungen sowohl mit dem Rückzug aus dem Südlibanon im Jahr 2000 und insbesondere aus dem Gaza-Streifen 2005 führen das als Möglichkeit deutlich vor Augen. Soll die israelische Armee, wenn es dann weiterhin Angriffe gibt, wieder im Westjordanland einmarschieren? Würde das nicht mehr Opfer auf beiden Seiten fordern, als der augenblickliche Zustand und Israel international nicht noch schlimmeren Attacken aussetzen, als es heute schon der Fall ist?
Die Frage, wie mit der Situation im Westjordanland umzugehen ist, wirft also ein klassisches Dilemma auf, und nur die israelische Gesellschaft, welche die unmittelbaren Folgen jeder Entscheidung in dieser Frage wird tragen müssen, kann sie beantworten.
Auszug aus: Stephan Grigat, Die Einsamkeit Israels. Zionismus, die israelische Linke & die iranische Bedrohung. Konkret-Verlag 2014.
180 Seiten, Euro 19,00