Zum 35. Todestag der Kantorenlegende Schalom Katz
Das jüdische Totengebet „El male rachamim“ ist vermutlich im Mittelalter entstanden und wurde 1626 erstmals schriftlich genannt. Es ist eng mit der Legende des Kantors Hirsch von Ziviotow verknüpft, dessen mitreissender Vortrag 1648 auf dem Höhepunkt des Kosakenaufstandes unter der Führung Bogdan Chmelnyzkyjs die Tartaren so gerührt haben soll, dass sie von der Ermordung 3000 zusammengetriebener Juden abgelassen haben.
Schalom Katz. Foto: Lester Krauss. Mit freundlicher Genehmigung: G. Gatscher-Riedl.
Rund drei Jahrhunderte später sahen sich 1942 rund 1600 Juden in der Kleinstadt Brailow (Brajiliw, Ukraine) mit demselben Schicksal konfrontiert. Am 12. Dezember wurden die Juden auf die Felder in Marsch gesetzt, wo sie ihre Gräber ausheben sollten. Nachdem die Grube geschaufelt war, trat der damals 27-jährige Schalom Katz, vormals Kantor in Kischinau (Chișinău, Moldawien) vor den Anführer des deutschen Einsatzkommandos mit der Bitte, noch ein Gebet vortragen zu dürfen. Der SS-Offizier antwortete, „In Ordnung, Jude, stirb‘ singend!“. Während die Maschinenpistolen knatterten und das Blut den Schnee rot färbte, sang der Kantor „El male rachamim“ und erwartete seinen eigenen, sicheren Tod. Der Kommandant fand jedoch Gefallen an Katz‘ Tenorstimme und liess ihn als Einzigen am Leben. Nachdem er mehrere Abende für die Wachmannschaften gesungen hatte, gelang ihm auf abenteuerlichem Weg die Flucht, die erst 1944 mit dem Einmarsch der Roten Armee ein Ende fand.
Am 4. April 1914 war in Grosswardein/Nagyvárad (Oradea, Rumänien) an derlei Katastrophen nicht zu denken. Den Eheleuten Benjamin und Yolanda Katz wurde ein Sohn geboren, der bald eine aussergewöhnliche musikalische Begabung an den Tag legte. Bereits als Fünfjähriger trat das „Wunderkind“ in der orthodoxen Synagoge seiner Heimatstadt öffentlich auf. Grosswardein war nunmehr Teil des rumänischen Staates geworden, was aber der Bedeutung der rund 70.000 Einwohner zählenden Handels-und Verkehrsknotenpunktes keinen Abbruch tat. Die Stadt am Übergang der ungarischen Tiefebene zu Siebenbürgen erlebte insbesondere am Ende des 19. und zu Anfang des 20. Jahrhunderts einen gewaltigen wirtschaftlichen Aufschwung, nicht zuletzt dank ihrer talentierten und wirtschaftlich aktiven jüdischen Einwohnerschaft, deren Anteil rund ein Viertel der Bevölkerung ausmachte. Seit 1753 bestand eine Chewra Kadischa, seit 1803 eine Synagoge und die 1856 gegründete Jeschiwa erfreute sich eines ausgezeichneten Rufes. 1869 hatte sich die Gemeinde in eine orthodoxe und eine neologe Richtung, jeweils mit eigenen Synagogen, aufgespalten. Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges siedelte sich Rabbi Yisrael Hager (1860-1936), Oberhaupt der Wischnitzer-Dynastie, in der Stadt an und machte sie zu einem Zentrum des Chassidismus.
Ort des ersten öffentlichen Auftritts: Die orthodoxe Synagoge der Geburtsstadt Grosswardein (Oradea, Rumänien). Foto: Dragos/Wikimedia Commons /CC BY 3.0
Musikalisches „Wunderkind“ mit Ausbildung in Wien
Seine Eltern und auch die Gemeinde seiner Heimatstadt unterstützten die musikalische Ausbildung, so dass Katz bereits im Alter seiner Bar Mitzwah mit 13 Jahren über eine abgeschlossene Ausbildung als Chazzan (Kantor) verfügte und auch die Ausbildung zum Rabbiner abschliessen konnte. Um seine Stimmbildung zu vervollkommnen, ging Katz in der Folge nach Wien, das seit Salomon Sulzer (1804-1890), dem gefeierten Oberkantor der Wiener Kultusgemeinde, auch die Welthauptstadt der jüdischen Liturgiemusik war. Sulzer, Professor für Gesang am Wiener Konservatorium, gilt als der Urheber des „Wiener Ritus“, einer gemässigten Art der Reform, die sowohl von Erneuerern als auch von Traditionalisten angenommen wurde und die Grundlage der neologen Bewegung in Ungarn bildete. Sulzer schuf einen neuen Musikstil, der vom Chorschaffen der Wiener Romantik stark beeinflusst war und die bisher vom Bariton eingenommene Kantorenstimme für die Tenorlage öffnete. Katz studierte an der Wiener Musikakademie, der heutigen Universität für Musik und darstellende Kunst ,bei Fritzi Lahr-Goldschmied und nahm Stunden beim gefeierten Bariton Franz Steiner (1876-1954).
1935 erhielt er einen Dreijahres-Vertrag als Nachfolger von Yankl Chaim Zypries (1890-1941) an der Choral-Synagoge in Kischinau, mit 60.000 Juden und 77 Synagogen und Bethäusern eines der wichtigsten jüdischen Zentren in Gross-Rumänien. Der Synagogengesang hatte in der Stadt eine lange Tradition: Nissi Belzer Spivak (1824-1906) galt um die Mitte des 19. Jahrhunderts als bedeutender Kantor, in dessen Chor Zigmund Mogulesko (1858-1914) als „meshoyrer“ erste Erfahrungen sammelte.
Daneben gab Katz mehrere Gastauftritte, so etwa in der „Fraterna-Synagoge“ in Bukarest gemeinsam mit Ephraim Fischel Goldberg. Am 16. und 17. Mai 1937 sang er als Vorbeter zu den Schawuot-Feiertagen in Wien auf Einladung der Sektion Prater des Zionistenverbandes. Der letzte Aufenthalt in seiner Studienstadt ist für den Jänner 1938 dokumentiert. In diesen Jahren perfektionierte er den aschkenasischen Synagogengesang der „Khorschul“, mit virtuosen Partien des Vorbeters, die vom Männer- und/oder Knabenchor aufgegriffen wurden.
Aufnahme von „El male rachamim“ beim Zionistenkongress 1946
Die musikalische Blüte wurde durch den deutschen Einmarsch jäh unterbrochen. Ein Neubeginn war nach Kriegsende in Bukarest möglich, wo Katz die Stelle des Oberkantors an der Grossen Synagoge einnahm. Konzerte im Ausland folgten, so langte etwa eine Einladung zum 22. Zionistenkongress im Dezember 1946 nach Basel ein, der letzten derartigen Konferenz in Europa. Vor der Eröffnung ersuchte der Präsident der zionistischen Weltorganisation Chaim Weitzmann (1874-1952) Katz um das Totengebet „El male rachamim“ zur Erinnerung an die Opfer der Schoah. Spontan fügte Katz während des Vortrags dem Gebetstext die Namen der Vernichtungslager Auschwitz, Majdanek und Treblinka hinzu und schuf so jene Version, die bis heute im aschkenasischen Judentum verbreitet ist.
Die Choral-Synogoge in Kischinau (Kischinew, Moldawien), Katz‘ Wirkungsstätte ab 1935. Alte Ansichtskarte.
Kurze Zeit darauf gastierte Katz in Prag, wo er, begleitet vom ungarischstämmigen Organisten Ladislav Vachulka (1910-1986), und damit eigentlich unüblich für die orthodoxe Praxis, für das tschechoslowakische Label „Ultraphon“ eine Schallplattenaufnahme von „El male rachamim“ einspielte. Unter dem Eindruck des drohenden kommunistischen Staatsstreichs verliess Katz 1947 Rumänien und wanderte in die Vereinigten Staaten aus, wie bereits einer seiner bekanntesten Vorgänger, Jacob Samuel Magarowsky (1856-1942), der von 1885 bis 1895 als Kantor in Kischinau wirkte und ab 1914 seine Karriere in den USA fortsetzen konnte.
Ein Kantor als Rekordhalter bei Schallplattenverkäufen
Seine Wirkungsstätte bildete für die nächsten zehn Jahre die „Modern Orthodox Beth Sholom“-Synagoge in der Hauptstadt Washington. Die 1946 in Prag entstandene Aufnahme von „El male rachamim“ gewann 1954 den französischen Musikpreis „Gran Prix du Disque“ 1952 wurde Katz mit der Wahl zum „Cantor of the year“ durch das „World Committee of the Furtherance of Jewish Education“ geehrt. Für den Holocaust-Überlebenden muss es einen besonderen Stellenwert dargestellt haben, am Film „Operation Eichmann“ mit Werner Klemperer mitgewirkt zu haben. 1970 kehrte Katz in die Kinosäle zurück, als Vittorio de Sica mit der mittlerweile legendär gewordene Aufnahme von „El male rachamim“ die Schlusszenen seines mit zwei Oscars prämierten Filmes Der Garten der Finzi Contini unterlegte. Die Schallplattenaufnahme verkaufte sich in der Folge über 300.000mal und stellte in den USA einen neuen Rekord für fremdsprachige Tonträger auf.
Katz hatte das Kantorenamt mittlerweile aufgegeben und erlebte eine zweite Karriere als lyrischer Spinto-Tenor mit Auftritten in der Carnegie Hall, Madison Square Garden im Kennedy Center und in Konzertsälen in Israel, Europa, Südamerika und Kanada. Von 1956 an hatte er regelmässige Engagements in Kutsher‘s Country Club in den Catskill Mountains in Upstate New York, einem Urlaubsresort, das ironisch als „Jewish Alps“ oder „Borscht Belt“ in Anlehnung an den evangeliken „Bible Belt“ des Mittelwestens genannt wurde. Katz starb überraschend am 20. Februar 1982 an den Folgen eines Herzinfarkts im Walter-Reed-Militärkrankenhaus in Washington. Katz war vom „musikalischen Wunderkind“ seiner österreichisch-ungarischen Heimat zu einem der bekanntesten Kantoren der USA geworden, der rund 160 Schallplattenaufnahmen hinterlassen hat. Vor allem aber hat er mit seiner mittlerweile kanonischen Version des Trauergebets „El male rachamim“ den sechs Millionen Opfern der Schoah ein würdiges und bleibendes musikalisches Gedächtnis geschaffen.
Literatur: A Brand Plucked from the Holocaust: Sholom Katz (1915-1982). In: Joseph A. Levine, Richard Berlin (Hg.), Hazzanut in the 20th century and beyond. (= Journal of Synagogue Music, Jg. 36, Fairlawn 2011); Jonathan Friedmann, Synagogue Song. An Introduction to Concepts, Theories and Customs. (Jefferson 2012); Günther Grünsteudel, Musik für die Synagoge. Die Sammlung Marcel Lorand der Universitätsbibliothek Augsburg. Historische Einführung und Katalog. (Augsburg 2008); Elizabeth McAllister, Sholom Katz, Noted Cantor, Rabbi, Dies. In: Washington Post, 25. Februar 1982; Teréz Mózes, Evreii din Oradea. (Bukarest 1997); Velvel Pasternak, The Jewish Music Companion. Historical Overview , Personalities, annotated Folksongs.(Cedarhurst 2002); Lee Stern, Who is who in music: A complete presentation of the contemporary musical scene, with a master record catalogue (Chicago 1951); Die Stimme, Wien, 15. Mai 1937, 12. Jänner 1938, 26. Jänner 1938.