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Oberrabbiner David Feuchtwang (1864–1936)

Evelyn ADUNKA

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Der Wiener Oberrabbiner David Feuchtwang stand in der Erinnerung der Wiener Juden vielfach im Schatten seines grossen Vorgängers Zwi Perez Chajes.

2014 jährte sich Feuchtwangs Geburtstag zum 150. Mal. Aus diesem Anlass sei hier an diese bedeutende Person erinnert.

David Feuchtwang wird am 27. November 1864 in Nikolsburg (Mähren) als Sohn des auch säkular hochgebildeten, aus Pappenheim in Mittelfranken stammenden mährischen Landesrabbiners Meir Feuchtwang geboren. Als Student der Germanistik hat sein Vater Prinzessin Elisabeth in Bayern, die spätere österreichische Kaiserin Elisabeth, in deutscher Literatur unterrichtet und auf diese Weise ihre Vorliebe für den Dichter Heinrich Heine begründet.1 Meir Feuchtwang unterhält eine enge Freundschaft mit dem österreichischen Philosophen Wilhelm Jerusalem, der David im Gymnasium in Nikolsburg unterrichtet.2

Neben dem Gymnasialunterricht lernt David in der Jeschiwa seiner Heimatstadt. Er studiert an der Universität Wien Philosophie und Orientalistik sowie in dem von Adolf Jellinek gegründeten Beth Hamidrasch. Zur Fortsetzung seines Studiums geht er nach Berlin, wo er das orthodoxe Rabbinerseminar besucht und schliesslich in Assyrologie promoviert wird. Nach Beendigung seiner Studien unterrichtet er drei Jahre lang den Enkel von Rabbiner Meir Hildesheimer in Wien.

Ende 1891 erkrankt Oberrabbiner Adolf Jellinek schwer. Der Wiener Kultusvorstand muss sich in der Folge nach einer Vertretung umsehen und lädt, wie Rabbiner Moses Rosenmann in seinem 1931 publizierten Buch über Jellinek schreibt, „einen wohl talentierten, aber jungen, kaum flügge gewordenen Theologen" zu Gastpredigten nach Wien ein. Feuchtwang rezensierte das Buch und enthüllte bei dieser Gelegenheit,  dass es sich beim jungen Theologen um ihn handelte. Seine Predigten sind erfolgreich, dennoch hält er fest:

 „Meine "Jugend" war damals mein Fehler. Die Dinge waren so weit gediehen, dass meine Berufung unmittelbar bevorstand. Höhere (oder tiefere) Mächte griffen hindernd ein [...]."3

1892 wird David Feuchtwang als Nachfolger seines Vaters Rabbiner von Nikolsburg. Seine Heimatstadt ernennt ihn später zum Ehrenbürger.

Von 1900 bis 1903 korrespondiert Feuchtwang mit dem Wiener Oberrabbiner Moriz Güdemann; dieser lädt ihn ein, sein Assistent zu werden, um ihm schliesslich nachzufolgen. Etwas obskur schreibt Feuchtwang Jahre später, dass der Kultusvorstand bereits zugesagt habe, dass sich aber „Stimmen aus der Unterwelt" gemeldet und obsiegt hätten.4

1903 wird Feuchtwang zum Gemeinderabbiner von Wien berufen, wobei er zwischen dem 15. (Fünfhaus) und dem (sozial besser gestellten) 18. Bezirk (Währing) wählen kann: Er entscheidet sich für Währing.

Von 1900 bis 1906 veröffentlicht Feuchtwang vier Bände seiner gesammelten Kanzelreden.

Feuchtwang bekennt sich zeit seines Lebens offen zum Zionismus. 1904 hält er bei der offiziellen Trauerfeier des zionistischen Aktionskomitees für Theodor Herzl als einziger Rabbiner die Trauerrede.5

1907 veröffentlicht Feuchtwang in der Zeitschrft Die Wahrheit anonym die siebenteilige Serie Unsere Gemeinde. Unparteiische Betrachtungen, in denen er sich mit den damals brennenden Problemen auseinandersetzt: mit der mangelnden Achtung gegenüber Rabbinern und mit der Abfall- und Taufbewegung reicher, gebildeter Juden:

„Die Zahl der Taufen in unserer Gemeinde. Die gemeinen Taufen der Söhne reichgewordener Grossjuden, grossgewordener Reichsjuden. Die Väter sind als Juden Millionäre [...]. Die Enkel sind arisches Mischblut. Die Urenkel speien auf den Ahn, der ein Jude war; sie sind Stockjudenfeinde. Das passiert selbst berühmten Rabbinern und Predigern. [...] Ist Religion an sich in dieser entseelten Zeit als wertlos erachtet, so ist es Judentum, d.i. Religion kat exochen doppelt."6

In der letzten dieser Betrachtungen fasst Feuchtwang die tiefe religiöse Krise des Judentums mit folgenden Worten zusammen:

„[...] von einem aufrichtig und rechtschaffen zernierten Judentume ist überall kaum eine Spur. [...] Alles ist tief durchdrungen von der Ueberzeugung, dass der tote Punkt nicht überwunden ist. [...] Nichts führt die Gemeindekinder in die Tempel des Herrn, nichts zieht sie hin. Sie haben keine Religion." Während „die führenden Kreise der Gesellschaft [...] ihr Christentum offen und bei jeder Gelegenheit zur Schau bekunden und betonen", verhält es sich mit der Situation des Judentums ganz anders: „Anders bei uns Juden. In unserer Gemeinde herrschen in den gutsituierten Bürgerkeisen flatterhafter, morscher, fauler Atheismus; phrasenhafter, charakterloser Liberalismus von unten bis oben. - Vom Haupt bis zur Sohle. - Feigheit, greisenhafte Kraftlosigkeit, Ueberzeugungsschwäche. Die sogenannten innerlich Freien sind Sklaven des Egoismus; die Toleranten marklose Paktierer mit jeder Augenblicksströmung, ohne Lebensprogramm, ohne Rückgrat. Windiges Kosmopolitentum, vereint mit falschem, aufgeblasenem Universalismus, werden für bare Münze ausgegeben. Dahinter aber steckt gähnende Leere. Die intelligenten und wohlhabenden Juden verstecken oder verleugnen ihr Judentum."7

1908 verschärft Feuchtwang, diesmal unter  Angabe des Namens, seine Kritik am zeitgenössischen Judentum:

„Unser Judentum ist eben blutleer und unklar; unser Judentum ist kraftlos und weder religiös noch national; unser Judentum braucht Kraft und Mut; unser Judentum braucht Kraft zum Bejahen und Mut zum Verneinen; unser Judentum braucht Männer von eiserner Überzeugungstreue und von einer Tatkraft, die auf grosser, erkannter Tradition ruht; unser Judentum kann keine Schwätzer brauchen, die Pfauenräder schlagen; unser Judentum schreit nach Einheit und Vereinigung, wie der Hungrige nach Brot, wie der Durstige nach Wasser."8

1912 erhält Feuchtwang eine Berufung nach London, die er aber auf die Bitten seiner Gemeinde hin ablehnt.9

Neben seiner Tätigkeit als Rabbiner unterrichtet Feuchtwang am Wiener Religionslehrerseminar. Er ist Inspektor für Religionsunterricht an Mittelschulen, Obmannstellvertreter bzw. Obmann des Verbandes der israelitischen Religionslehrer an österreichischen Mittelschulen. Ab 1911 arbeitet er als wissenschaftlicher Redakteur für die 1920 eingestellte Zeitschrift Freie Jüdische Lehrerstimme. Monatsschrift für die Pflege der Interessen des Judentums in Schule und Haus. Organ des „Österr.-Israelit. Religionslehrerbund".

Er ist Mitarbeiter der Monumenta Judaica, Vizepräsident des Vereins für jüdische Geschichte und Literatur, Vorstandsmitglied der jüdischen Völkerbundliga, Mitglied der Vorderasiatischen Gesellschaft und der Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums.

Feuchtwang publiziert zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten, vor allem in der Monatsschrift für die Geschichte und Wissenschaft des Judentums. 1933 veröffentlicht Moritz Rosenfeld in Die Stimme eine Würdigung seines literarischen Schaffens.10

1917 erscheint seine überaus weitsichtige und prophetische Abrechnung mit den antisemitischen Tendenzen der zeitgenössischen christlichen Bibelwissenschaft. Anlass dazu gibt der Freispruch des antisemitischen Ideologen Theodor Fritsch mithilfe eines Gutachtens des Theologen Rudolf Kittel:

„Fritsch ist ein ebenso unwissender als böswilliger Feind. [...] Gegen ihn mit wissenschaftlichen Waffen zu kämpfen, hiesse die Wissenschaft prostituieren. [...] Dass Fritsch unter Juden die Juden der Gegenwart versteht, ist ausser Zweifel und Frage [...] Die wissenschaftliche Judenverfolgung ist in ein System gebracht worden. Auf Kanzeln und Kathedern haben nichtjüdische Theologen, Philologen, Archäologen, Philosophen, Judenhetzen in kleinem oder grossem Massstabe betrieben und betreiben sie bis zum heutigen Tage. Die protestantische Exegetenschule hat mit geringen Ausnahmen sanft oder hart die Feder gegen das Judentum und seine alte und neue Literatur geführt. Selbst die grössten führenden Geister, vor deren Gelehrsamkeit man uneingeschränkt Beispiel empfindet und deren Werke uns zahlreiche Wissensschätze gespendet haben, sind davon nicht ganz freizusprechen."11

Feuchtwang ist mit den beiden bedeutendsten Wiener jüdischen Schriftstellern seiner Zeit, mit Arthur Schnitzler und Richard Beer-Hofmann, eng befreundet; 1903 traut er Schnitzler und Olga Gussmann. Theodor Lassner berichtet von stundenlangen Spaziergängen, die Feuchtwang und Schnitzler unternahmen:

„Schnitzler besprach seine Arbeiten mit ihm und nahm lebhaften Anteil an den geistlichen und geistigen Problemen David Feuchwangs."12

Schnitzler erwähnt den Rabbiner oft in seinen Tagebüchern. Interessant ist etwa folgende Bemerkung:

„Dr. Feuchtwang (der auch sehr für Reformen ist aber sie für unmöglich hält) [...]."13

Feuchtwang verfasst einen langen Aufsatz über Beer-Hofmanns Stück Jaakobs Traum, der 1919 in der Freien Jüdischen Lehrerstimme veröffentlicht wird. 14

Feuchtwang ist Mitglied der Bnai Brith Loge „Eintracht", für die er zahlreiche Vorträge hält, zum Beispiel über Goethe und Josef Popper Lynkeus. 1927 veröffentlicht er in den Bnai Brith Mitteilungen für Österreich einen Aufsatz über Franz Werfels Stück Paulus unter den Juden.14

Feuchtwang ist auch Freimaurer; ab 1912 führt ihn die Grenzloge „Lessing Zu den 3 Ringen" als Mitglied.15

1933 beschreibt er in einem Artikel über Bialik die Partizipation an der europäischen Kultur und Literatur bei gleichzeitiger ungebrochener Verbundenheit mit der jüdischen Tradition, die dessen Leben und Wirken auszeichnen, mit den Worten:

„Der "jüdische Mensch" kann nur auf diesem Wege und mit diesen Mitteln erhalten bleiben: als vollwertiger Mann und Jude. Weder kann uns die vielgerühmte europäische, noch auch die amerikanische, oder eine der asiatischen Kulturen Ersatz für Judentum sein. Allzuviel Wesensfremdes, Feindliches gehört zu deren Grundbesitz. Was in ihnen der Menschheit dient, die Geistesbildung hebt, die Versittlichung vertieft, wir nahmen und nehmen es begeistert in uns auf. Wir wollen aber "jüdische Menschen" bleiben."16

Dieser Artikel führt zurück zu Feuchtwangs Engagement für den Zionismus, zu dem er sich immer wieder bekennt.

1924 wird er erster Präsident der österreichischen Landeszentrale der Misrachi, die er mitbegründet hat, später wird er deren Ehrenpräsident. 1934 ist er Prorektor des Jüdischen Jugendhilfswerks.17

1925 schreibt er anlässlich der Eröffnung der Hebräischen Universität, sie sei „ein neues Kraftzentrum ersten Ranges, das nicht nur dem jüdischen Volke, sondern der ganzen Welt zum Segen gereichen kann. Getragen vom Geiste absoluter Wahrheit und Menschenliebe, gefeit gegen jeden verderblichen Einfluss durch blinde Liebe oder blinden Hass, wird hier geforscht, gelehrt und gelernt werden."18

1933 unterstreicht Feuchtwang anlässlich des Zionistenkongresses in Prag in der Tagespresse die grundsätzlich patriotische Haltung der Zionisten:

„Und gerade die Juden Oesterreichs waren in allen Zeiten und sind in der Gegenwart die treuesten Hüter der Vaterlandsliebe. Insbesondere gehören die zionistischen Vertreter zu den allerloyalsten Patrioten. Denn es liegt im Wesen des Zionismus, wegen seiner jahrtausendealten Treue dem historischen Vaterland Palästina gegenüber die potenzierte Eignung zu unentwegter Loyalität dem jetzigen Vaterland gegenüber zu besitzen."19

Im Juni desselben Jahres wird der bisherige Gemeinderabbiner von Währing vom Wiener Kultusvorstand einstimmig zum Oberrabbiner des Stadttempels und damit zum Oberrabbiner von Wien ernannt. Gleichzeitig wird Israel Taglicht, Gemeinderabbiner des 15. Bezirks, zum Oberrabbiner des Leopoldstädter Tempels in der Tempelgasse. (- Offenbar erachtete man die beiden Rabbiner als gleichrangig und wollte niemanden bevorzugen.)

In seiner Antrittsrede plädiert Feuchtwang angesichts der Feindseligkeiten in Deutschland für „die grösste Einigkeit aller Richtungen"; er verspricht, dass er „seine besten Kräfte einsetzen" werde, „dass Konservative mit Liberalen, Anhänger aller Gruppen einhellig zusammenwirken."20

Feuchtwangs Predigten und Artikel, die er als Oberrabbiner verfasst und über die auch oft in der Tagespresse berichtet wird, zeichnen sich durch deutliche und mutige Stellungnahmen zu aktuellen heiklen Fragen aus.

Zu Rosch Haschana 1935 kommentiert er die Vorgänge in Deutschland nach der Einführung der Nürnberger Gesetze und das beschämende jüdische und nichtjüdische Schweigen dazu. Er macht sich auch keine Illusionen über das Verhalten der Kirche:

„Unsere jüdischen Brüder und Schwestern in Deutschland sind durch die soeben beschlossenen Judengesetze tödlich verwundet. Die Ehre nicht allein der Judenschaft Deutschlands, sondern der ganzen Welt ist besudelt und beleidigt. Die Diffamierung ist allgemein, so dass die Juden der ganzen Welt ihre Ehre verteidigen müssen. Wir wollen es unerschrocken und machtvoll tun. Kein Volk der Welt, keine Regierung, kein Staatsmann. kein Denker, kein Dichter tritt als Verteidiger der jüdischen Ehre auf. [...] Warum schweigt Ihr!? Und ist nicht die ganze christliche Welt beschimpft und beleidigt durch die Entrechtung der Judenheit und des Judentums. Auch sie kann, darf und wird nicht schweigen. [...] Es ist die Pflicht der Völker, welche den Anspruch darauf erheben, Kulturvölker zu sein, mit mächtiger Hand einzugreifen, damit sie nicht selbst von dieser Pestilenz und Seelenerkrankung ergriffen werden, die in der ganzen Welt Herde hat."21

Im Mai 1936 besucht er die Schweiz; dort gibt er dem in Wien gebürtigen Journalisten Oscar Grün ein Interview, das überaus kritische und bemerkenswerte Beobachtungen zur Lage der österreichischen Juden enthält:

„Das österreichische Volk gehört von Natur aus sicherlich zu den gutmütigsten und in jeder Beziehung tolerantesten von ganz Europa. Die internationale, leider in mancher Beziehung vergiftete Lage brachte es jedoch mit sich, dass sich in einzelnen Parteien gewisse für die Juden unfreundliche Tendenzen herausschälten und, leider, auch zu entwickeln vermochten."22

Am 5. Juli 1936 stirbt Feuchtwang unerwartet im Alter von 72 Jahren.

In seiner Grabrede meint Rabbiner Arthur Zacharias Schwarz über seinen Vorgänger, dass er Parteienhader „stets durch die Kraft seiner Persönlichkeit gebannt" habe.23 Der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien Desider Friedmann betont in seiner Rede: „Nächstenliebe, Friedfertigkeit und Erbarmen waren ihm höchste menschliche und religiöse Pflicht, Wahrheit und Sittlichkeit das Ziel seiner Arbeit."24 Theodor Innitzer kondoliert mit den Worten:

„Der Hingegangene war ein sittlich hochstehender, feingebildeter Mann, dem niemand die Achtung versagen konnte, stets hilfsbereit und edel denkend."25 Der zionistische Rechtsanwalt und Schriftsteller David Rothblum nennt Feuchtwang den „gütigsten" Mann, „dem jemals die geistige Führung der Wiener Judengemeinde anvertraut war. Denn unter den hervorragenden menschlichen Eigenschaften, die den heimgegangenen Oberrabbiner zierten, war die Güte dominierend. [...] jene grosse, edle, himmlische Güte, mit der er alles, was im Judentum atmete und lebte, umfangen hat. [...] Er gab, schenkte, tröstete, beriet, richtete auf, niemand verliess enttäuscht sein Haus, keiner klopfte vergebens an seiner Türe. Jedem leuchtete sein schönes und edles Gesicht entgegen. Er konnte ein Freund sein wie selten einer. [...] Seine Predigt war nie banal, nie trocken und auch nicht salbungsvoll, aber immer belebend, erbauend, bekehrend und erquickend. Er sprach ruhig, elegant, schöpfend aus einer unversiegbaren Rhetorik, aus der Quelle seines breiten Wissens, seiner grossen allgemeinen Bildung und der tiefen Kenntnis jüdischen Schrifttums. [...] Keiner von den lebenden Rabbinern der zweitgrössten Judengemeinde auf dem Kontinent hat sich so offen und mutig zum Zionismus bekannt wie er."26

Theodor Lassner nennt Feuchtwang in der später auch gedruckten Gedenkrede in der Trauersitzung der Bnai Brith einen „Theologen von Weltruf", dessen Bibliografie 300 wissenschaftliche Titel umfasst, und einen „Rabbiner aus Leidenschaft":

„Er lehrte Jung und Alt die Liebe und Verehrung zu unserer grossen jüdischen Vergangenheit, zur Bibel, er lehrte Achtung und Wertschätzung unserer Traditionen [...] Und er lehrte nicht zuletzt die Liebe zu Zion. [...] Wie Feuchtwang lehrte, wie er wirkte, so lebte er. [...] Seine Frömmigkeit war tief und echt. Darum war sie mit echter Toleranz verbunden."

Lassner schildert Feuchtwangs Liebe zur Natur (ein Erbe seines Vaters, der auch Vorsitzender der botanischen Gesellschaft Mähren war) und beschreibt die Genugtuung, die ihm die späte Berufung in sein hohes Amt bereitet hat:

„Die einstimmige Wahl und Bestellung zum Oberrabbiner Wiens bildete die eigentliche Erfüllung seiner Lebensarbeit, seines Lebenswunsches. [...] Wie durch ein Wunder erblühte der leidende Mann, neubelebt durch sein Amt, das ihm alles bedeutete."27

1964 publiziert der Präsident der IKG Ernst Feldsberg in Die Gemeinde eine Würdigung zu Feuchtwangs 100. Geburtstag. Feldsberg, ein Schüler Feuchtwangs in Nikolsburg, ist als junger Kultusvorsteher der (damals antizionistischen) Union mitverantwortlich gewesen für seine Wahl zum Oberrabbiner.28

1892 heiratet Feuchtwang Jeanette Dünner, Tochter des Kölner Talmudisten Wolf Isaak Dünner und Nichte des holländischen Oberrabbiners Josef Zwi Dünner. Wegen dieser Ehe und auch wegen der Eheschliessung der gemeinsamen Tochter Erika mit dem Oberrabbiner von Rotterdam Bernhard Davids fühlt er sich dem holländischen Judentum sehr verbunden, über das er wiederholt publiziert.29  So veröffentlicht er 1900 einen Nachruf auf seinen Schwiegervater Wolf Isaak Dünner.30

Die Witwe Jeanette Feuchtwang-Dünner wird in das KZ Bergen-Belsen deportiert, ist aber unter jenen dreihundert Gefangenen, die 1944 gegen deutsche Zivilisten in Haifa ausgetauscht werden. Sie stirbt im April 1945 in Palästina.31

Das Ehepaar Feuchtwang hat zwei Söhne und zwei Töchter. Benno Feuchtwang lebt ab 1936 in Palästina, wo er die Orient Shipping Agency leitet. Wilhelm Feuchtwang lebt in Berlin, in Holland und nach 1945 als Industrial Consultant und Patent Broker in London. 1936 heiratet er die Berlinerin Eva Itzig, die nach der Scheidung mit ihrem neuen Mann Walter Neurath in London den Thames&Hudson Verlag gründet. Henriette (Henni) heiratet 1926 den Judaicasammler Heinrich Feuchtwanger und lebt in München. Erika verlässt Wien 1924 und heiratet den bereits erwähnten späteren Oberrabbiner von Rotterdam Bernhard Davids. Ihr Mann und Sohn kommen im KZ Bergen-Belsen um. Sie überlebt und wandert 1948 nach Israel aus, wo sie eine Schule der Misrachi in Tel Aviv leitet.

Anmerkungen

1 Die Wahrheit, 30.11.1934, 17.7.1936. 2 Vgl. Menorah, Heft 2-3, 1923. 3 Die Stimme 25.6.1931. 4 Ebd. 5 Die Wahrheit, 15.7.1904. 6 Die Wahrheit 25.4.1907, 17.5.1907, 14.6.1907. 7 Die Wahrheit 22.11.1907. 8 Die Wahrheit 31.1.1908. 9 Bnai Brith Mitteilungen für Österreich, November-Dezember 1936, S. 204. 10 Die Stimme, 5.7.1933. 11 Freie jüdische Lehrerstimme 15.7.1917. Vgl. Christian Wiese: Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie im wilhelminischen Deutschland. Ein Schrei ins Leere. Tübingen 1999, S. 234f. 12 Bnai Brith Mitteilungen für Österreich, November-Dezember 1936, S. 200. 13 Bettina Riedmann, „Ich bin Jude, Österreicher, Deutscher. Judentum in Arthur Schnitzlers Tagebüchern und Briefen. Tübingen 2002, S. 143. 14 Freie jüdische Lehrerstimme 15.3.1919. 15 Günter K. Kodek: Unsere Bausteine sind die Menschen. Die Mitglieder der Wiener Freimaurerlogen (1869-1938). Wien 2009, S. 87. 16 Die Stimme 12.1.1933. 17 Wiener jüdisches Familienblatt 15.2.1934. 18 Jüdische Wochenschrift 27.3.1925. 19 Neues Wiener Journal 25.8.1933. 20 Misrachi 3.10.1933. 21 Die Stimme 27.9.1935. 22 Jüdische Pressezentrale 8.5.1936. 23 Die Stimme 10.7.1936. 24 Jüdische Pressezentrale 17.7.1936, Neue Freie Presse 8.7.1936. 25 Die Stimme 10.7.1936. 26 Die Stimme 7.7.1936. 27 Bnai Brith Mitteilungen für Österreich, November-Dezember 1936, S. 194, 204. 28 Die Gemeinde 30.11.1964. 29 Menorah, Mai 1925. 30 Dr. Blochs Österreichische Wochenschrift, 19.1.1900. 31 Vgl. A. N. Oppenheim: The Chosen People. The Story of the "222 Transport" from Bergen-Belsen to Palestine. London 1996, S. 189.