Ausgabe

Martin Luthers Sicht auf das Judentum

Kristina SCHÖNBERGER

Inhalt

„Darumb hütt dich, lieber Christ, fur solchem verdampten, verzweivelten Volk, bey welchen du nichts lernen kanst, denn G‘tt und sein Wort lügenstraffen, lestern, verkeren, Propheten morden, und alle Menschen auff Erden flötziglich und hohmütiglich verachten [...].“

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Von den Juden und ihren Lügen (1543). Abbildung: Mit freundlicher Genehmigung K. Schönberger.

 

Dieses Zitat aus Luthers Spätschrift „Von den Juden und ihren Lügen“ (1543) bringt seine Einstellung über das Judentum sehr gut zum Ausdruck. Er war sein gesamtes Leben antijüdisch eingestellt. Seine Abneigung war vor allem theologisch begründet. Während seine theologischen Argumente stets gleich blieben, änderte er mit zunehmendem Alter seine Meinung im politischen und sozialen Umgang mit den Juden. In diesem Punkt war er in seinen früheren Lebensjahren weitaus milder als in seiner späten Lebensphase.

 

Der Reformator teilte seine Vorurteile mit den meisten seiner christlichen Zeitgenossen. Um 1520 standen Juden nicht mehr als 1/9 der deutschen Städte offen, weshalb sie sich allgemein eher auf dem Lande ansiedelten. Es war generell eine schlechte Zeit für Juden in Europa. Luther selbst hielt sich die meiste Zeit seines Lebens in „judenfreien“ Städten auf (Eisenach, Magdeburg, Wittenberg, Mansfeld etc.). In Wittenberg warb eine Werbeschrift für Studenten 1507 sogar damit, dass die Stadt „judenfrei“ wäre. Luther hatte kaum persönliche Kontakte zur jüdischen Bevölkerung. Bei vielen Schilderungen über Begegnungen mit Juden handelt es sich um Legenden, die meist von Luthers Anhängern verfasst wurden, um die Überlegenheit des Reformators zu demonstrieren.

 

Luthers negative Sicht auf Juden war weniger von Erfahrungen, sondern eher von Exegese, theologischen Argumenten und religionspolitischen Erwägungen geprägt. Ressentiments waren tief in ihm verwurzelt. Luthers Juden waren konstruierte Menschen. Sein Judenbild stammte aus schriftlichen Überlieferungen, ihm zugetragenen Nachrichten und seinen eigenen (geheimen) Fantasien. Andererseits war sein Judenbild aber auch das Produkt der damaligen Umstände und der allgemeinen Ängste der Zeitgenossen. Luther erfand keine neuen antijüdischen Argumente, sondern übernahm diese aus der christlichen Tradition aus der Antike und dem Mittelalter (Juden als Mörder Christi/Prophetenmörder, Judentum als blosse Gesetzesreligion usw.).

 

Martin Luther beschäftigte sich sein Leben lang mit dem Thema „Judentum“. Charakteristisch an Luthers Schriften ist, dass er immer über Juden schrieb, jedoch nie zu ihnen oder gar mit ihnen. Seine Adressaten waren stets Christen, die er mit seinen Schriften stärken wollte. Er selbst besass und las keine jüdischen Schriften, sodass er sich nur auf Informationen aus zweiter Hand verlassen konnte.

Luther konnte nicht akzeptieren, dass Juden Jesus als Messias ablehnten. Seiner Meinung nach wurde die Heilige Schrift von ihnen falsch interpretiert. In seinen Augen war das Judentum eine blosse Zeremonialreligion geworden, der Rituale wichtiger waren als das Wort G‘ttes. Luther warf der jüdischen Bevölkerung oft vor, nicht auf das Wort G‘ttes zu hören. Er unterschied streng zwischen den jüdischen Patriarchen und Propheten des Alten Testaments („guten“, “authentischen“ Juden) und seinen jüdischen zeitgenössischen („bösen“ Juden). Erstere hätten, seiner Überzeugung nach, an das Evangelium geglaubt, da G‘tt dieses Abraham verheissen hatte. 

 

Schon zu biblischen Zeiten verehrte das jüdische Volk Götzen und brach, nach Ansicht Luthers, die Gesetze G‘ttes. Die alttestamentlichen Propheten kritisierten dieses Vorgehen und wurden deswegen immer wieder verfolgt und ermordet. Der Prophetenmord ist ein immer wiederkehrendes Argument Luthers in seinen Schriften.

 

Er sah Juden Zeit seines Lebens als hochmütig an, weil sie am Erwählungsgedanken durch G‘tt festhielten. Sie hatten exklusive Ansprüche und konnten es nicht ertragen, dass auch andere Völker von G‘tt erwählt werden. Juden sind, laut Luther, durch ihre falsche Auslegung der Schrift von G‘tt verworfen. Sie haben deswegen einen schlechten Charakter und müssen ständig lügen und Christen verspotten. Als „Beweis“ für die göttliche Verwerfung sah der Reformator die Zerstörung Jerusalems vor ca. 1500 Jahren (gerechnet von Luthers Zeit). 

 

Andere mittelalterliche Argumente (Hostienschändung, Brunnenvergiftung, Ritualmordanklagen, etc.) lehnte er in seinen jüngeren Jahren (um 1520) noch ab. In seiner letzten Lebensphase jedoch bejahte er diese als Geschichten mit möglichem wahren Kern. Der späte Luther war so gesehen „mittelalterlicher“ als der jüngere Luther. 

 

Luthers theologische Argumente blieben stets dieselben, seine politischen Vorschläge zum Umgang mit Juden änderten sich jedoch und wurden immer radikaler. Zu Beginn seiner Tätigkeit als Professor äusserte er sich noch relativ mild im Umgang mit den Juden. Er forderte in seiner Schrift „Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei“ (1523) soziale Massnahmen, um Juden die Bekehrung zum Christentum zu erleichtern. Sie sollten wie Menschen behandelt werden, regelmässigen Bibelunterricht bekommen und nicht mehr in Ghettos leben. Erst der enge positive Alltagskontakt zu den Christen fördere aktiv die Hinwendung zum Glauben. Für Luther war das Judentum nie gleichwertig mit dem Christentum. Juden mussten, seiner Meinung nach, unbedingt bekehrt werden. Er warf der katholischen Kirche vor, bei der Missionierung versagt zu haben und war zu Beginn noch von einem Erfolg der Reformation bei der Missionierung der Juden überzeugt.

 

Luther wurde in seinen späteren Lebensjahren immer verbitterter und menschlich härter, was wohl auch mit seinen zunehmenden körperlichen Leiden zusammenhing. Viele seiner Hoffnungen und Erwartungen hatten sich nicht erfüllt (z. B. Bekehrung der Juden). Auch seine Forderungen wurden immer brutaler. So plädierte er in seiner bekannten Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ (1543) für das Niederbrennen jüdischer Häuser und Synagogen und eine Arbeitspflicht für junge Juden, da diese zu faul zum Arbeiten wären. Er appellierte dabei vor allem an die Politik, besonders in den reformatorischen Territorien. 

 

Luther formulierte also klare antijüdische politische Ziele, die (systematische) Tötung von Juden schloss der Reformator jedoch aus.

 

Primärliteratur (gedruckte Quellen):

Martin Luther: Werke. Kritische Gesamtausgabe („Weimarer Ausgabe“). Weimar: 1883ff.

Martin Luther: Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei 1523: WA 11, 314-336.

Martin Luther: Von den Juden und ihren Lügen 1543: WA 53, 417-552.

Sekundärliteratur (Auswahl):

Albrecht Beutel: Martin Luther. Eine Einführung in Leben, Werk und Wirkung, 2. verbesserte Auflage. Leipzig 2000.

Walther Bienert: Martin Luther und die Juden. Ein Quellenbuch mit zeitgenössischen Illustrationen, mit Einführungen und Erläuterungen. Frankfurt am Main 1982.

Thomas Kaufmann: Luthers „Judenschriften“. Ein Beitrag zu ihrer historischen Kontextualisierung. Tübingen 2011.

Thomas Kaufmann: Luthers Juden. Stuttgart 2014.

Christiane Müller: Martin Luther und die Juden. In: Freiburger Rundbrief 4 (1997), S. 14-25.

Stefan Schreiner: Was Luther vom Judentum wissen konnte. In: Heinz Kremsers (Hrsg.): Die Juden und Martin Luther – Martin Luther und die Juden. Geschichte, Wirkungsgeschichte, Herausforderung. Neukirchen 1985, S. 58-71.