Peter Schwarz: Julius Tandler. Zwischen Humanismus und Eugenik
Wien: Edition Steinbauer 2017
320 Seiten, Hardcover, 20 Abbildungen, Euro 29,00
ISBN: 978-3-902494-82-5
Mit freundlicher Genehmigung: Edition Steinbauer, Wien
Bis heute gilt der Arzt, Sozialdemokrat und Gesundheitsreformer Julius Tandler als einer der wichtigsten Pioniere des modernen Wohlfahrts- und Gesundheitssystems. Julius Tandler, der am 16. Februar 1869 in der mährischen Stadt Jihlava/Iglau geboren wird, stammt aus ärmlichen Verhältnissen. Als sein Vater als Kaufmann scheitert, zieht die Familie ca. 1871/1872 nach Wien, wo sich der Sohn das Geld für sein Mittelschul- und Universitätsstudium selbst verdienen muss. Am 27. Juli 1895 promoviert Julius Tandler zum Doktor der Medizin, vier Jahre später erfolgt die Habilitation und 1910 wird er ordentlicher Universitäts-Professor am 1. Anatomischen Institut der Universität Wien. Im Juni 1899 tritt er aus der Israelitischen Kultusgemeinde aus und konvertiert zum Katholizismus. Von 1914 bis 1917 ist Tandler als Dekan der Medizinischen Fakultät tätig und wird 1919 für ein Jahr Unterstaatssekretär der Staatsregierungen Renner und Mayer sowie Leiter des Volksgesundheitsamtes. Von 1920 bis 1933 fungiert Tandler als Gesundheitsstadtrat in Wien, wo er massgeblich am Aufbau einer sozialen Wohlfahrts- und Gesundheitspolitik beteiligt ist. Ab den 1920-er Jahren verstärken sich aber die gewaltsamen Störungen seiner Vorlesungen durch rechtsgerichtete Studenten, die Tandler wegen seines Engagements und seiner jüdischen Herkunft diffamieren. Als er während eines beruflichen Aufenthalts in China von den Februarkämpfen 1934 erfährt, kehrt er nach Wien zurück, wo er von den Austrofaschisten vorübergehend festgenommen wird und letztendlich seine Professur verliert. Tandler reist zunächst wieder nach China und folgt dann einer Einladung in die Sowjetunion, um beim Aufbau des dortigen Gesundheitssystems beratend mitzuwirken. Doch er stirbt am 25. August 1936 in Moskau, bevor er dieses Projekt in Angriff nehmen kann.
In seinem Buch Julius Tandler. Zwischen Humanismus und Eugenik befasst sich der Historiker Peter Schwarz1 auch mit Äusserungen Tandlers zu Themen der Bevölkerungspolitik und Eugenik, die aus heutiger Sicht erschreckend wirken. Der Autor beschäftigte sich mit den Schriften Tandlers sowie den Protokollen aller Wiener Gemeindratssitzungen betreffend eugenischer Aussagen. Dabei bagatellisiert Schwarz menschenverachtende Begriffe, wie „Minusvariante“ und „Minderwertige“ absolut nicht. Gleichzeitig betont er, dass „Tandler selbst ein Kritiker des eugenischen Radikalismus war, da er die Anwendung eugenischer Massnahmen an den jeweiligen medizinischen Forschungsstand und an das Rechtsempfinden der Bevölkerung gebunden wissen wollte.“ Peter Schwarz gelingt es, Tandlers inhumane Meinungen in den betreffenden zeithistorischen Rahmen einzubetten und die notwendige Balance zwischen Kritik und Anerkennung der Leistungen Tandlers zu wahren: „Julius Tandler war in seiner konkreten vielschichtigen Persönlichkeitsausprägung – in seinen Rollen als Sozialdemokrat, Jude und Freimaurer, als Anatom, Arzt, Lehrer und Dekan, als Konstitutionsforscher, Lamarckist, Menschenökonom und Eugeniker, als Unterstaatssekretär, Wiener Gesundheitsstadtrat, Sozialreformer und Begründer des Wohlfahrtsstaates (...) – letztendlich ein Repräsentant der Moderne um 1900 und nicht nur als solcher ein Mensch in seinem Widerspruch.“
Ilan Beresin
1 Peter Schwarz, geboren 1966, studierte Geschichte und Politikwissenschaft an der Universität Wien. Von 1995 bis 2012 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes und publizierte zahlreiche Publikationen zu NS-Judenverfolgung, Emigration/Exil, NS-Medizin. Er ist Co-Autor der kritischen Studie über die „braunen Flecken“ des BSA.