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Notizen eines Zeitzeugen

Karl PFEIFER

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Seit einigen Jahren gehe ich als Zeitzeuge in österreichische Schulen. In der Regel erzähle ich einige Erlebnisse, die ich in meinem jüngsten Buch Einmal Palästina und zurück niedergeschrieben habe.

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Simon Wiesenthal mit Karl Pfeifer, 1985. Foto: Sichrono Lebracha, mit freundlicher Genehmigung K. Pfeifer.

Doch ich bin auch ein Zeitzeuge, der schildern kann, wie sich die Zweite Republik zu einem jüdischen Rückkehrer verhielt, der nicht als Heimkehrer anerkannt wurde. Dieser bevorzugte Status blieb nur denjenigen vorbehalten, die in der Wehrmacht oder der Waffen-SS gewesen waren. Beziehungsweise, was ein jüdischer Rückkehrer hier erlebte, der nicht bereit war, zu schweigen, und sich kritisch mit der österreichischen Wirklichkeit auseinandersetzte. Da ich den Antisemitismus beziehungsweise ein Rückweichen davor auch bei Sozialdemokraten bemerkte, wurde ich sehr schnell als „Kommunist" abgestempelt.

Wer, so wie ich, 1951 nach Österreich zurückkehrte und - aus verschiedenen Gründen - bei keiner Partei landete, hatte es nicht leicht. Nach einem Jahr als Hilfsarbeiter in Wiener Weinkellereien konnte ich 1952-1954  eine Hotelfachschule besuchen, und dieses Fach gab mir die Möglichkeit, ausserhalb Österreichs zu arbeiten, was ich dann auch immer wieder tat, weil mir die Situation hier nicht behagte. Ich kann mich nicht erinnern, dass mich irgendein Österreicher vor 1974 gefragt hätte, wie es mir während der Jahre 1938-1951 ergangen wäre. Hingegen konnte ich, wenn ich zum Heurigen ging, noch in den 50er Jahren hören, wie an Nachbartischen Gaskammerwitze und ähnliches mehr erzählt wurde, was mir sehr bald den Heurigenbesuch verleidete.

In diesen Jahren bewegte ich mich in Wien in einem Kreis von „Rückkehrern"; insbesondere diskutierte ich viel im Kaffeehaus Kammerspiele an der Rotenturmstrasse mit zwei jüdischen KPÖ-Mitgliedern, die ich  in der Joint-Küche in der Leopoldstadt kennengelernt hatte. Ich versuchte, sie zu überzeugen, dass es in der Sowjetunion und den Volksdemokratien einen strukturellen Antisemitismus gab. Einmal - ich war noch in meiner blauen Arbeitskleidung an einem Samstagmittag -  stellte mir der Ältere die schlagende Frage:

„Karl, die Frage ist, wem sollen wir mehr glauben, Dir jüdischem Kleinbürger oder unseren sowjetischen Genossen?"

Zu unserem Stammtisch im Kaffeehaus gehörte auch ein Nichtjude, ein hochgewachsener blonder, blauäugiger junger Mann. Nie hätte er gewagt, seine Geschichte anderen als uns zu erzählen. Er kam aus einer wohlhabenden Wiener Familie, die vor 1938 mit Juden befreundet gewesen war. Nach seiner Matura im Frühjahr 1943 bekam er seinen Einberufungsbefehl. Die Familie kannte einen Vorarlberger Schmuggler, der bereit war, ihn für 1.000 Mark in die Schweiz zu bringen. Der Schmuggler gab ihm noch ein paar Schweizer Münzen mit und schärfte ihm ein, wenn die Schweizer Polizisten ihn fragten, sollte er behaupten, das Internationale Rote Kreuz in Genf angerufen und ihnen mitgeteilt zu haben, er befände sich in der Schweiz. Bis Kriegsende war er in der Schweiz interniert und  arbeitete in der Landwirtschaft. Das offizielle Österreich bestand darauf, das „erste Opfer" des Nationalsozialismus gewesen zu sein. Doch ein Österreicher, der 1943 kein Täter sein wollte, musste noch Jahrzehnte nach der Befreiung so tun, als ob er bei der Wehrmacht gewesen wäre.

Auch dem älteren der beiden mit mir diskutierenden Kommunisten gelang als 17-Jährigem 1938 die Flucht in die Schweiz. Er versuchte, bei der jüdischen Gemeinde Zürich Hilfe zu erhalten, doch noch bevor er diese kontaktieren konnte, wurde er von einem Fremdenpolizisten festgenommen und zu einer Woche Haft und Ausweisung wegen unerlaubten Grenzübertritts verurteilt. Die Schweizer setzen ihn in einen Zug nach Deutschland. Er hatte enormes Glück und stiess auf einen sozialdemokratischen Eisenbahner, der dafür sorgte, dass er über Sachsen nach Prag gelangen konnte, von wo er mit dem Flugzeug nach England kam. Es gab damals viele Rückkehrer, deren oft erschütternde Geschichte ich hörte, jedoch leider nicht notierte.

1973 kehrte ich nach zwei Jahren aus London zurück, und da ich mich einsam fühlte, beschloss ich, 1974 der sich gerade formierenden Amnesty International (AI) Gruppe 36 beizutreten. Alle - ausser mir - kamen aus der Katholischen Jugend oder aus der Jungen ÖVP. Viele Jahre später sollte ich erfahren, dass die damalige sozialistische AI-Vorsitzende die Gruppe vor mir, dem „gefährlichen Kommunisten" gewarnt hatte. Die Gruppe liess sich nicht beeindrucken, denn ich arbeitete fleissig mit, und man war bereit, auf mich als Menschen einzugehen. Zum ersten Mal traf ich Österreicher, die mich nicht „schubladisierten" und mit denen mich gemeinsame Werte verbanden.

Einmal hatte ich einen Brief an den Schah von Persien zu schreiben, in dem ich um Gnade für ein Mitglied der kurdischen Minderheit bat, das aus politischen Gründen in Mahabad einkerkert war. Ein Mitglied unserer Gruppe fragte, „Karl, woher hast Du diesen orientalischen Stil", worauf ich antwortet, das sei doch kein Wunder, ich sei selbst Orientale. Worauf er meinte, „Was erzählst Du da für einen Unsinn, Du bist doch ein in Baden bei Wien geborener Österreicher". Es fing eine lange Diskussion über meine Identität an. Es war das erste Mal, dass ich als Österreicher wahrgenommen wurde.

Daran musste ich denken, als ich vor zwei Jahren mit dem Zug aus Südtirol zurückkehrte, wo ich in einer deutschsprachigen Schule als Zeitzeuge aufgetreten war. Als der Zug nach einem Halt am Brenner weiterfuhr, befand ich mich gerade im WC. Ich hörte das Klopfen an der Tür und eine energische Frauenstimme: „Polizei, aufmachen!". Ich kam heraus und fragte die Polizistin, ob ich meinen Personalausweis zeigen sollte. Als sie sagte, „Na, I erkenn Sie an der Stimm, Sie san aner von uns", war ich angenehm überrascht. Nach meiner Rückkehr 1951 wurde ich einige Mal gefragt, ob ich Jude wäre, denn ich spräche keinen Dialekt. Damals haben fast alle Menschen, die ich traf, betont Dialekt gesprochen und viele Frauen trugen sogar in Wien ein Dirndl und Männer einen Trachtenanzug.

Mitte der siebziger Jahre gab es noch immer heftigen Antisemitismus in österreichischen Medien und in der Politik. Ausgerechnet Bruno Kreisky - der diesen Antisemitismus zwar leugnete - appellierte heftig an diese Ressentiments. Zum Beispiel, als er von den Juden als „mieses Volk" sprach. Es war die Zeit seiner Auseinandersetzung mit Simon Wiesenthal. Damals lebte Georg Schwarz noch, der eine kleine Gruppe von Sympathisanten der linken israelischen Mapam-Partei führte, zu der auch ich gehörte. Für uns war es ganz selbstverständlich, für Simon Wiesenthal und gegen Kreisky Stellung zu beziehen. Damals lernte ich Simon Wiesenthal kennen, und später verband uns eine Freundschaft.

1975 gab es Wahlen für den Vorstand der Israelitischen Kultusgemeinde. Auf einer  Wahlveranstaltung der jüdischen Sozialdemokraten hielt deren Vorsitzender, Kommerzialrat Jakob Bindel, eine Rede und meinte, wegen dem negativen Verhältnis der Sozialisten zu Wiesenthal würden diese „nur von rechts kritisiert". Ich meldete mich zu Wort als jemand, der sie von „links" kritisiere und war erschrocken, als ich deswegen als „Kommunist" angepöbelt wurde. KR Bindel ging sogar so weit, mir zu raten, aus dem ÖGB auszutreten.

Der Mangel an Toleranz jüdischer Sozialdemokraten war wirklich erstaunlich. Im Frühjahr 1965 ging ich mit den linken Demonstranten auf die Strasse gegen den antisemitischen Professor Taras von Borodajkewicz. Diese denkwürdigen Demonstrationen wurden von jungen Sozialisten geführt, die später wichtige Posten im öffentlichen Leben bekleiden sollten. Doch als es zur Auseinandersetzung Kreisky-Wiesenthal kam, nahmen diese jungen Funktionäre- oft unter der Gürtellinie -  Stellung gegen Wiesenthal, was bei mir Empörung auslöste.