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Kamele vor „Bauhaus-Architektur“ Was eine Postkarte aus Tel Aviv erzählt

Ines SONDER

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Diese Fotografie gehört wohl zu den bekanntesten Aufnahmen aus den 1930er Jahren in Tel Aviv, als die heutige „White City" - die vor zehn Jahren (2003) zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt worden ist - errichtet wurde1: Eine Kamelkarawane zieht mit Sandsäcken beladen vorbei an neu entstandenen weißen Gebäuden im sogenannten Bauhaus-Stil, wie die Architektur des Neuen Bauens und des Internationalen Stils in Israel gern genannt wird. Wann immer man in einer Publikation auf diese Fotografie stößt, erfährt man, dass sie in der Hayarkon Straße in Tel Aviv aufgenommen wurde.2

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„Tel Aviv expands...“, 1934, Fotomontage von Yaakov Benor-Kalter. Quelle: Archiv Ines Sonder, mit freundlicher Genehmigung.

Es gibt auch eine Fotomontage, die den Bekanntheitsgrad der Fotografie noch gesteigert hat und mit dem Titel „Tel Aviv expands ..." den architektonischen Aufschwung und ungeahnten Bauboom in diesem Jahrzehnt demonstriert: jüdische Bauarbeiter, Baumaterialien und Geräte sowie neu entstandene Bauten ragen ins Bild.3 Die Fotomontage stammte von dem Fotografen, Graphikdesigner und Architekten Yaakov Benor-Kalter (1897-1969).4

 

Beide Abbildungen erlebten in den 1930er Jahren ihre Verbreitung vor allem als Ansichtskarten aus Erez Israel. In der Publikation Die Welt der jüdischen Postkarten (2001) wurde das im Besitz des Jüdischen Museums Wien befindliche Exemplar der Fotomontage wie folgt beschrieben: „Tel Aviv expandiert ... Die in der Tradition Man Rays und anderer Fotokünstler der 20er Jahre stehende Fotomontage wurde vom Absender der Karte mit dem Kommentar „Das ist Tel Aviv! Die Stadt der grössten Gegensätze" versehen."5 Veröffentlicht wurde sie 1934 aus Anlass der im selben Jahr in Tel Aviv stattfindenden Levant Fair (Orient-Messe), herausgegeben von S. Adler, Haifa. Ein Hinweis auf den Architekten des abgebildeten Baus findet sich weder auf den Karten noch in einer der Publikationen.

In Hinblick auf die visuelle und architektonische Chronik der 1930er Jahre in Tel Aviv erscheint dies aber von besonderem Interesse, nicht zuletzt, da in den Fotodokumentationen der White City immer der Name des Architekten, das Entstehungsjahr und die Adresse des Baus Erwähnung finden. In diesem Falle fehlen diese Informationen, trotz der großen Beliebtheit der Abbildung. Selbst bei der angegeben Verortung „Hayarkon Street" ist es keineswegs einfach, diesen Bau auszumachen. Spaziergänge entlang der langgezogenen Straße waren bislang ergebnislos geblieben, zudem lag die Vermutung nahe, dass der Bau abgerissen wurde, wie viele andere aus jener Zeit, um für Hotelbauten am Mittelmeer Platz zu machen.

Kürzlich kam Licht ins Dunkel. Im Nachlass der Architektin Lotte Cohn (1893-1983)6 tauchte die Postkarte mit der Abbildung der Fotomontage auf. Sie trägt im unfrankierten Briefmarkenfeld die Nummer 205. Zudem ist sie mit einer Sondermarke zur Levant Fair 1934 versehen. Zweifellos ein besonderes Exemplar.7 Das größte Interesse erweckte jedoch eine handschriftliche Bemerkung auf der Rückseite: „Haus Pinner, Mapustr. 1, wie es ursprünglich war, 1931". Es ist die Handschrift Lotte Cohns. Dokumentiert ein Architekt auf diese Weise den Bau eines Kollegen? Wohl kaum.

Als erstes folgte eine Recherche bei Google Street View, die ergab, dass der Bau noch existiert, wenn auch vielfach umgebaut. Die Mapustraße stößt senkrecht auf die Hayarkon Straße, es ist ein Eckgebäude. Für die gute Gesamtansicht wählte der Fotograf die Blickrichtung von der Hayarkon Straße. In der Plansammlung des Stadtarchivs dann die Bestätigung: Der Bau wurde 1931 von Lotte Cohn gemeinsam mit dem aus Wien gebürtigen Bauingenieur Josef Mahrer (1901-1983) geplant. Bauherr war Ludwig Pinner.

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Kamele in der Hayarkon Straße, Tel Aviv, Anfang 1930er Jahre. Fotografie von Yaakov Benor-Kalter. Quelle: Die Welt der jüdischen Postkarten (2001), mit freundlicher Genehmigung I. Sonder.

Die Architektin Lotte Cohn

Lotte Cohn war seit ihrer Einwanderung 1921 in Palästina mit Ludwig Pinner (1890-1979) bekannt. Beide stammten aus Berlin, lernten sich aber erst in Tel Aviv kennen. Ludwig Pinner war Zionist und Mitglied im Kartell Jüdischer Verbindungen. Als Agronom war er bis zu Beginn der 1930er Jahre an der Landwirtschaftlichen Versuchsstation in Rechovot tätig. Danach engagierte er sich in verschiedenen Gremien und Organisationen, die sich der Unterstützung und Eingliederung der Einwanderer der Fünften Alijah aus Deutschland  widmeten.8 Von 1938 bis 1968 war er Leiter der Abteilung Mittelstandssiedlung der Jewish Agency.9 Lotte Cohn baute drei Jahrzehnte später ein weiteres Haus für Ludwig Pinner in Kfar Schmaryahu, einer von deutschen Juden gegründeten Mittelstandssiedlung nördlich von Tel Aviv.10 Über das Verhältnis zu ihrem Bauherren schrieb sie später in einem Nachruf: „Zwischen uns bestand die besondere Beziehung, die die Einwanderer aus Deutschland in den Zwanziger Jahren zusammenband und die so einmalig und unvergesslich sind."11

 

Für die Forschung und Dokumentation der Architektur des Internationalen Stils in den 1930er Jahren in Tel Aviv ist die Postkarte aus dem Nachlass von Lotte Cohn mit ihren Anmerkungen ein Glücksfall. Einer der bekanntesten Bauten in der zeitgenössischen urbanen Ikonografie der White City hat nun seinen Erbauer gefunden - Lotte Cohn, die erste graduierte Architektin im Lande Israel.

1  Aus Anlass dieses Jubiläums fand Anfang Mai in Tel Aviv die internationale Konferenz „Greening the White City" statt, veranstaltet von der Stadt Tel Aviv, der Heinrich-Böll-Stiftung und der Stiftung Bauhaus Dessau.

2  Vgl."Camels on Hayarkon Street in the 1930s", in: Metzger-Szmuk, Nitza: Dwelling on the Dunes. Tel Aviv, Modern Movement and Bauhaus Ideals, Tel Aviv 2004, S. 15.

3  Mann, Barbara E.: A Place in History. Modernism, Tel Aviv, and the Creation of Jewish Urban Space, Stanford University Press, 2006, S. 161.

4  Yaakov Benor-Kalter war der ältere Bruder von Yitzchak Kalter (1903-1995), dem visuellen Chronisten der modernen Architektur in Tel Aviv.

5  Purin, Bernhard: Die Welt der jüdischen Postkarten, Wien 2001, Abb. 139+140. Fehlerhaft ist leider die Verortung der Aufnahme in die Herzl Straße in Tel Aviv.

6  Vgl. Sonder, Ines: Lotte Cohn. Baumeisterin des Landes Israel, Berlin 2010.

7  Das im Besitz des Jüdischen Museums Wien befindliche Exemplar trägt diese Sondermarke nicht. Für diesen Hinweis danke ich Christa Prokisch.

8  Vgl. Werner Feilchenfeld, Dolf Michaelis, Ludwig Pinner: Haavara-Transfer nach Palästina und Einwanderung deutscher Juden 1933-1939, Tübingen 1972.

9  Vgl. Pinner, Ludwig: Die Siedlungen der Fünften Alijah, in: Rothschild, Eli (Hg.): Meilensteine. Vom Wege des Kartells Jüdischer Verbindungen in der Zionistischen Bewegung. Eine Sammelschrift, Tel Aviv 1972, S. 179-184.

10  Vgl. Sonder, Ines: Lotte Cohn - Pioneer Woman Architect in Israel. Catalogue of Buildings and Projects, Bauhaus Center Tel Aviv 2009.

11  Cohn, Lotte: Persönliche Erinnerungen an Ludwig Pinner s.A., in: Mitteilungsblatt des Hitachduth Olej Germania, 22 (8. Juni 1979), S. 7.