Thomas Harding: Sommerhaus am See. Fünf Familien und 100 Jahre deutscher Geschichte
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Ko. KG, München 2016
432 Seiten, Hardcover, 59 SW- Abbildungen, 18 Pläne, Skizzen und Karten. Euro 24,90
ISBN 978-3-423-28069-3
Die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts ist inzwischen gut erforscht, vor allem auch die dunkle Zeit von 1933 bis 1945. Und doch, mit jeder neuen Veröffentlichung von Zeitzeugen, deren Kindern oder Enkelkindern stellt man fest, dass es immer noch Neues zu entdecken gibt.
Ein treffliches Beispiel ist das hier vorgestellte Buch eines englischen Journalisten und Autors: Thomas Harding (*1968 in London) schreibt für renommierte Zeitungen wie den „Guardian“, die „Sunday Times“, den „Independent“, die „Financial Times“ – und beschäftigt sich intensiv mit Deutschland und dessen Juden in der NS-Zeit.
Die Alexanders, seine Urgrosseltern, bauen 1927 ein Sommerhaus bei Berlin am Gross Glienicker See. Der Familie geht es in den 1920er Jahren in jeder Hinsicht gut: wohlhabende, weltoffene Juden, „die deutschen Werte“ sind für sie selbstverständlich. Sie arbeiten hart, gehen ins Theater und in Konzerte, besuchen die neuesten Ausstellungen und wandern gerne im Berliner Umland. Jeden Sommer verbringen sie in dem Häuschen und geniessen das einfache ländliche Leben mit Gartenarbeit, Schwimmen im See und fröhlichen Festen mit Freunden aus Berlin.
Dann aber kommen in Deutschland andere Menschen nach oben, solche wie Robert von Schultz: überzeugter Anhänger der neuen Machthaber, verheiratet mit der Eigentümerin des Bodens, auf dem das Sommerhäuschen steht.
Noch feiern die Alexanders Hochzeiten und Geburtstage, doch dann kommt es Schlag auf Schlag: Ein Familienmitglied nach dem anderen verlässt die ungastlich gewordene Heimat, um in London neu anzufangen, andere bleiben zurück und werden im Holocaust ermordet.
In ihr Sommerhaus zieht der Komponist Wil Meisel ein, NSDAP-Mitglied, anfangs nur für einige Wochen im Sommer, dann bleibt man mehr oder minder dauerhaft – bis zur Kapitulation 1945. Es kommt zur Teilung Deutschlands und Berlins, das Sommerhaus wird durch einen Zaun vom See abgetrennt. Während der langen Jahre der Teilung zwischen Ost und West wird das Sommerhäuschen ganzjährig genutzt, zunächst von der Familie Fuhrmann, später kommt noch die Familie Kühne hinzu. Wolfgang Kühne wohnt schliesslich 40 Jahre in dem Häuschen. Danach setzt der Verfall ein. Kühnes zweite Frau nimmt ihren Enkel zu sich, der im Haus wilde Partys veranstaltet. Das bleibt nicht ohne Folgen: Das Haus ist schliesslich total verwahrlost und zugemüllt, der Garten völlig verwildert.
Dann betritt der Enkel der ursprünglichen jüdischen Besitzer die Bühne: der Autor unseres Buches! Er sucht Zeitzeugen aus dem Dorf und Helfer um das Sommerhaus zu retten. In einer grossangelegten Aktion im April 2014 räumt er mit tatkräftiger Unterstützung der Dorfbewohner den Müll aus dem Haus und befreit den verwahrlosten Garten von Unkraut. Endlich anerkennt auch die Potsdamer Denkmalschutzbehörde den historischen Wert des Sommerhauses und die Zuständigkeit des Vereins „Alexander Haus“. Nach dem Willen des Enkels und Autors wird ein Bildungszentrum und Ausstellungsort geplant, zugleich „ein Ort des Gedenkens, der Versöhnung, Entspannung und Freude“ (S. 361).
Ein Gartenhäuschen als Mikrokosmos deutscher Geschichte! Thomas Hardings „Sommerhaus am See“ liest sich spannend wie ein guter historischer Roman. Neugierig folgt der Leser den wechselvollen Ereignissen einzelnen Etappen und darf sich am Ende doch noch entspannt zurücklehnen, als das Sommerhäuschen der jüdischen Familie Alexander aus Berlin gerettet ist und Besuchern wieder seine Tore öffnet. Für jeden an deutsch-jüdischer Geschichte Interessierten eine höchst empfehlenswerte Lektüre.
Miriam Magall s.A.