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Der österreichische Vizekanzler und Aussenminister Dr. Michael Spindelegger im Gespräch

Alfred GERSTL

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Während der Nahe Osten weltweit die Schlagzeilen beherrschte, gingen aussenpolitische Fragen im Wahlkampf zur Nationalratswahl 2013 etwas unter. Angesichts des historisch betrachtet grossen Engagements Österreichs in dieser Region - man denke nur an verschiedene Initiativen Bruno Kreiskys und den wichtigen Beitrag Wiens zur UN-Mission auf den Golan-Höhen - kam dies überraschend. Für DAVID sprach deshalb Alfred Gerstl mit Vizekanzler und Aussenminister Dr. Michael Spindelegger ausführlich über seine Einschätzung der Situation im Nahen Osten und Österreichs Beziehungen mit Israel.

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Vizekanzler und Aussenminister Michael Spindelegger im Gespräch mit dem britischen Aussenminister William Hague, im Rat für Auswärtige Angelegenheiten, Luxemburg, 21.10.2013, Foto: Dragan Tatic, mit freundlicher Genehmigung: BMeiA.

DAVID: Der Nahe Osten ist in der österreichischen Politik und Gesellschaft traditionell sehr präsent, die Situation in verschiedenen Ländern wird teilweise sehr leidenschaftlich debattiert. Derzeit beherrschen Syrien und Ägypten die Schlagzeilen. Herr Aussenminister Dr. Spindelegger, wie schätzen Sie die aktuelle Situation in diesen beiden Ländern ein?

  

BM Dr. Michael Spindelegger: Die Situation in Syrien ist dramatisch. Seit mehr als zwei Jahren tobt ein Bürgerkrieg, der zehntausende Menschenleben gekostet und Millionen Flüchtlinge verursacht hat. Mit dem Einsatz von Chemiewaffen im August wurde eine rote Linie überschritten und Österreich und die gesamte Weltöffentlichkeit schockiert. Der Weltgemeinschaft wurde drastisch vor Augen geführt, dass die andauernde Blockade im UNO-Sicherheitsrat endlich überwunden werden muss und die Bemühungen um einen politischen Prozess mit aller Kraft wieder aufgenommen werden müssen. Nun ist Syrien gefordert, alle Zusagen nach Punkt und Komma einzuhalten, aber auch die Internationale Gemeinschaft muss den politischen Druck aufrechterhalten, um das derzeitige Momentum zu nutzen.

Ägypten steht vor einer entscheidenden Weggabelung. Wird es den Weg der Demokratie weitergehen oder zurückfallen und wieder Züge eines autokratischen Systems annehmen? Wir drängen darauf, dass sowohl die Übergangsregierung als auch die Opposition von der Ausübung von Gewalt Abstand nehmen und dass die Ausarbeitung einer neuen Verfassung so bald wie möglich abgeschlossen wird. Das Land braucht einen glaubhaften Dialogprozess - nur so lassen sich die gesellschaftlichen Gräben überwinden. Am Ende - wir hoffen bereits in der ersten Hälfte des Jahres 2014 - sollten offene und freie Parlaments- und Präsidentschaftswahlen stehen.

Besteht das Risiko, dass der Konflikt in Syrien zu einem regionalen Krieg eskaliert? Was kann Europa unternehmen, um dies zu verhindern?

  

Solange der Konflikt in Syrien nicht gelöst wurde, solange wird auch das Risiko eines Überschwappens bestehen bleiben. Wir sind daher dringender denn je gefordert, für die Bemühungen, eine zweite Syrienkonferenz in Genf zustande zu bringen, jede notwendige Unterstützung zu leisten. An dieser Konferenz wird selbstverständlich auch die Europäische Union mitwirken.

Mit dem „arabischen Frühling" wurden grosse Hoffnungen auf eine Demokratisierung, gesellschaftliche Öffnung und wirtschaftliche Entwicklung verbunden. Waren diese nicht von Anfang an naiv?

  

Es war von Anfang an klar, dass der Übergang zu demokratischen Regierungsformen in Staaten, deren Geschichte zum Grossteil keinerlei entsprechende Erfahrung kennt, weder reibungslos noch rasch erfolgen kann. Dennoch versuchten und versuchen wir in der EU und im Rahmen der Vereinten Nationen mit konkreter Hilfe und Ausbildungsangeboten zur Seite zu stehen. Aber diese Hilfe ist kein Selbstzweck. Nach dem Prinzip „mehr für mehr, weniger für weniger" erzeugen wir dort, wo es nötig ist, auch entsprechenden Druck.

Israel und viele westliche Staaten betrachten die Entwicklungen im Mittleren Osten der letzten Jahre mit grosser Sorge. Einerseits freut man sich über eine mögliche Demokratisierung der arabischen Welt, andererseits sieht man sich nach Wahlen meistens eher autoritär agierenden, konservativ-religiösen Gruppen gegenüber. Wie sehen Sie diese Problematik?

  

Entscheidend ist in jedem einzelnen Fall, dass ein starker verfassungsmässiger Rahmen existiert, innerhalb dessen der demokratische Wettbewerb transparent und rechtsstaatlich geschützt ausgetragen werden kann. Dass in Zeiten von Umbrüchen die politischen Pendelausschläge grösser ausfallen und die Mitte nicht auf Anhieb gefunden wird, gehört zu den Lernerfahrungen jeder Gesellschaft. Entscheidend ist, dass sie sich in einem demokratischen Rahmen bewegen. Demokratie bedarf auch eines sie unterstützenden Bildungssystems, einer freien Presse und einer lebendigen Zivilgesellschaft - alles Elemente, die für uns selbstverständlich sind, die sich aber nicht über Nacht entwickeln lassen. 

Hoffnungen machen sich einige Beobachter nach der Wahl Rohanis zum Präsidenten derzeit auch in Bezug auf den Iran. Glauben Sie an eine Entspannung zwischen Iran und dem Westen im Atom-Konflikt - und damit auch an eine Verringerung der Bedrohung für Israel?

  

Während der letzten UNO-Generalversammlung in New York im September hatten zahlreiche Staats- und Regierungschefs, darunter auch Bundespräsident Fischer, Gelegenheit, mit Präsident Rohani Gespräche zu führen. Dabei war ein neuer Ton des Iran auf dem internationalen Parkett festzustellen. Noch handelt es sich aber nur um Worte. Es bleibt abzuwarten, ob dem auch Taten folgen. Eine Entspannung in den Beziehungen zum Iran würde langfristig auch den Sicherheitsbedürfnissen Israels zu Gute kommen. Es liegt aber letztlich am Iran, die Chance der kommenden Verhandlungen betreffend seines Nukleardossiers zu nützen und der Weltöffentlichkeit zu beweisen, dass er es tatsächlich ernst meint und nicht wieder nur auf Zeit spielt.

Unter Bruno Kreisky verfolgte Österreich im Nahen Osten eine sehr aktive Aussenpolitik, allerdings war Kreiskys Politik nicht unumstritten. Wie beurteilen Sie aus heutiger Sicht die damalige Aussenpolitik?

  

Das politische Umfeld ist heute ein gänzlich anderes als zu Zeiten Bruno Kreiskys - sowohl im Nahen Osten als auch für Österreich. Bruno Kreisky hat nicht immer unumstrittene, aber zu ihrer Zeit bemerkenswerte Schritte gesetzt. Die Frage ist, welche langfristigen Wirkungen diese hatten und ob ähnliche heute überhaupt sinnvoll wären? Als Mitglied der Europäischen Union verfügt Österreich über ganz andere - und zum Teil viel weitreichendere - Möglichkeiten als früher. Wir bringen uns aktiv in vielerlei Weise in die Ausformulierung der Nahostpolitik der EU ein. Das ist vielleicht weniger sichtbar, aber in seiner langfristigen Wirkung zweifellos wichtiger als spektakuläre Einzelaktionen.

Wien unterhielt in den 1970er und 1980er Jahren sehr gute Beziehungen sowohl zu Libyens Gaddafi als auch zur PLO unter Arafat. Rückblickend: Spielte Österreich damals eine Vorreiterfunktion oder unterminierte es die Isolationspolitik des Westens?

  

Wie gesagt: Im Abstand von dreissig, vierzig Jahren erhält vieles in der Politik eine veränderte Optik. Das ändert aber nichts daran, dass Österreich fest und unzweifelhaft im westlichen Wertesystem verankert ist - damals wie heute.

Wie beurteilen Sie die gegenwärtigen Beziehungen Österreichs zu Israel generell? Politisch, wirtschaftlich, kulturell? Wo sehen Sie Vertiefungsbedarf?

  

Unsere Beziehungen zu Israel sind eng und konstruktiv. Wir führen einen offenen politischen Dialog mit der israelischen Regierung, der in Fragen des Nahost-Konflikts naturgemäss mitunter auch Differenzen zu Tage treten lässt. Aber gerade die Tatsache, dass man wechselseitig auch konstruktive Kritik äussern kann, zeichnet ein freundschaftliches und belastbares Verhältnis aus. In Wirtschaftsfragen wären durchaus noch intensivere Beziehungen möglich. Österreich und Israel sind hoch entwickelte Volkswirtschaften, da gibt es noch ein grosses Potenzial an Zusammenarbeit.

Österreich hat sich lange Zeit höchst aktiv mit UN-Friedenstruppen auf dem Golan betätigt. Dieses Engagement wurde auch international sehr gelobt, nicht zuletzt von Israel und Syrien, wogegen es am im Juni bekanntgegebenen Rückzug zum Teil heftige Kritik gab. Gab es zu diesem vollständigen Rückzug keine Alternativen?

Österreich hat über Jahrzehnte einen entscheidenden Beitrag zur UNDOF-Mission geleistet und sich dabei einen guten Ruf erarbeitet. Wir haben uns daher den Rückzug nicht leicht gemacht. Aufgrund der zunehmenden Unmöglichkeit das Mandat sinnvoll zu erfüllen, der unmittelbaren Gefährdung der Versorgungslinien, des völligen Fehlens jeden Respekts für die Blauhelme, insbesondere seitens der Rebellen, und vor allem der Aufhebung des EU-Waffenembargos gegenüber der bewaffneten Opposition, war eine Fortsetzung der Entsendung aus militärischen Gründen leider nicht mehr vertretbar. Österreich wird sich aber weiterhin bei UNO-Missionen engagieren, und ich bin zuversichtlich, dass die nächste Bundesregierung auch entsprechende namhafte Entsendungen beschliessen wird.

Kritiker Israels rufen immer wieder zu Boykotten auf, seien es Produkte aus den Siedlungen in der Westbank, seien es israelische Wissenschafter allgemein. Wie stehen Sie zu diesen Forderungen?

Österreich und die EU haben nie einen Zweifel daran gelassen, dass wir die israelische Siedlungstätigkeit im besetzten Westjordanland und in Ost-Jerusalem als völkerrechtswidrig und als Hindernis für den Friedensprozess sehen. Uns geht es darum, die bereits geltenden EU-Rechtsvorschriften, die auf Siedlungsprodukte anwendbar sind, umfassend und wirksam umzusetzen. Einen Boykottaufruf, in welcher Form auch immer, hat es aber nie gegeben. Das wäre nicht nur kontraproduktiv, sondern auch grundlegend falsch.

Österreich ist, wie auch die Europäische Union insgesamt, ein wichtiger Geldgeber der palästinensischen Autonomie-Behörde. Wie bewerten Sie generell die Beziehungen Wiens zu Palästina? Wie wird auf den innerpalästinensischen Konflikt zwischen der Fatah und Hamas reagiert?

Österreich hat eine lange Tradition der Unterstützung der Zwei-Staaten-Lösung und damit der Unterstützung eines unabhängigen Staates Palästina. Gemeinsam sind die EU-Mitgliedsstaaten wohl die wichtigsten Verbündeten im Aufbau effizienter und transparenter Institutionen eines zukünftigen palästinensischen Staates. Entsprechend gross ist unser Unverständnis darüber, dass die grossen politischen Lager in Palästina, allen voran die Hamas, weder willens noch in der Lage zu sein scheinen, ihre jeweiligen engen und kurzfristigen Interessen zu Gunsten des grossen gemeinsamen Ziels einer verhandelten Friedenslösung und des Aufbaus eines gemeinsamen Staatswesens beiseite zu stellen.  

Gibt es aus Ihrer Sicht derzeit realistische Aussichten auf die Aufnahme von Friedensgesprächen zwischen Israel und Palästina? Haben die EU und Österreich Möglichkeiten, sich unterstützend in diesen Prozess einzubringen, zum Beispiel Sicherheitsgarantien für Israel auszusprechen?

  

Dank des unermüdlichen Einsatzes des US-Aussenministers, aber auch der starken Unterstützung durch die EU stehen die Konfliktparteien wieder mitten in Gesprächen um eine Verhandlungslösung. Das ist seit Jahren wieder ein erstes positives Signal. Die zu lösenden Sachfragen liegen seit langem auf dem Tisch. Dennoch stehen die Verhandler vor einer Mammutaufgabe. Sie müssen zuerst das verlorene wechselseitige Vertrauen schrittweise wieder aufbauen. Nur wenn das gelingt, können die Verhandlungen Erfolg haben. Wir nutzen dabei jede sich bietende Gelegenheit, den Verhandlungsprozess zu unterstützen. Entscheidend ist, dass der gefährliche Stillstand im Nahen Osten nachhaltig überwunden wird. Aussenstehende können ermutigen und unterstützen, der politische Wille und Mut für eine langfristige Lösung muss aber aus der Region selber kommen.

Herr Aussenminister, herzlichen Dank für das Gespräch!