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Kurt Schmuel Flascher (7.11.1928 Wien - 24.2.2015 Staten Island)

Evelyn ADUNKA

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Kurt Schmuels Eltern waren Salomon Flascher, geb. 1892 in Halicz und Rosalia Kant, geb. 1894 in  Krakau. Sein Grossvater, der Schneidermeister Jacob Kant (1862 Tarnow - 1939 Wien), lebte seit 1908 in Wien. Mit seiner Frau Regina hatte er vier Kinder: Rosalia (Kurts Mutter), Emil, geb. 1890, er führte ein Schuhgeschäft in Wien und wurde in Sobibor ermordet; Laura, geb. 1901, verheiratete Lottner, dem Paar gelang über Frankreich die Flucht in die USA; Artur (Arthur), geb. 1904, führte ein Geschäft in Saalfelden, war von 14.11.1938 bis 13.1.1939 im KZ Dachau inhaftiert und konnte nach Haifa flüchten. Für Regina, die bereits in Kurts Kindheit in einem Rollstuhl sass und nicht mehr auf die Strasse gehen konnte, war nach dem Tod ihres Mannes Jacob Kant keine Rettung möglich.

Rosalia war Weissnäherin und half ihrem Vater. Salomon war Marktfahrer. Die Grosseltern, die Eltern und die beiden Kinder lebten in der Glockengasse 23, Tür 8. Gertrude besuchte das Krügerheim in der Malzgasse, Kurt die Volksschule in der Novaragasse. Die Familie betete im Tempel in der Pazmanitengasse; Jacob Kant ging in das Bethaus Ojse Chesed in der Schiffamtsgasse. Nach dem „Anschluss" wurde sein Grossvater geschlagen. Kurt, der nicht jüdisch aussah, war nicht zu halten, und hörte sich auf den Strassen und in Sälen Nazireden an. Salomon gehörte zu einer Gruppe, die illegal schächtete; ein Mal wurde er mit Kurt für eine kurze Zeit verhaftet. Im März 1939 beschloss Salomon, mit „Kurtl" über Köln und Aachen nach Antwerpen zu flüchten, während Rosalia in Wien blieb. In Köln gab es viele Schmuggler, aber der Preis stieg täglich. Salomon hatte 1500 Schilling, aber es war nicht genug Geld für beide. Er kaufte eine Fahrkarte für Kurt für den Zug nach Antwerpen, denn dort hatte Rosalia einen wohlhabenden Verwandten, den Diamantenhändler Jozef Leser, der später ebenfalls New York erreichte. Kurt wurde ohne Dokumente in den Zug gesetzt, aber das Rote Kreuz schickte ihn am 23.3. von der Grenze nach Köln zurück. Salomon war verzweifelt, und erinnerte sich, dass er in einem Dorf in der Nähe von Aachen einen Verwandten aus Halicz hatte, der ein Schuhgeschäft führte. Sie fuhren nach Aachen, fanden das Haus, und diese Familie organisierte die Flucht mit einem Auto nach Antwerpen. Sie erreichten Antwerpen am 28.3. und lebten in der Lange Kievitstraat 55.  Kurt durfte keine Schulen besuchen; er wurde ein Strassenkind und lernte so spielend Jiddisch. Im August erfuhren sie, dass die amerikanischen Visa angekommen waren und fuhren mit einem 3-Tages Visum nach Wien.

Salomon, Rosalia und Kurt erhielten am 3.August 1939 in Wien ihre amerikanischen Visa. Der amerikanische Vizekonsul O.H.Hammond Jr. entschied jedoch, dass die Affidavits für vier Personen zu schwach waren und verweigerte das Visum für Gertrude. Salomon brach in Tränen aus, Kurt sah ihn zum ersten Mal weinen. Die Affidavits besorgte Esther Schwarz, die jüngste Schwester von Salomon; deren Mann arbeitete in New York als Installateur. Ausgestellt wurden sie von Simon Flescher, einem Übersetzer, und Harry Flescher, einem Anwalt. Gertrude blieb in Belgien, versteckte sich in einem Kloster, flüchtete nach Frankreich, überlebte das Camp Gurs und erreichte 1941 die USA. Gertrude Selsky starb 1996; ihr einziger Sohn Marvin R.Selsky verstarb 2014.Kurt und seine Eltern schifften sich am 25.11. auf der Statendam in Rotterdam nach New York ein; am 5.Dezember 1939 legte das Schiff in Hoboken an. Als die Passagiere die Freiheitsstatue erblickten, brachen alle in Tränen aus. Als Kurt am Land zum ersten Mal einen Schwarzen sah, glaubte er, dieser sei aus Schokolade.Rosalia (Rose) arbeitete in einer Fabrik und starb 1961; Salomon (Solomon) handelte mit Abfällen von Kürschnern in der Lower East Side und starb 1979. Beide sind wie Kurt auf dem Friedhof der Landsmannschaft der Haliczer in New Jersey begraben.In der Young Israel von  Bushwick lernte Kurt Rabbi Jacob London, Schüler von Rabbiner Dovid Leibowitz (1889 - 1941), kennen; bis zu dessen Tod blieb er engstens mit R.London, seinem "Rebbe", verbunden. Er sagte über ihn: „He knew me better than myself". 1941 feierte er in der kleinen Synagoge seines Vaters in der Mc Kibbinstreet seine Bar Mizwa. Sein letztes Schuljahr 1944 absolvierte er in der Eastern District High School in der Marcy Avenue. Ab September 1944 besuchte er die Chofez Chaim Yeshiva in Williamsburg; bis 1946 lernte er auch in der Mesifta Chaim Berlin in Brownsville. 1945 wurde er amerikanischer Staatsbürger. Als die schrecklichen Nachrichten aus Europa die USA erreichten, rannten die Yeshiva Bocherim von Synagoge zu Synagoge und sammelten Geld für die verfolgten europäischen Juden. 1946 begann Kurt ein Studium am Brooklyn College, musste es aber wegen der drohenden Einberufung in die Armee unterbrechen. Im Oktober 1946 schickte ihn Rabbi London deshalb in die von Moshe Rothenberg geleitete Yeshiva Chachme Lublin nach Detroit, wo er bis 1949 blieb. 1949/50 sandte ihn Rabbi London nach Kansas City, um Mordechai Jaffe beim Aufbau einer Yeshiva zu helfen.

Zurück in New York arbeitete er ab 1952 als Hebräischlehrer in der kleinen, 1929 erbauten, wunderschönen Synagoge Darech Amuno im Village, 53 Charles Street, in Manhattan. Als sein engster Freund, der Rabbiner und Journalist Yaakov Jacobs, von Darech Amuno nach St.Louis wechselte, wurde Kurt Mitte der fünfziger Jahre sein Nachfolger. Einer der Höhepunkte seiner Arbeit als Rabbiner war die Bar Mizwa des Enkels des jiddischen Schriftstellers Schalom Asch, Michael Asch. Schalom Asch erhielt eine Alija. Rabbi London entschied, dass dies so sein sollte, trotz der Kontroversen, die das Spätwerk von Asch überschatteten.

Von 1942 bis 1961 lebten die Eltern in den Williamsburg Settlement Houses, die vergleichbar sind mit den grossen Wiener Gemeindebauten. 1965/66 leitete Kurt dort eine Neighborhood Youth Group. Bis 1971 arbeitete er als Sozialarbeiter für die traditionsreiche Educational Alliance in der Henry Street in der Lower East Side. Dort arbeitete er auch für die Legal Services als Liaison zum Beth Din.  

1960 wurde Kurt Mitglied von Core (Congress of Racial Equality) in Brooklyn. Er ging in den Süden, um aktiv und unter Einsatz seines Lebens mit den Schwarzen gegen die Segregation zu kämpfen. Er sagte: "Black People are beautiful people". Martin Luther King, mit dem er einmal in einer Wohngemeinschaft lebte, versuchte er davon zu überzeugen, über die Pharisäer nicht abwertend zu predigen.

1962 nahmen 70 religiöse Führer in Albany, Georgia an einem anti-segregation Protest im dortigen Rathaus teil. Die Polizei nahm zehn Rabbiner fest. Einer von ihnen war Kurt Flascher; die Namen der anderen sind: Israel Dresner, Everett Gendler, Robert Goldberg, Bruce Goldman, Richard Israel, Jordan Oseyer, Sanford Shapiro und Lloyd Tennenbaum. Im September 1962 wurden diese zehn Rabbiner von Joachim Prinz bei einem Luncheon in New York geehrt; sie erhielten eine Schriftrolle, citing their „courage, devotion to liberty and fulfillment of the teaching of the prophets". 1963 war Kurt Teilnehmer des achttägigen Hungerstreiks in Dorson in Georgia. Allein gelassen in einer Gefängniszelle mit zwei Kriminellen kam er in eine prekäre Situation, aus der ihn Andrew Young, der spätere US Botschafter bei der UNO, rettete. 1963/64 liessen sich Core Aktivisten in New York als gespielte gemischte Paare von der Polizei verhaften. Zwischen den wichtigen Jobs hatte er auch immer Gelegenheitsjobs: Er vermittelte auf Hausbesuchen bei Familien Kinderfotos im Auftrag von Fotostudios, verkaufte Schirme vor Macys in Manhattan, bereiste in den fünfziger Jahren als Repräsentant der Firma Weinberg Kalifornien und Kuba, war Host in einem koscheren Restaurant in Brooklyn, Verkäufer in einem koscheren Deli auf der Upper West Side,  Chauffeur für ein Car Service (er nutzte diese Fahrten für rabbinische Diskussionen), Mitarbeiter in der Buchbinderei seines Schwiegervaters in der Mott Street, Anzeigenakquisiteur für das bis heute bestehende, freie Magazin „The Vues", Fundraiser für eine Yeshiva in Booklyn und (in den achtziger Jahren) für Rabbi Shlomo Carlebach, für dessen Moshaw Meor Modiim.

In den frühen siebziger Jahren leitete er das Brooklyn Office des World Jewish Congress und er arbeitete für das Israel Office von Young Israel. In dieser Funktion reiste er 1972 das erste Mal nach Israel. In diesem Jahrzehnt war er Mitglied der Synagoge „Young Israel of Flatbush" in Midwood in Brooklyn.

Nach seiner Pensionierung begann er erneut zu studieren, wieder am Brooklyn College und von 1993 bis 1996  am Kingsborough College. Er belegte unter anderen Kurse in political science, Geschichte und Musik und erhielt ein associate degree.

Kurt war zeit seines Lebens ein politischer Mensch und interessierter Zeitungsleser. Als junger Mensch stand er sehr links, aber 1976 rekrutierte ihn der 1934 geborene Politiker und Rabbiner Sheldon Farber, a „conservative republican", als Mitarbeiter seiner Wahlkampagne für den Senat von New York. Farber war sein Studienpartner in der Yeshiva; nach dem Wahlsieg wurde Kurt sein Büromitarbeiter. Der Senator kämpfte damals in seinem Büro in Howard Beach unweit des Kennedy Airports gegen die Concorde und blieb bis 1979 im Amt.

Ab Mitte der neunziger Jahre war Kurt Klient von Selfhelp; Heimhilfen erleichterten ihm den Alltag. Selfhelp organisierte neben Parties auch wöchentliche Besuche von Studenten und Studentinnen aus Deutschland. Mit ihnen diskutierte er die politischen Ereignisse und erzählte ihnen von seinem Leben. Obwohl er selbst bis in die neunziger Jahre jeden Groschen „Wiedergutmachung" abgelehnt hatte und mit Deutschland und Österreich nichts zu tun haben wollte verhalfen ihm diese Gespräche zu einem Haltungswechsel und er hatte einen sehr guten Eindruck von der neuen Generation.

Bis 2012 hat er Europa nicht wieder besucht und mit der Ausnahme von Reisen nach Kuba, oftmals nach Kanada und einigen Reisen nach Israel verliess er die USA nur selten. 2012 und 2013 kam er jedoch aus privaten Gründen wieder drei Mal nach Wien. Es war sein grosser Wunsch, das Grab seines Grossvaters am Zentralfriedhof noch einmal zu sehen; auf der Rückreise aus Israel im Jänner 2012 sah er das Grab. Der dritte Besuch fand im Rahmen einer Einladung des Jewish Welcome Service statt. Ab Oktober 2014 verliess er nicht mehr seine kleine Wohnung, er wurde immer schwächer und kam im Dezember in das Lutheran Medical Center in Brooklyn, von wo er in ein Krankenhaus in Staten Island transferiert wurde.

Leider führte er ein schweres und kein glückliches Leben. Mit zwei gescheiterten Ehen starb er kinderlos. Sein cholerisches Temperament, das viele verletzte und vieles zerstörte, machten das Leben für seine Freunde und für ihn nicht einfacher.

Kurt hatte eine leise Stimme und sprach ein wunderschönes Ivy League English; er liebt es, seine Gesprächspartner mit ausgefallenen englischen Worten zu testen. Aber auch das Jiddische liebte er. Nicht nur, dass er jiddische Bücher las, er besuchte jiddische Vorträge und Kurse im YIVO und im Workmens Circle und war ein Mitglied des Sholem Aleichem Centers in der  Bronx. Er hatte einen feinen, niemals zynischen oder schwarzen Humor; als stand up comedian war er ein Naturtalent. Er liebte auch die Natur, das Tanzen und Sport, besonders Schwimmen, Tauchen, Basketball und Wandern.

Er war ein Freund jedes Kindes, jedes freundlichen Menschen und jedes Tieres, die er auf den Strassen traf. Die Strassen von Boro Park, wo er in den letzten 15 Jahren lebte, werden ihn vermissen.