Am 26. Juli 2016, 500 Jahre seit dem Augenblick, da der Doge Leonardo Loredan angeordnet hatte, die venezianischen Juden in einem Randgebiet zu konzentrieren und abzusondern, wo einmal die alten Kupfergiessereien gewesen waren (italien. Il Geto), und 400 Jahre nach dem Tod von William Shakespeare, wird dessen Theaterstück Der Kaufmann von Venedig zum ersten Mal in der Geschichte im Ghetto von Venedig aufgeführt werden. Ein theatralischer Ort und ein theatralisches Werk, ein Denkmal des materiellen Erbes Europas, und ein Dokument seines geistigen Erbes: Was haben diese beiden „Ereignisse" gemeinsam, die eine Laune der Geschichte miteinander verknüpft hat?
Giovanni Grevembroch (1731 - 1807), Nobile al banco, in: Gli abiti de veneziani di quasi ogni età con diligenza raccolti e dipinti nel secolo XVIII. Zweite Hälfte 18. Jahrhundert, aquarellierte Zeichnung, 288 × 200 mm. Venezia, Biblioteca del Museo Correr. Mit freundlicher Genehmigung: Fondazione Musei Civici di Venezia, Archivio Fotografico, MUVE Pressebüro.
Und vor allem, was für einen Sinn macht es, den berühmtesten, aber eben auch fiktivsten venezianischen Juden, Shylock, an einem Ort in Szene zu setzen, der den wirklichen Juden von Venedig Leiden und Aberkennung der Freiheit gebracht hat? Dieses Projekt ist von dem Bewusstsein ausgegangen, dass man sich nicht auf einfachen und eindeutigen Interpretationen des Ghettos und des Mercante (Händlers) ausruhen konnte, und dass es um das Zusammenleben in Ambivalenz gehen musste. Das paradoxe Element, den beiden gemein, ist, dass oft versucht worden ist, sie in einfache moralische Formeln zu zwängen: zu behaupten, dass Der Kaufmann von Venedig ein antisemitisches Werk ist, oder ein philosemitisches Werk, dass das Ghetto ein ethnisches Viertel war, das den jüdischen Zusammenhalt begünstigt hat, oder dass es das Vorzimmer von Auschwitz gewesen ist.
Wie in keinem anderen Fall ist hier das oft zitierte Motto von Walter Benjamin gültig, „Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein". Das zweite fundamentale Element ist, dass das Ghetto und Il Mercante alte Phänomene von dringlicher Aktualität bleiben. Wie nie zuvor ist die Welt voll von Ghettos: wie nie zuvor stehen die Begegnung, der Zusammenstoss, die Ausbeutung zwischen und von verschieden Kulturen auf der Tagesordnung.
Blicken wir einen Augenblick zurück, um die wichtigen Fakten Revue passieren zu lassen. Um 1378 schrieb der italienische Schriftsteller Ser Giovanni Fiorentino eine Novelle, in der ein Jude aus Mestre dem Christen Ansaldo 10.000 Dukaten borgte und als Strafe ein Pfund Fleisch verlangte. Bei Nichtbezahlung der Schuld wurde dem Juden das Recht anerkannt, das Pfund abzuschneiden, aber keine Unze mehr und keine Unze weniger, und ohne einen Tropfen Blut zu vergiessen. Dialektisch besiegt, verliert der Jude sein Vermögen, und verlässt die Szene erzürnt, indem er den Vertrag zerreisst. Mehr als zwei Jahrhunderte später, in einem England, das seit langem die eigenen Juden ausgewiesen hatte, las William Shakespeare diese Novelle und gestaltete die Figur des Shylock. In der Zwischenzeit kam es zu einem epochalen Ereignis. 1516 wurde das Ghetto von Venedig gegründet, ein Ort, den Shakespeare wohl gewiss nicht besucht hat und in seinem Werk nicht erwähnt. Aber in der Handlung von Der Kaufmann von Venedig setzen das Haus des Juden und die tägliche Interaktion zwischen Juden und Christen gerade jenen familiären Bereich der Begegnung innerhalb der Stadt voraus, einer damals vorherrschende europäische Metropole. Shakespeare muss vom Ghetto gehört haben, und er macht Shylock zu einem venezianischen Bürger. Gerade in seiner Eigenschaft als venezianischer Bürger ist es ihm möglich, seinen Rivalen Antonio zum Prozess vor den Dogen zu bringen, abgesehen davon, dass er in die unvermeidbare rechtliche Niederlage gerät, die bei Shakespeare (im Gegensatz zur italienischen Novelle) zu seiner Konversion zum Christentum führt. Heute ist Ser Giovannis Novelle ein Vermächtnis für Spezialisten, während Shylock die mächtigste Inkarnation des Stereotyps des Juden geworden ist, dessen Existenz eine Dreifaltigkeit mit Geld und Rache bildet, das Gegenteil der christlichen Barmherzigkeit. Man kann daher nicht von Shylock absehen, wenn man die Geschichte der venezianischen Juden erzählt, vor allem, weil es noch immer zu viele sind, die davon überzeugt sind, dass die Juden ein Volk des Geldes und der Rache sind.
Shylock spielt jedoch auch eine wichtige Rolle in der Geschichte des Philosemitismus, dank seines berühmten Plädoyers:
Hat nicht ein Jude Augen? Hat nicht ein Jude Hände, Gliedmassen, Werkzeuge, Sinne, Neigungen, Leidenschaften? Mit derselben Speise genährt, mit denselben Waffen verletzt, denselben Krankheiten unterworfen, mit denselben Mitteln geheilt, gewärmt und gekältet von eben dem Winter und Sommer als ein Christ? Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht? Wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht? (Der Kaufmann von Venedig, 3.1.55-59)
Fabio Mauroner, Palazzo mit Brücke im Ghetto von Venedig, 1920. Radierung, 227 x 302 mm. Venezia, Ca’ Pesaro - Galleria Internazionale d’Arte Moderna. Mit freundlicher Genehmigung: Fondazione Musei Civici di Venezia, Archivio Fotografico, MUVE Pressebüro.
Es macht nichts, ob im Lauf der Zeit Juden ein monströser Körper zugeschrieben worden ist (Juden mit dem Schwanz, männliche Juden mit dem Menstruationszyklus, Juden mit einer überproportionierten Nase) und Shylock in den folgenden Versen folgert, dass der Wunsch nach Rache das ist, was Juden und Christen verbindet. Es spielte kein Rolle, weil dieser Diskurs ein Eigenleben entwickelt hat und zu einer Art von humanitärem Manifest geworden ist: Wir sind alle gleich am Nullpunkt unserer Körperlichkeit. Und wenn Ihr mit einem Schauspieler oder Regisseur von heute sprecht, wird er euch in 99 Prozent der Fälle sagen, dass er auf der Seite von Shylock steht. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Shylock eine ambivalente Persönlichkeit ist, nie zur Gänze auf eine antisemitische Ikone reduzierbar und nie zur Gänze auslöschbar als Mensch, für den man Sympathie und Solidarität empfindet. Unter diesen Prämissen hat sich die Universität CaFoscari, in engem Dialog mit der jüdischen Gemeinde, die ja auch die Geschichte und Traditionen des Ghettos weiterträgt, auf dieses Abenteuer eingelassen.
Die Leitidee war, dass diese Premiere nicht von einer originellen Produktion absehen könne, eigens ausgedacht und geschaffen für den doppelten Jahrestag. Glücklich daher die Begegnung mit der Compagnia de Colombari, zwar aus Amerika, aber mit einer italienischen Seele, angefangen bei ihrer kreativen Regisseurin Karin Coonrod und einer internationalen Besetzung, die den kosmopolitischen Ursprung des Ghettos feiert. Die gemeinsame Arbeit zwischen der Compagnia und einer Gruppe von Studenten und Wissenschaftlerinnen, den Besten ihres Faches, an der Fondazione Giorgio Cini im Sommer 2015 für das „Shylock Projekt" war wesentlich, eine intensive Recherche- und Experimentiererfahrung, die dazu geführt, gemeinsam Shakespeare und das Ghetto zu erleben und einzustudieren, als Fundament für die Aufführung.
Das sind die Prämissen. Was das Ergebnis sein wird, kann uns nur jener Event sagen, der vom 26. Juli bis 1. August stattfinden wird (www.themerchantinvenice.org). Die Traditionalisten werden die Nase rümpfen angesichts der Wahl, dass es fünf verschiedene Schauspieler (unter ihnen eine Frau) in der Rolle von Shylock innerhalb derselben Darstellung gibt, die im englischen Original von Shakespeare geschieht, aber mit vielen Inserts in verschiedenen Sprachen, unter ihnen das jüdische Venezianisch, das im Ghetto gesprochen wurde. Jemand hat geschrieben, dass es sich um eine frevelhafte Aktion handelt, aber das gilt nicht. Wenn es sich nur um eine schöne Veranstaltung handelte, die nicht in der Lage ist, das Gewissen zu stören, würde man einem Ort nicht gerecht, dessen Name selbst zum Sinnbild der Diskriminierung geworden ist. Und es ist kein Zufall, dass neben der Theaterveranstaltung ein fiktiver Prozess gegen die Personen des Werkes abgehalten wird, dem Ruth Bader Ginsburg vorsitzt, die berühmte Richterin des Obersten Gerichtshofes der Vereinigten Staaten von Amerika.
Der Kaufmann von Venedig ist ein Schauspiel, aber auch eine symbolische Geste für eine Stadt, die immer mehr Vitrine und immer weniger Schmiede für kulturelle Produktionen ist. 500 Jahre an Geschichte einer Minderheit, die es verstanden hat, sich zu integrieren und aktiv und kreativ am Leben in Venedig teilzuhaben, berichten uns in der Tat auch von der Fähigkeit, auf die Zwänge zu reagieren, um die Freiheit jenseits der Mauern zu erreichen. Eine Mahnung, die speziell heutzutage dringend notwendig ist, in einer Situation der Spannungen und Begegnungen mit „dem Anderen". Mit einer internationalen Anstrengung, einer Teilhabe, kann das Ghetto auch weiterhin ein spiritueller, kultureller und künstlerischer Ort sein: sich seiner Vergangenheit bewusst, und offen der Zukunft gegenüber.
Aus dem Italienischen übersetzt
von Dr.in Eva Holpfer - DAVID dankt
für die Unterstützung!