Ausgabe

Orte des Terrors, Orte der Erinnerung

Tina WALZER

Neue Gedenkstätten für Opfer des NS-Regimes in Wien

 

Inhalt

Das Interesse der Wienerinnen und Wiener an der Frage, wer eigentlich aus der eigenen, unmittelbaren Nachbarschaft von den Verfolgungsmassnahmen der Nazis betroffen war, ist gross. Dieses Zurückholen der Erinnerung an die Opfer der Shoah in die Stadt, in ihre Mitte, in ihr Gedächtnis ist ein wesentlicher Schritt zur sinnstiftenden Aufarbeitung der NS-Vergangenheit. 2017 wurden drei Orte des einstigen Terrors in Wien zu Orten lebendiger Erinnerung: der Schwedenplatz, das frühere Gelände des Aspangbahnhofs und die Herminengasse in der Leopoldstadt.

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Die begleitende Dokumentation zum Projekt Herminengasse rekonstruiert Haus für Haus, Stockwerk für Stockwerk und Wohnung für Wohnung die Schicksale der verfolgten Familien. Die Broschüre ist bei allen Vorverkaufsstellen der Wiener Linien gratis erhältlich.

 

Die Grüne Politikerin Ulrike Lunacek als Anrainerin der Herminengasse hatte vor vielen Jahren die Beschäftigung mit den Verfolgten aus der Herminengasse initiert, indem sie die Wiener Linien anlässlich der Eröffnung eines neuen U-Bahnausgangs, der den Namen dieses Strassenzugs bekam, auf dieses Thema aufmerksam machte. Die Wiener Linien entwickelten daraus in der Folge in Kooperation mit dem kör- Kunst im öffentlichen Raum ein Kunstprojekt. Das Kunstwerk der Münchner Künstlerin Michaela Melián ist seit dem 19. Oktober 2017 in der U-Bahnstation Schottenring zu sehen. Es verdeutlicht in beunruhigender Dynamik den Schrecken des Terror-Regimes.

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Das Kunstwerk von Michaela Melián in der U-Bahnstation Schottenring in Wien zum Gedenken an die aus der Herminengasse in KZs Deportierten. Foto: kör, mit freundlicher Genehmigung.

 

Beim begleitenden historischen Forschungsprojekt Herminengasse ging es ganz konkret um die Klärung der Frage, welche Menschen von Verfolgungsmassnahmen betroffen waren, weil die NS-Bürokratie sie zu „Juden“ erklärte – unabhängig davon, ob diese Menschen religiös waren oder nicht, ob sie sich dem Judentum zugehörig fühlten oder nicht, ob sie konvertiert, Freidenker oder Atheisten waren. Es ging darum, möglichst viele Opfer der Shoah aus der Herminengasse zu finden. Wer hatte überhaupt in dieser kleinen Gasse zwischen 1938 und 1945 gewohnt? Wer davon war verfolgt? Was geschah mit diesen Menschen, was geschah zur gleichen Zeit mit den nicht Verfolgten, den Nachbarn? Wie soll man sich den Alltag der Verfolgten in der Herminengasse vorstellen? Ausgangsbasis für das Projekt war eine Liste des DÖW-Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands, die 631 Menschen verzeichnet, die direkt aus der Herminengasse ins KZ deportiert wurden. Die Fragestellung lautete: „Waren das alle?“ Ziel sollte sein, auf niemanden zu vergessen und so viele von den Verfolgungsmassnahmen betroffene Menschen wie möglich zu finden.

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Enthüllung der Gedenkstele am Wiener Schwedenplatz: IKG Wien-Präsident Oskar Deutsch, der Wiener Kulturstadtrat Andreas Mailath-Pokorny, das Ehepaar Beate und Serge Klarsfeld und die Organisatorin des Projekts Milli Segal, April 2017. Foto mit freundlicher Genehmigung M. Segal.

 

Die Suche nach den Opfern wurde zu einem Einblick in die Abgründe des NS-Regimes: Sämtliche Verfolgungsmassnahmen, die aus dem Dritten Reich bekannt sind, fanden auch in dieser kleinen, in keiner Weise herausragenden oder bedeutenden Gasse statt, zum Beispiel: Schulverbot, Arbeitsverbot, Enteignung, Erniedrigung, Vertreibung, Zwangsumsiedlung, Folter und gewaltsamer Tod, Selbstmord, Flucht, Deportation. Betroffen waren nicht, wie alle zunächst dachten, eine Handvoll Menschen, auch nicht zwanzig oder fünfzig oder hundert, auch nicht ein paar hundert. Es waren viel mehr: Alleine in dieser kurzen Gasse mit ihren zwanzig Häusern wurden die Schicksale von über 1.400 Menschen bekannt, die als Juden verfolgt wurden. Und das sind bei weitem nicht alle: nach weiteren Unterkunftgebern, Untermietern und selbständig gemeldeten volljährigen Kindern und Familienangehörigen, sowie nach dem weiteren Verbleib aller Gefundenen, nach Überlebenden und Nachkommen müsste weiter geforscht werden. Erst so wird die Dimension der Shoah in Wien erkennbar: die Herminengasse ist nur eine von vielen Gassen des zweiten, oder aber auch des neunten Wiener Gemeindebezirks, in der sich die Verfolgung so abgespielt hat.

Menschen wurden von den Nazis in so genannte Sammelwohnungen und Sammellager gesperrt. Was diese NS-Begriffe betont diskret umschreiben, wurde im Laufe des Projekts klarer: Besonders viele Menschen, die zuvor gewaltsam aus ihren Wohnungen und Wohnhäusern vertrieben worden waren, wurden in besonders vielen Wohnungen in den Gebäuden Herminengasse Nummer 6 und Nummer 10 zwangseinquartiert. Besonders viele Deportationen fanden dann aus diesen Häusern statt: die Zwangseinquartierten wurden in KZs weitertransportiert. Auffällig ist weiters, dass es vor allem im nordöstlichen Abschnitt der Herminengasse von der Franz Hochedlingergasse zur Grossen Schiffgasse hin in beinahe jedem Haus Wohnungen mit Zwangseinquartierten gab, die von dort aus weiter deportiert wurden. Das waren offensichtlich die sogenannten Sammelwohnungen. Sammellager und Sammelwohnungen dienten der Vorbereitung zur massenweisen Deportation von Menschen in die KZs. Wie haben die Menschen zusammengepfercht auf engstem Raum ihren Alltag zugebracht? Was heisst eigentlich „Lager“? Durften sie die Gebäude verlassen oder waren sie buchstäblich eingesperrt? Wie wurden sie versorgt, wer erledigte das, bekamen sie koschere Lebensmittel, wenn sie das wollten? War es die Israelitische Kultusgemeinde Wien, die das alles organisierte? Wie wurde das finanziert, koordiniert, wer half dabei?

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Das Mahnmal im Leon Zelman Park, auf dem ehemaligen Gelände des Aspangbahnhofs in Wiens drittem Bezirk. Foto: kör, mit freundlicher Genehmigung.

 

Was war mit den Nachbarn? Ist es denkbar, dass man einfach nicht bemerkt oder übersehen haben kann, wie in der Nachbarwohnung ständig neue Leute einziehen, wie gruppenweise Menschen mit Lastwägen weggebracht werden und nicht mehr zurückkommen? War es nicht laut dort, mit den vielen, einander wildfremden Menschen auf engstem Raum, mit den vielen Kleinkindern und Babies. Tür an Tür mit den übrigen, nicht verfolgten Bewohnern der Häuser: Konnte man das überhören und sich nichts dabei denken?

In der Zusammenarbeit mit der vom kör beauftragten Künsterin, Michaela Melián, kristallisierte sich bald ein grundsätzlicher Auffassungsunterschied zwischen Kunst und Geschichte heraus, nämlich zur Frage: wer ist ein „Opfer“? Michaela Melián entschied sich in ihrem künstlerischen Zugang dafür, jene Menschen zu würdigen, die in KZs deportiert und dort ermordet wurden. Alle anderen im Rahmen des historischen-wissenschaftlichen Forschungsprojekts gefundenen Personen – Verfolgte, Vertriebene, Überlebende – sind durch das Kunstwerk nicht repräsentiert. Umso wichtiger ist es, dass eine Begleitpublikation zum Projekt Herminengasse erstellt werden konnte. Hier werden alle Namen Verfolgter ganz bewusst genannt: es ist ein Memorbuch – ein Gedenkbuch für die jüdischen Opfer der Herminengasse. Zugleich leistet dieser Katalog die so notwendige Verortung des Terrors in der Stadt: alle Wohnungen und Familienschicksale werden aufgeschlüsselt und somit nachvollziehbar. Gerade der Dokumentationsteil, aber auch die exemplarischen Texte stellen eine Unterrichtsanleitung für Schulen und Universitäten zur Verfügung, die hoffentlich noch zu vielen weiterführenden Arbeiten über die untergegangene jüdische Welt der Stadt Wien führen wird. 

 

Georgy Halpern und die Wiener Kinder von Izieu

Mitten in Wiens Zentrum, am Schwedenplatz, wurde im April ein ganz persönlich gehaltenes Erinnerungsmal eröffnet: die Stele in memoriam Georgy Halpern und die österreichischen Kinder des Maison d‘ Izieu. Georgy war das einzige Kind von Julius (Zahnarzt, geb. 6. 6. 1905, Lemberg) und Sérafine (geb. Friedmann; Tochter von Ignaz und Sarolta; geb. 23. 9. 1907, Wien) und kam am 30. Oktober 1935 in Wien zur Welt. Die Familie wohnte in der Rotenturmstrasse 29. Nach dem Anschluss flüchtete die Familie nach Frankreich. Georgy war eines von 44 Kindern aus verschiedenen Ländern, die im Kinderheim von Izieu eine kurze Zeit die Grausamkeiten des Krieges vergessen konnten. Das begleitende Gedenkbuch  stellt eine aussergewöhnliche Sammlung und ein Zeugnis von Mut und Hoffnung eines Kindes dar, das in einem der dunkelsten Kapitel der Geschichte der Menschheit gefangen war. Georgys Hoffnung, mit seiner Familie wieder vereint zu werden erfüllte sich nicht. Am 13. April 1944 wurde Georgy zusammen mit 43 anderen Kindern auf Befehl von Klaus Barbie nach Auschwitz deportiert und sofort nach seiner Ankunft vergast. Georgys Eltern, Julius und Sérafine, überlebten den Krieg und liessen sich in Haifa, Israel, nieder. Sein Vater Julius starb am 7. April 1989, genau 45 Jahre nachdem Georgy von Lyon nach Drancy überstellt wurde, seine Mutter Sérafine am 1. November 1989.

 

Begleitpublikation: Serge Klarsfeld, In Erinnerung an Georgy (1935 – 1944). Briefe von Maizon d‘ Izieu. Bezugsquelle: 

www.millisegal.at 

 

Seit gut 20 Jahren ist es ein besonders Anliegen Martina Maschkes im Bundesministerium für Bildung, mit der von ihr initiierten Plattform erinnern.at, dass Nationalsozialismus und Holocaust im Unterricht ein Thema sind und bleiben.

 

Schienenstrang in den Tod

Am 7. September 2017 wurde auf dem ehemaligen Gelände des Wiener Aspang-Bahnhofs eine Kunstinstallation von PRINZpod zum Gedenken an die über siebenundvierzigtausend Menschen, die von hier auf 47 „Transporten“ in die KZs und in den Tod deportiert wurden, eingeweiht. Das Kunstwerk erinnert mit seiner Anspielung auf die Schienenstränge der Deportationszüge an ein Objekt zum gleichen Thema des israelischen Künstlers Dani Karavan in Köln.

Oskar Deutsch brachte in seiner Eröffnungsrede die Bedeutung der Erinnerung an die Opfer in Wien auf den Punkt: 

„Das Mahnmal Aspangbahnhof erinnert an all die Familien, Männer, Frauen und Kinder, die mitten aus Wien abtransportiert wurden. Die Bewahrung der Erinnerung im kollektiven Gedächtnis dieser Stadt ist eine wesentliche Voraussetzung für eine tolerante und solidarische Gesellschaft. In einer Zeit, wo Antisemitismus wieder im Steigen ist, Terrorismus und kriegerische Konflikte eine wachsende Gefahr darstellen, ist dieses Mahnmal eine wichtige Mahnung für die Gegenwart und die Zukunft.“

 

Gerade die jungen Generationen, für die die Ereignisse des letzten Kriegs und die Shoah beinahe schon unvorstellbar weit weg gerückt sind, da sie kaum mehr Gelegenheit hatten, persönliche Erinnerungen an diese Zeit aus erster Hand zu hören, sind aufgerufen, sich mit den Menschen jener Zeit auseinanderzusetzen, um sich vor Augen zu führen, wie gefährlich Ausgrenzung, Intoleranz und Oberflächlichkeit sein können. Möge jedem einzelnen Verfolgten seine Würde, und der Stadt ihre Erinnerung wiedergeben werden.