27. März 1516: Der venezianische Adelige Zaccaria Dolfin, illustres Mitglied des Kollegiums der Republik Venedig, schlägt diesem vor, „alle" Juden von Venedig ins Ghetto Nuovo, ein Neues Ghetto, zu schicken, „das wie ein Schloss ist". Der Bankier Anselmo, der offensichtlich eine wichtige Rolle bei den Verhandlungen zwischen der Regierung der Republik und der jüdischen Gemeinde spielte, protestierte heftig. Trotzdem beschloss der Senat zwei Tage später, am 29. März, Juden hätten aus den verschiedenen Stadtvierteln „alle zusammen" in den Hof jener Häuser zu übersiedeln, die das nunmehrige Ghetto, bei San Girolamo, bildeten: „um den vielen Unruhen und Scherereien abzuhelfen".
Der Canale der Juden, ASVE, Domenico Margutti, Area di Castello compresa tra il Canale degli Ebrei e dei Marani con i rii di Castello e Sant’Iseppo, 1688, Tinte und Wasserfarben auf Papier, 300 x 409 mm. Quelle: Archivio di Stato di Venezia, Savi ed esecutori alle acque, b. 139, dis. 20. Alle Rechte: Venezia, Archivio di Stato, riproduzioni eseguite dalla sezione di fotoriproduzione dell’Archivio di Stato di Venezia. Mit freundlicher Genehmigung: Fondazione Musei Civici di Venezia, Archivio Fotografico, MUVE Pressebüro.
Die Republik hatte demnach beschlossen, für die jüdische Minderheit auch in der Hauptstadt einen Raum zu bestimmen, der durch zwei Tore begrenzt war. Diese sollten nach dem Willen des Senats am Morgen zum Klang der „Marangona" (der Glocke von San Marco, welche den Rhythmus der Aktivität der Stadt bestimmte) geöffnet und am Abend um Mitternacht von vier christlichen Wächtern geschlossen werden. Letztere wurden von den Juden selbst bezahlt und sollten am selben Ort wohnen - und zwar ohne ihre Familien, um sich der Kontrolltätigkeit besser widmen zu können. Zwei Boote des Consiglio dei Dieci1 mit Wächtern, die von den neuen „Schlossherren" bezahlt wurden, sollten in der Nacht auf dem Kanal um die Insel kreisen, um die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten. Am darauffolgenden 1. April waren zur öffentlichen Verlautbarung die gleichen Schreie („grida"2) auf dem Rialto und allen weiteren Brücken jener Stadtbezirke zu hören, in denen Juden bis dahin ansässig waren.
Francesco Hayez, Die Zerstörung des Tempels in Jerusalem, Öl auf Leinwand, 183 x 282 cm. Venezia, Gallerie dell’Accademia Cat. 756, “su concessione del Ministero dei beni e delle attività cuIturaIi e del turismo”. Mit freundlicher Genehmigung: Fondazione Musei Civici di Venezia, Archivio Fotografico, MUVE Pressebüro.
Berufsstrukturen
Pfandleihe war eine der Haupttätigkeiten von Juden, in Venedig wie anderswo in Europa; und vielleicht gerade dank dieses Berufes wurde die Aufnahme und darauffolgende Verankerung der Juden in der Stadt gerechtfertigt, vor allem in den Perioden wirtschaftlicher und politischer Schwierigkeiten der Republik Venedig. Ab dem 15. Jahrhundert, und noch mehr im darauffolgenden Jahrhundert wurde, mit der Verbreitung des Buchdruckes, der kulturelle Austausch intensiver. Das Studium des Judentums war besonders in Venedig als Sinnbild der Wiederbelebung der antiken Kultur geschätzt - vor allem unter den Adeligen, die einen leichteren Zugang zur Kultur hatten und von den Neuerungen des Humanismus angezogen waren. Der Beruf der Drucker gehörte zwar nicht zu jenen, die Juden erlaubt waren; auf Grund ihrer Kenntnis des Hebräischen arbeiteten sie aber als Berater, Korrekturleser und Schriftsetzer mit. Unter den freien Berufen konnten die Juden nur jenen der Medizin wählen. Berühmte jüdische Ärzte hielten Kurse und Vorlesungen an der Universität von Padua.
Jüdischer Hochzeitsvertrag zwischen Diana bat Gavri’el Barak Caravaglio und Mošeh ben Ya’aqov Baruk Caravaglio, 1723 (Montag 14 Nissan 5483), Tempera und Tusche auf profiliertem Pergament, Hochformat, 920 × 665 mm. Venezia, Museo Correr - Gabinetto Disegni e Stampe, Ketubbah 17. Mit freundlicher Genehmigung: Fondazione Musei Civici di Venezia, Archivio Fotografico, MUVE Pressebüro.
Erste Erweiterung des Ghettos
Im Jahr 1541 legten die fünf Savi alla Mercanzia3 einen wenig besiedelten Grundstücksstreifen zwischen dem Rio degli Agudi und dem Rio di Cannaregio mit einigen Gemüsegärten und alten Bretterhütten für eine erste Erweiterung des Ghettos, wie sie von den verschiedenen Gruppierungen der Juden gefordert worden war, fest: so entstand das Ghetto Vecchio (Altes Ghetto).
Ghetto Nuovissimo
Zu Beginn des 17. Jahrhunderts betrug die jüdische Bevölkerung rund 3.000 Einwohner, trotz der Bevölkerungsabnahme, die durch eine der schwersten Pestepidemien in der Geschichte Venedigs verursacht worden war. Obwohl Druck, weiteren Raum für die Juden zu gewinnen, über dreissig Jahre lang ausgeübt worden war, erfolgte die Einrichtung eines neuen Erweiterungsgebietes, des Ghetto Nuovissimo (Jüngstes Ghetto) , erst in diesem Zeitraum, weil es für eine weitere Einwanderungswelle bestimmt war. Für die nächsten zwei Jahrhunderte - vom 16. bis zum 18. Jahrhundert - waren Tätigkeitsbereiche, die Juden offiziell zugestanden wurden, beschränkt.
Die napoleonische Zeit
Im Jahr 1797, nach der Ankunft Napoleons in der Stadt, wurde von der demokratischen Regierung ein Dekret verabschiedet: Es besagte, dass „die Tore des Ghettos unverzüglich entfernt werden mussten, damit keine Trennung zwischen ihnen [den Juden] und den anderen Bürgern dieser Stadt sichtbar sei." In jener Phase wurde bezüglich der Bauweise der drei Ghettos Folgendes vermehrt und heftig kritisiert: Bodensenkungen, gefährlich schiefe Aussenmauern, Krümmung der Balken, Lockerung der Installationen, Neigung der Steinplatten, baufällige Kaminrohre, schlecht gebaute Treppen, kurzum, der Zerfall von Bauten, die im Lauf der Zeit durch zahlreiche Überbauten auf Fundamenten, die nicht für die tatsächlich realisierte Umfangsteigerung berechnet worden waren, verändert worden sind.
Reformen
In der Zwischenzeit liessen sich die Einstellungen zur Frage der Hygiene im urbanen Gesamtkontext nicht mehr auf einzelne Gebiete beschränken. Dies war in ganz Europa der Fall: die Kultur der „Sanierung" im 19. Jahrhundert durchzieht zentrale städtische Gebiete genauso wie solche an der Peripherie, und zielt auf den Wohnstandard und eine grundsätzliche Objektivität in Bezug auf die verschiedenen ethnischen Komponenten ab. Wiewohl dies nur erste Schritte sind, weht ein Wind der „Modernität" auch auf dem Campo des Ghettos. Dem Prozess der Erneuerung der heruntergekommenen Zonen entspricht dann jener der Verlagerung des Wohnsitzes der reicheren Bewohner sowie der Sanierung der ebenfalls seit Jahren vernachlässigten grossen Palazzi, die einer Festigung und Renovierung bedurften. Aus diesem Blickwinkel ist der Auszug einiger grosser jüdischer Familien von besonderem Interesse, deren Kaufkraft bereits beachtlich war und gerade in jenen Jahren, die dem Fall der Republik folgten, anstieg. Sie zogen aus dem alten, von Mauern begrenzten Bereich in Cannaregio aus, da sie plötzlich über Mittel verfügten, in Immobilienbesitz zu investieren. Der Handel einiger Bankiers und Kaufleute hatte sich bereits vor dem Fall der Republik in eine stark internationale Richtung entwickelt.
Integration
Ein Jahrhundert nach dem Dekret, das ihnen die Freiheit zugestand, sind die venezianischen Juden (die Volkszählung des Jahres 1901 registriert 2.474 Personen) im Wesentlichen in die umgebende Mehrheitsgesellschaft und ins urbane Gefüge integriert, bis hin zu jenen, die vollkommen Teil der politischen, kulturellen und ökonomischen Elite der Stadt geworden sind. Insgesamt stellten das Risorgimento und der Erste Weltkrieg Phasen der nationalstaatlichen Entwicklung Italiens dar, an der Juden teilnahmen, wenn auch nicht ohne Widersprüche und Spannungen. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts erlangte die Präsenz des jüdischen Bürgertums in der venezianischen Gesellschaft ein nicht unbeträchtliches Gewicht.
Verfolgung und Deportation
Nach Mussolinis Gesetzen von 1938 und 1939 waren es die faschistischen Gewerkschaften, die dort vorgesehene restriktive Massnahmen ergriffen, so dass im Jahr 1940 per Rundschreiben eine Liste mit Namen von Juden, die nicht länger einen Beruf ausüben durften, verbreitet wurde. Im Dezember 1943 wurden die Verhafteten in das Durchgangslager Fossoli [heute ein Stadtteil von Carpi] deportiert, von dort im darauffolgenden Februar nach Auschwitz. Zwischen 1944 und den ersten Monaten des Jahres 1945 verdoppelte sich die Zahl jener, auf die in der Stadt und in der Umgebung Jagd gemacht wurde, um sie zu deportieren, auf 230 Personen4. Wendepunkt war der 11. Mai, als ein Projekt zur Wiederherstellung der Gemeinde präsentiert wurde. Die Rückkehr zur Normalität erfolgte jedoch nicht unverzüglich.
1 Rat der Zehn; venezianisches Höchstgericht und oberste Polizeibehörde Venedigs; Anm. d. Red.
2 Anm. d. Red: Der Originalbegriff ist mehrdeutig und kann sowohl positiv als auch pejorativ besetzt verwendet werden: Gezeter, Gejohle, Hilfe-, Warn- oder Hurrarufe und Entsetzensschreie; „grida" bezieht sich jedenfalls auf das Ausrufen der Anordnung auf öffentlichen Plätzen.
3 Organ der Republik Venedig; venezianische Handelskommission; Anm. d. Übers. und Red.
4 Anmerkung der Redaktion: Laut Homepage des Jüdischen Museums Venedig beträgt die Zahl der Deportierten, wenn man die Verfolgung vom 5. Dezember 1943 einbezieht, 246 Personen (Link: http://www.museoebraico.it/ebrei.venezia.shoa.html).
Aus dem Italienischen übersetzt
von Dr.in Eva Holpfer - DAVID dankt
für die Unterstützung!