Ausgabe

Ritualmordvorwürfe und Pogrome

Christoph AUGUSTYNOWICZ

Der Ukaz von Zar Alexander I. vom 6. März 1817

 

Inhalt

Vor etwas mehr als 200 Jahren, am 6. März 1817 erliess der russische Zar Alexander I. (1777-1825, reg. seit 1801) einen Erlass (russ. ukaz), mit dem er verbot, Juden wegen Ritualmord-Anschuldigungen anzuklagen. Er reagierte damit auf das Gerücht, das sich seit dem Mittelalter aus dem Westen in den Osten Europas gearbeitet und auf dem gesamten Kontinent immer wieder zu antijüdischen Exzessen geführt hatte, Juden würden christliche Kinder ausbluten und das Blut für rituelle Zwecke verwenden. Der älteste belegte Fall ist der Fall des William of Norwich und geht auf das Jahr 1144 zurück, seine älteste Verbildlichung ist im Trinity College in Loddon erhalten und stammt aus dem 15. Jahrhundert (Abb. 1).

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Angebliche Ausblutung des William of Norwich,

Trinity College, Loddon (15. Jh). Quelle: Wikimedia, abgerufen am 26.11.2017.

 

Diese Ritualmord-Phantasien wanderten seit dem 12. Jahrhundert von England zügig nach Spanien, über Frankreich aber auch den Rhein entlang an den Bodensee und in die Schweiz, entlang des Main und der Donau nach Franken und Thüringen, Böhmen und Österreich. An der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit häuften sich Fälle zunächst in Oberitalien und dann in Polen, von wo aus das Motiv auch ins Russländische1 Reich vordrang. Hier hatte es bis zur Ersten Teilung Polen-Litauens (1772) praktisch keine Juden gegeben und somit auch keine Tradition von Judenverfolgung und Pogromen. Im Jahr 1897 hingegen lebten über fünf Millionen Juden im Zarenreich – die Hälfte aller Juden weltweit.

Alexanders Initiative von 1817 steht sinnbildlich für das Streben Russlands nach Aufnahme in die europäische Welt – Aberglaube sollte zurückgedrängt, Rationalismus durchgesetzt werden. Der Ukaz verkörpert aber auch die widersprüchliche und sogar rätselhafte Persönlichkeit des Zaren: Er verband in sich einerseits aufklärerische Ziele und andererseits ein autokratisches Herrschaftsideal, vertrat also die Idee, der Herrscher sei ausschliesslich sich selbst verantwortlich. In ihm wechselten einander Zaudern und Entschlossenheit ebenso ab wie rationelle Selbstreflexion und unkritischer Mystizismus. Wie sein Land stand Alexander somit zwischen rationaler Verwestlichung einerseits und orthodoxer Frömmigkeit andererseits, zwischen Modernität und Reaktion. Dem entspricht auch, dass er nach dem Ukaz-Erlass die Revision von Ritualmord-Prozessen und somit bereits getätigter Freisprüche zuliess.

Dieses Schwanken blieb übrigens paradigmatisch dafür, wie die Zaren, die ja an der Spitze der russländischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts standen, mit der jüdischen Bevölkerung unter ihrer Herrschaft umgingen. Alexanders Nachfolger, Nikolaus I. (1796-1855, reg. seit 1825), bestätigte den Ukaz von 1817 nicht und vertrat eine zusehends antijüdische Politik. Die Autonomie jüdischer Gemeinden sollte abgeschafft werden, ihre Mitglieder zur orthodoxen Kirche konvertieren – so seine Vorstellungen. Dessen Nachfolger wiederum, Alexander II. (1818-1881, reg. seit 1855), lockerte antijüdische Massnahmen, indem er die Ordnung der jüdischen Gemeinden reformierte, anstatt sie abzuschaffen; auch unter seiner Herrschaft kam es aber in den Jahren 1859 und 1871 zu physischer Gewalt gegen die jüdische Gemeinde in Odessa. Alexanders Ermordung durch revolutionäre Studenten im Jahr 1881, in deren Umkreis auch eine Jüdin agiert hatte, löste eine Welle von Pogromen in bis zu 250 Städten des Reiches aus. Wieder spielte dabei der Vorwurf des Ritualmordes eine zentrale Rolle.

Um 1900 galt das Russländische Reich bei der europäischen Öffentlichkeit als das Land der Pogrome schlechthin. Traurige Höhepunkte waren die Jahre 1903 (in Kischinjow) und 1905/06 (u.a. in Odessa). Der für seine Szenen jüdischen Lebens bekannte polnische Maler jüdischer Herkunft Maurycy Minkowski (1881-1930) hielt um 1910 seine Eindrücke eines Pogroms eindrücklich fest (Abb. 2). Europaweite Empörung löste ein in Kiev gegen Menachem Mendel Bejlis geführter Prozess aus, der zwar 1911 des Ritualmordes beschuldigt, aber wegen offensichtlich fadenscheiniger Vorwürfe schliesslich freigesprochen wurde. Angesichts derartiger Anschuldigungen und Ausschreitungen, aber auch wegen den schlechten materiellen Lebensbedingungen flüchteten viele in die USA – viele andere hatten die Möglichkeiten dazu aber nicht.

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Maurice Minkowski, Nach dem Pogrom (um 1910). Copyright frei, Quelle: The Jewish Museum, New York, Online Collection. Wikimedia, abgerufen am 26.11.2017.

 

Das Ritualmord-Motiv wirkte aber nicht nur in Russland. Durch die nationalsozialistische Propaganda übernommen, wirkte es unmittelbar auf die Shoa. Heute gehört es in Teilen islamischer Gesellschaften zum Standardrepertoire antisemitischer Stereotypen. Aber auch in Österreich wurde beispielsweise der Kult um das angebliche Opfer Anderl von Rinn in Tirol erst 1994 von Bischof Reinhold Stecher verboten – gegen erheblichen lokalen Widerstand katholisch-fundamentalistischer und rechtsextremer Kreise. In der französischen Gemeinde Glatigny (Moselle), in der es im Jahr 1670 infolge von Ritualmord-Verdächtigungen auch zu Hinrichtungen jüdischer Gemeindemitglieder gekommen war, wurde ein Bann gegen jüdischen Bevölkerungszuzug erst 2014 aufgehoben. Der Gegensatz von angeblich fortschrittlichem Westen und rückschrittlichem Osten, der den Zaren Alexander I. vor 200 Jahren beschäftigte, ist im 21. Jahrhundert in diesem Zusammenhang somit nicht mehr das vorrangige Thema – das Ritualmord-Gerücht ist heute ein global diffuses Phänomen.

 

1  „Russländisches Reich“ ist die genauere Übersetzung der offiziellen russischen Bezeichnung. Sie bringt den Vielvölkercharakter des Imperiums und die im Russischen übliche Differenzierung zwischen russkij und rossijskij zum Ausdruck. Ersteres Adjektiv ist auf das Ethnikum und die Sprache bezogen, letzteres auf den Staat.

 

Der Autor:

Univ.-Prof. Dr. Christoph Augustynowicz, geb. 1969 in Wien, ist Vizedekan der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien