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Die leuchtende Bilderwelt der Florine Stettheimer

Claus STEPHANI

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Sie war eine ungewöhnliche Frau und eine eigenwillig faszinierende Künstlerin - Florentine Stettheimer (1871-1944), die amerikanische Malerin, Designerin, Bühnenbildnerin und Dichterin, die als Tochter des Bankiers Joseph Stettheimer aus einer wohlhabenden deutsch-jüdischen Familie stammte. Im Kunstbau der Städtischen Galerie im Lenbachhaus, München, wurde zum 70. Todestag der Künstlerin, erstmals ausserhalb der USA und in Europa, eine grosse Retrospektive gezeigt, die „eine repräsentative Auswahl von zentralen Gemälden" vereinte.

Nach Studienreisen durch Italien, Spanien, Frankreich, Deutschland und in die Schweiz besuchte sie drei Jahre lang die Art Students Leaque of New York, zu deren Lehrern damals, neben anderen Kunstpädagogen und Künstlern, George Grosz, Ossip Zadkine, Morris Kantor und Lucian Bernhard (Emil Kahn) gehörten. Von den Schülern wurden später Helen Frankenthaler, Roy Lichtenstein, Robert Rauschenberg, Mark Rothko (Marcus Rothkowitz) u.a. international bekannt; und aus dieser Gemeinschaft kamen auch die bedeutendsten Vertreter des Abstrakten Expressionismus, des amerikanischen  Action Painting und der Farbfeldmalerei (Colorfield Painting), wie Miriam Schapiro,  Michael Goldberg, Adolph Gottlieb, Ad Reinhardt und Harry  Holtzman sowie der Begründer des meditativen Expressionismus Barnett (Baruch) Newman.

Als in Europa 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, liess sich Florine Stettheimer endgültig in New York nieder und initiierte hier, zusammen mit ihren Schwestern Stella und Ettie, einen Künstler-Salon, wo sich bald die Elite der Avantgarde und der schillernden künstlerischen Society einfand. Dazu gehörten die Malerin Georgia OKeefe, die Freundin des bekannten Fotografen und Galeristen Alfred Stieglitz, der Objekt-Künstler Marcel Duchamp, der Fotograf Edward Steichen, der Kunstsammler und Maler Baron Adolph de Meyer und andere. Es waren Repräsentanten einer Szene, die damals nachhaltig von aus Europa stammenden Künstlern geprägt wurde - denkt man an Steichen, Rothko, Zadkine, Stieglitz,  Meyer, Morris Kantor und Larry Rivers  (Yitzhok Loiza Grossberg), einer der Gründerväter der Pop-Art, sowie an andere Amerikaner „mit Migrationshintergrund", wie es im heutigen Sprachgebrauch heissen würde.

In diese elitäre Reihe von Vertretern moderner Kunstbestrebungen gehört auch Florine Stettheimer und ihre berauschende Bilderwelt, die von den beiden Münchner Kuratorinnen der Ausstellung, Karin Althaus und Susanne Böller, am Beispiel von Gemälden, Zeichnungen, Objekten und Lyriktexten vorgeführt wird. Es sind kreative Belege - farblich verschwenderisch gestaltet - aus dem „malerischen Oeuvre ab 1915," als die Künstlerin „ihren eigenwilligen Stil" bereits „voll ausgebildet hatte."

Beim Betrachten dieser Bilder scheint sich einem ein Whos Who der New Yorker Kunstszene in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu öffnen, denn immer wieder sind es herausragende Repräsentanten aus Stettheimers Bekannten- und Freundeskreis, die kompositionell zu einem farbigen Ensemble vereint werden. Bezeichnend dafür ist  z.B. das Gemälde „Lake Placed" (1919, eine Leihgabe des Museum oft Fine Arts, Boston), auf dem der Maler Maurice Sterne, der Bildhauer Elie Nadelman und der Wirtschaftswissenschaftler Prof. Edwin Seligman abgebildet sind. Oder „Asbury Park South" (1920, eine Leihgabe der Sammlung Michael Rosenfeld, New York), wo Marcel  Duchamp mit der Schauspielerin Fenia Marianoff zu sehen ist. Es sind Spiegelungen aus einer Art world, einer Welt, die der Kunstsoziologe Howard Saul Becker als „Netzwerk" beschreibt, das durch „gemeinsames Wissen", kreative Tätigkeiten und Interessen verbunden ist.

Aus dieser pulsierenden Kunstwelt, in der die Salonnière Florine Stettheimer „das Partyleben der Celebrities, Wolkenkratzer, die Wall Street und Konsumkultur" malte, kamen auch die ersten Anregungen zur Pop Art. Larry Rivers, der „Polarstern" dieser Kunstrichtung (Wolfgang Niedecken) und Andy Warhol standen im Bann der Künstlerin. Zu Marcel Duchamp, dem Objektkünstler und Mitbegründer des Dadaismus und Surrealismus, pflegte Florine Stettheimer eine besondere geistige Beziehung, wie eine Reihe seiner zwischen 1923 und 1925 entstandenen Porträts zeigen - darunter Duchamps vieldeutiges, weibliches Alter ego „Rose Sélavy", eine vom Künstler selbst geschaffene Kunstfigur.

Neben dem malerischen und zeichnerischen Werk ab 1915, „als Stettheimer ihren eigenwilligen Stil voll ausgebildet hatte", präsentierte die Ausstellung auch Stettheimers Bühnenbild- und Kostümentwürfe für das Ballett „Orphée of the Quat-z-Arts" (1912) und eine Folge von Fotografien einer  Performance von Gertrude Steins Oper  „Four Saints in Three Acts" (10. März, 1934) aus dem Nachlass Carl van Fechten. Die Berliner Bühnen- und Kostümbildnerin Kathrin Frosch gestaltete den Ausstellungsraum, „inspiriert von Stettheimers Kunst der Inszenierung", und der New Yorker Maler und Bildhauer Nick Mauss widmete Stettheimers Lyrik eine eigene Installation. An einer Wand gegenüber konnte man lyrische Texte der Künstlerin lesen  - in Englisch und in Deutsch. Darunter auch das schlicht tiefsinnige Gedicht „Eintagsfliege":

„Ich durchbrach das schimmernde Spinnennetz.

Dort sass eine Eintagsfliege fest.

Ich befreite die zierlichen Flügel und Beine

Aus der klebrig-verhedderten Leine.

Sie bleib bei mir einen Sommer lang.

Dann flog sie davon."

Von Florine Stettheimer befinden sich heute 126 Arbeiten in der Sammlung des New Yorker Museum oft Modern Art (MoMA), wo Marcel Duchamp zwei Jahre nach ihrem Tod (1946) eine erste posthume Retrospektive organisierte. Seither konnte man ihr Werk als grosse Einzelausstellung noch im Whitney Museum of American Art (New York), eine der wichtigsten Sammlungen amerikanischer Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts, sehen. Die Werkschau im Kunstbau des Lenbachhauses, München, war die erste Wiederkehr der Künstlerin nach Europa.