Rudolf O. Zucha: Krise und Chance der Psychologie. Was wir dringender benötigen denn je ist Solidarität. Beiträge der Bühler-Symposien.
Klagenfurt: Wieser Verlag 2012.
338 Seiten, gebunden, Euro 30,00
ISBN 978-3-99029-045-3
Dr. Dr.h.c. Rudolf O. Zucha, Herausgeber mehrerer Sachbücher, ist neben seinen zahlreichen Lehraufträgen, die ihn an die Universitäten Wien, Klagenfurt und Rijeka sowie die TU Wien, WU Prag und TU Berlin führten, auch Herausgeber der „Zeitschrift für Sozialpsychologie und Gruppendynamik". In dieser Zeitschrift erwähnte Prof. Zucha immer wieder die Bühler-Symposien.
Das Buch „Krise und Chance der Psychologie", das zum 50. Todestag von Karl Bühler herausgegeben wurde (er starb am 24. Oktober 1963, seine Frau Charlotte überlebte ihn um 11 Jahre), soll die Texte der Symposien einem grösseren Kreis interessierter Leserinnen und Leser zugänglich machen.
Am 26. und 27. Mai fand das erste Bühler-Symposium im Stadtsenatssaal des Wiener Rathauses statt. Prof. Zucha hatte die originelle Idee, in seinem Buch die Geleitworte samt Fotos sowohl einer jungen, bildhübschen Unterrichtsministerin, Dr. Hilde Hawlicek, als auch eines nicht weniger gutaussehenden Wiener Bürgermeisters, Dr. Helmut Zilk, abzudrucken. Nostalgie pur. Beide sozialdemokratischen Politiker wiesen auf die internationale Bedeutung des Ehepaares Bühler, aber auch auf die enge Beziehung der beiden Nichtwiener zur Wiener Stadtverwaltung hin.
Und natürlich erwähnten die Politiker, wie traurig es ist, dass die Wissenschafter 1938 fliehen mussten, und wie beschämend, dass sie nicht mehr zur Rückkehr ermutigt worden sind. Finanzielle Schwierigkeiten der neu entstandenen Republik wurden als Begründung angegeben. Man erinnere sich: Diese und ähnliche Worte wurden 1988 von etlichen Politikerinnen und Politikern bei jeder sich bietenden Gelegenheit ausgesprochen. Es war das Bedenk- und Gedenkjahr. Na ja.
Die Bühlers
Karl Bühler wurde am 27. Mai 1879 in Meckesheim bei Heidelberg geboren. Er legte das Abitur in Tauberbischofsheim ab und studierte in Freiburg Medizin, 1903 promovierte er. Daneben absolvierte er das Studium der Psychologie, das er 1906 abschloss.
Nach seiner Habilitationsschrift 1907 etablierte er gemeinsam mit seinem Mentor Külpe in München und Bonn florierende psychologische Laboratorien. Diese Arbeit wurde durch den Ersten Weltkrieg unterbrochen. Bühler arbeitete als Sanitätsarzt und ausserdem in einem Lazarett für hirnverletzte Soldaten.
In München lernte Karl Bühler die am 20. Dezember 1893 in Berlin als Kind einer jüdischen Intellektuellenfamilie geborene Charlotte Malachowski kennen und lieben. Sie hatte Psychologie studiert und promovierte 1918 in München mit einer experimentellen Untersuchung von Denkprozessen zum Dr.phil.
Karl Bühler und Charlotte heirateten 1916 in Berlin. Die ursprünglich jüdische Familie Malachowski war wie viele andere auch zum Protestantismus übergetreten.
Nach einem kurzen Aufenthalt in Dresden kam das Ehepaar Bühler 1922 nach Wien, das zu diesem Zeitpunkt dank Sigmund Freud, Alfred Adler und anderen ein Kristallisationspunkt der modernen Psychologie war. Charlotte Bühler hatte sich bereits in Dresden mit der Veröffentlichung ihres Werkes „Das Seelenleben des Jugendlichen" (1921) einen Namen gemacht und trieb in Wien ihre bahnbrechenden jugendpsychologischen Forschungen voran. Karl Bühler wirkte als Professor für Psychologie und Leiter des Psychologischen Institutes, das zu jener Zeit eines der modernsten Einrichtungen dieser Art weltweit war. Hier entstand die Wiener Wirtschaftspsychologische Forschungsstelle.
Als die Nazis die Macht übernahmen, begann das Kesseltreiben nicht nur gegen jüdische Wissenschafter, sondern auch gegen solche, die mit Partnern jüdischer Religion oder Abstammung verheiratet waren. So geschah es auch mit dem Protestanten Karl Bühler. Charlotte Bühler befand sich während des „Anschlusses" in London. Karl Bühler wurde am 23. März 1938 verhaftet und mit Schimpf und Schande der Universität verwiesen.
Nach der Freilassung Karl Bühlers aus der Haft emigrierte das Paar zunächst nach Oslo und von dort aus in die USA, wo beide ihre wissenschaftlichen Arbeiten fortsetzen konnten. Karl Bühler wirkte als Professor in Minnesota und an der Universität von Southern California in Los Angeles, Charlotte Bühler als Klinische Psychologin ebenfalls an der Universität von Southern California.
Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs dachten die Bühlers an eine Rückkehr nach Österreich und führten auch dementsprechend Korrespondenz. Der Leiter des Wiener Psychologischen Institutes, Hubert Rohracher, nahm als Privatmann, ohne mit einem Mandat des österreichischen Unterrichtsministeriums ausgestattet zu sein, mit Karl Bühler Kontakt auf, um ihm eine Rückkehr an die Wiener Lehrkanzel anzubieten. Leider hat sich in der österreichischen Unterrichtsverwaltung niemand wirklich für seine Wiederberufung eingesetzt. Rohracher musste also einen freundlichen, aber ablehnenden Bescheid schreiben. Erst 1960, wenige Jahre vor Bühlers Tod, überreichte Rohracher Bühler auf dem Internationalen Psychologenkongress die Wilhelm-Wundt-Medaille.
Karl Bühler, der in den beiden letzten Jahren seines Lebens sehr krank gewesen war, verstarb am 24. Oktober 1963 in Los Angeles. Er war 84 Jahre alt.
Charlotte Bühler hatte sich bis 1945 mit verschiedenen psychotherapeutischen Verfahren auseinandergesetzt. Sie entwickelte gemeinsam mit ihrem Mann und Welty Lefever ein quantitatives Bewertungsverfahren für den Rorschach-Test und mit M. Manson den sogenannten Picture World Test, eine Methode, mit deren Hilfe die Einstellung von Individuen zu ihrer Umgebung ermittelt wird.
Nach dem Tode von Karl Bühler führte sie ihre literarische Tätigkeit und ausgedehnte Korrespondenz fort. Sie kehrte nach Europa zurück, um ihrem Sohn, der an der Universität Stuttgart unterrichtete, nahe zu sein.
Charlotte Bühler starb am 3. Februar 1974, sie hat also nächstes Jahr ihren 40. Todestag. Vielleicht gibt es offiziell oder inoffiziell eine besondere Würdigung. Ihr Lebenswerk lebt im „Institut für praxisorientierte Kleinkindforschung" in Wien, Stephansplatz 6 weiter.
Die Bühler-Symposien
Insgesamt wurden im Laufe der Zeit neun Symposien, die dem Wirken des Ehepaars Bühler gewidmet waren, veranstaltet: vom 27. Mai 1989 im Stadtsenatssaal des Wiener Rathauses bis zum Workshop am 29. Oktober 2006 an der Wirtschaftsuniversität Wien.
Bereits das erste Symposium konnte als Referenten den damals schon hochberühmten Erwin Ringel gewinnen. Sein Vortrag „Tiefenpsychologie und Religion" ist schon einmal deshalb absolut lesenswert, weil er die verschiedenen Positionen Sigmund Freuds, Alfred Adlers und C.G. Jungs einander gegenüberstellt und mit Zitaten untermauert, die - gelinde gesagt - überraschen.
Im zweiten Symposium sprach der ehemalige Bundeskanzler Viktor Klima, zum Zeitpunkt des Vortrags Vorstandsdirektor der OMV, über den „Humanfaktor in der Wirtschaft" und beschrieb sein Corporate Identity Program. Es ist ein langer Weg von den Arbeitslosen in Marienthal (Charlotte Bühler war an der Studie beteiligt) bis zu den Arbeitslosen in den modernen Industriestaaten. 1990 war das Ausmass dieser Entwicklung noch nicht absehbar und Klima noch nicht in Südamerika.
In allen Symposien wurde ein breites Band von interessanten Themen, die sich hauptsächlich - aber nicht nur - mit der Beziehung zwischen Psychologie und Arbeitswelt beschäftigten, geboten: einer Arbeitswelt, in der leider Stress und Mobbing, die beiden neuen Geisseln der Menschheit, vorherrschen. Kann hier der in der Krise steckenden Psychologie eine neue Chance geboten werden?