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Holocaust und Gedenken in Lettland (Teil I)

Martin MALEK

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Es gibt widersprüchliche Angaben über den Zeitpunkt der Ankunft von Juden auf dem Territorium des heutigen Lettland. Jedenfalls beging man im Jahr 2011 „450 Jahre jüdische Gemeinde in Lettland“. Vor dem Zweiten Weltkrieg war die kleine, ab 1918 unabhängige baltische Republik ein „weithin bekanntes Zentrum jüdischen Lebens und jüdischer Kultur – wovon nichts übriggeblieben ist als blutdurchtränkter Boden, und die Erinnerung.“1

 

Lettland kannte in der Zwischenkriegszeit nur wenige Juden im öffentlichen Dienst, doch waren dort auch andere nationale Minderheiten wie Deutsche, Russen und Polen kaum vertreten. Einen staatlich geförderten Antisemitismus gab es nicht, wenngleich der in den 1920er und 1930er Jahren allgemein zunehmende Nationalismus um Lettland (und seine baltischen Nachbarn Estland und Litauen) keinen Bogen machte. Das schlug sich unter anderem ab 1932 in den Aktivitäten der faschistischen Organisation Ugunskrusts (Feuerkreuz) bzw. Pērkonkrusts (Donnerkreuz) nieder, die 1934 verboten wurde. Der Volkszählung von 1935 zufolge lebten 93.479 Juden in Lettland (rund 5% der Gesamtbevölkerung), davon fast 43.700 (11,3%)  in der Hauptstadt Riga. Auch der historisch interessierten Öffentlichkeit ist kaum bekannt, dass Lettland eines der wenigen Länder war, die bis 1940 Juden aus dem Deutschen Reich auch ohne Visum einreisen ließen. Lettland nahm ungeachtet intakter diplomatischer Beziehungen zu Hitlerdeutschland 1938 bis 1940 eine für Fläche und Einwohnerzahl überproportional große Zahl jüdischer Flüchtlinge auf, nämlich rund 3.500 Personen.2 Für sie war Lettland aber meist nicht das gewünschte Endziel, sondern eine Zwischenstation auf dem Weg nach Frankreich, Großbritannien oder in die USA.

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Am Eingang des Jüdischen Museums in Riga.

Der Holocaust in Lettland: Ablauf und Opfer

Aufgrund der Geheimprotokolle zum Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939 besetzte die sowjetische Rote Armee ab 17. Juni 1940 Lettland. Unverzüglich begannen Sowjetisierung, Repressionen und Deportationen. Dieses im lettischen Diskurs so genannte (bis zum deutschen Einmarsch gerechnete) „Jahr des Horrors“ trug bei Teilen der ethnisch lettischen Bevölkerung zweifellos dazu bei, die unablässige antisemitische Propaganda der deutschen Besatzungsmacht auf fruchtbareren Boden fallen zu lassen als das andernfalls vermutlich der Fall gewesen wäre; und so zeigten sich nicht wenige Letten – entgegen aller Fakten – bereit zu glauben, dass es sich beim Sowjetsystem um eine „jüdische Angelegenheit“ handelte.3

Die Wehrmacht besetzte im Zuge ihres Angriffs auf die Sowjetunion ab 22. Juni 1941 Lettland bereits in der ersten Juliwoche. Das für Riga zuständige deutsche Einsatzkommando, das die Vernichtung der Juden durchführen sollte, traf schon am 3. Juli ein. Insgesamt richteten die Deutschen auf dem Gebiet Lettlands 18 Ghettos ein; die meisten bestanden aber nur einige Tage oder Wochen. Alle Juden Rigas mussten in ein Ghetto am Stadtrand, genannt Moskauer Vorstadt, umziehen, was bis 25. Oktober 1941 abgeschlossen war; dort saßen dann bis zu 30.000 Menschen unter abenteuerlichen Umständen ein. Bei zwei großen „Aktionen“ am 30. November und 8. Dezember 1941 ermordeten SS-Angehörige mit Hilfe lettischer Kollaborateure im Wald von Rumbula, 12 Kilometer südlich von Riga, die meisten Juden des Ghettos sowie rund 1.000 deutsche Juden; die vorhandenen Zahlen liegen überwiegend zwischen 25.000 und 27.500. Auch der berühmte Historiker Simon Dubnow, Verfasser einer 1925 bis 1929 in deutscher Übersetzung veröffentlichten zehnbändigen Weltgeschichte des jüdischen Volkes, der vor den Nazis aus Berlin geflohen war und ab 1933 in Riga gelebt hatte, kam um. Zwischen November 1941 und Winter 1942 wurden aus dem Gebiet des damaligen Deutschen Reiches mit etwa 28 Transporten mehr als 25.000 Juden in den baltischen Raum, und in erster Linie nach Riga, deportiert; von ihnen überlebten nur 3 bis 4%.4 Die kranken und nicht arbeitsfähigen deutschen Juden selektierte die SS nach ihrer Ankunft und ermordete sie im Wald von Biķernieki. Dort kamen 1941 bis 1944 mindestens 35.000 Menschen um, davon ca. 20.000 Juden aus Lettland, Österreich, Deutschland und der Tschechoslowakei.5 Arbeitsfähige Juden wurden in Salaspils zum Aufbau des dortigen Lagers eingesetzt. Transporte selektierter jüdischer Gefangener aus Salaspils wurden von der SS ebenfalls zur Erschießung nach Biķernieki überführt.

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Bekannte lettische Juden; Jüdisches Museum Riga.

An der Wannsee-Konferenz am 20. Jänner 1942 nahm auch der Jurist und SS-Sturmbannführer Rudolf Lange, ein besonders bösartiger Judenhasser, Kommandeur der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes des Reichsführers-SS (SD) für den Generalbezirk Lettland, als Vertreter des Befehlshabers der Sicherheitspolizei und des SD für das Reichskommissariat Ostland (zu dem Lettland gehörte) teil. Es hieß, dass für die „Endlösung der europäischen Judenfrage […] rund 11 Millionen Juden in Betracht“ kämen, davon noch 3.500 in Lettland (Estland war bereits „judenfrei“, für Litauen wurden 34.000 noch lebende Juden genannt).6 Das kann nur bedeuten, dass die anderen Juden Lettlands (mit der Ausnahme jener, die flüchten konnten oder sich versteckt hielten) bereits tot waren.

Die Ermittlung der genauen Zahl der Opfer des Holocaust in Lettland war (und ist) Gegenstand zahlreicher Forschungsprojekte, die an dieser Stelle unmöglich rekapituliert und verglichen werden können. Prof. Aivars Stranga von der Lettischen Historikerkommission unterschied drei Opfergruppen: 1) Juden, die sich zum Zeitpunkt des Beginns der deutschen Besatzung in Lettland befanden – von diesen wurden zwischen 65.000 und 70.000 ermordet; 2) aus dem Deutschen Reich (inklusive Österreich und Böhmen) nach Lettland deportierte Juden – von diesen wurden ca. 20.000 getötet; 3) über 1. 000 Juden aus Litauen, die nach dem Beginn des deutschen Einmarsches in die UdSSR nach Lettland geflohen waren, es aber nicht mehr geschafft hatten, weiter ins Innere der UdSSR zu gelangen; und die 1941 bis 1944 aus dem besetzten Litauen in das (1943 bis 1944 bestehende) Lager Riga-Kaiserswald (wo es keine Gaskammern gab) transportierten Juden. – Damit würde die Gesamtzahl der jüdischen Opfer des Holocaust in Lettland bei ca. 90.000 liegen.7 Diese Zahl findet sich auch in zahlreichen anderen Untersuchungen.

Mit dem Vordringen der Roten Armee nach Westen und der damit verbundenen Annäherung der Front an das Baltikum 1944 begannen SS und Polizei mit der Verlegung der in ihrer Gewalt befindlichen Juden. Sie wurden zunächst in das KZ Stutthof bei Danzig (heute Gdańsk, Polen) getrieben; dann folgten meist Fußmärsche, bis sie die Rote Armee einholte und befreite. 1944/45 kehrte die Sowjetmacht in das Baltikum zurück; die „zweite Sowjetzeit“ Lettlands endete erst 1990, im Jahr darauf stellte es seine international anerkannte Unabhängigkeit wieder her.

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NS-Karte über die ermordeten Juden im Baltikum; Jüdisches Museum Riga.

Lettische Beteiligung am Holocaust

Ein besonders sensibles und bis heute kontrovers diskutiertes Thema ist die Beteiligung der örtlichen lettischen Bevölkerung an der Judenvernichtung durch die deutschen Besatzer. Umstritten in der Forschung ist unter anderem die Frage, ob die Judenpogrome in der kurzen Zeit zwischen dem Abzug der Sowjets und der Ankunft der Deutschen in Lettland im Juni/Juli 1941 „spontan“ von der Bevölkerung verübt oder aber bereits von deutschen SD-Einheiten organisiert worden waren, um den Eindruck von „tiefem Hass“ der Letten auf die Juden hervorzurufen. Allerdings dürfte das „Interregnum“ zwischen dem sowjetischen Abzug und dem deutschen Einmarsch nirgendwo viel länger als einen Tag gedauert haben.

Die antisemitische deutsche Propaganda in Lettland in Gestalt von Plakaten, Ausstellungen, Zeitungsartikeln usw. schob „den Juden“ pauschal von den sowjetischen Behörden 1940/41 in Lettland begangene Verbrechen in die Schuhe. Das Okkupationsmuseum in Riga macht in seiner Ausstellung deutlich, dass die deutschen Besatzer bestrebt waren, möglichst viele Letten in die Judenvernichtung einzubeziehen. Die örtliche lettische Sicherheitspolizei ließ sich schnell davon überzeugen, dass Einsätze gegen die jüdische Bevölkerung ein wesentlicher Teil des Kampfes gegen den Kommunismus seien; diese Polizei war laut dem Historiker David Feest

„ein fester Bestandteil des Systems, das den Holocaust im Baltikum durchführte. Dasselbe gilt auch für einige der Polizeibataillone, die unter unterschiedlichen Bezeichnungen in den baltischen Republiken gegründet wurden. Sie erfüllten Aufgaben innerhalb der Landesgrenzen, wo sie unter anderem Ghettos und Konzentrationslager bewachten, in vielen Fällen aber auch an der Verschleppung und Erschießung von Juden beteiligt waren.“8

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Anordnung der NS-Besatzungsbehörden in Lettland.

Berüchtigt war insbesondere die nach ihrem Anführer Viktors Arājs (1910–1988) benannte Sicherungsgruppe Arājs (auch Kommando Arājs oder Sonderkommando Arājs). Zunächst nur 100 Freiwillige stark, wuchs sie bis Ende 1941 auf 300 und dann, 1942, auf 1.200 an.9 Diese Einheit, die dem SD unterstellt und Lange persönlich rechenschaftspflichtig war, mordete in Lettland und, ab 1942 (als die große Mehrheit der lettischen Juden nicht mehr lebte), im benachbarten Weißrussland; Opfer waren vorwiegend Juden, doch auch Roma, Geisteskranke sowie (angebliche und tatsächliche) Kommunisten. Arājs Truppe hat Schätzungen zufolge mindestens 26.000 Menschen getötet. 

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Antisemitische Propaganda im NS-besetzten Lettland.

1  Bernhard Press: Judenmord in Lettland 1941 – 1945. Berlin, 1995, S. 9.

2  Eine wichtige Rolle spielte dabei der Abgeordnete des Parlaments (Saeima), Mordechai Dubin, ein Freund des (autoritär regierenden) Staatspräsidenten Kārlis Ulmanis. Dubin wurde 1941 von den sowjetischen Besatzern nach Sibirien deportiert und starb 1956 in einem Arbeitslager.

3  Der erste Leiter (1940–41) eines sowjetischen Gefängnisses in Riga war der Jude V. G. Zevin. Eine halbamtliche Geschichte Lettlands merkte dazu an: „Although Zevin was almost the sole Jew working in the prison, his prominence was a source for rumours about ‚the Jews – Chekists’ [= Mitarbeiter der sowjetischen Geheimpolizei]“ (Daina Bleiere u.a.: History of Latvia – the 20th Century. Riga, 2006, S. 249).

4  Wolfgang Scheffler: Zur Geschichte der Deportationen jüdischer Bürger nach Riga 1941/1942. In: Projekt – Mahnmal – Riga. Wien, o.J., S. 9-20, hier S. 9.

5  Elena Špungina: Evrejskaja Latvija. Korotkij putevoditel’. Sovet evrejskich obščin Latvii. Riga, 2008, S. 51.

6  Protokoll der Wannsee-Konferenz, 20. Januar 1942. <http://www.dhm.de/lemo/html/dokumente/wannseekonferenz/index.html> (7.8.2012).

7  Aivars Stranga: Der Holocaust im Baltikum. In: Stefan Karner, Philipp Lesiak, Heinrihs Strods (Hrsg.): Österreichische Juden in Lettland. Flucht – Asyl – Internierung. Innsbruck, Wien, Bozen 2010, S. 113-147, hier S. 127f; ders.: The Holocaust in Occupied Latvia: 1941–1945. In: The Hidden and Forbidden History of Latvia Under Soviet and Nazi Occupation 1940–1991. Selected Research of the Commission of the Historians of Latvia. Symposium of the Commission of the Historians of Latvia, Vol. 14. Institute of the History of Latvia. Riga, 2005, S. 161-174, hier S. 172f.

8  David Feest: Ethnische Spaltung, nationale Konsolidierung. Die Folgen des Hitler-Stalin-Paktes im Baltikum. In: Osteuropa, 7-8/2009, S. 187-201, hier S. 197.

9  Latvia under the Role of the Soviet Union and National Socialist Germany. Museum of the Occupation of Latvia. Riga, 2008, S. 66.

 

Alle Bilder: M. Malek, mit freundlicher Genehmigung.

 

Die Fortsetzung dieses Textes finden Sie in der kommenden Ausgabe zu Pessach 5774, April 2014.