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Wohin mit den Alten?

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Miriam Magall: Auf dem Obasute-Yama. Oder: Verwirf mich nicht in meinem Alter!

Lich/Hessen: Edition AV 2014.

435 Seiten, Euro 19,50 [D], Euro 20,10 [A].

ISBN 978-3-86841-097-6

Alte Menschen sollten ab einem bestimmten Alter weder neue Hüftgelenke noch Zahnprothesen bekommen. Diese Meinung vertreten nicht gerade wenige der jungen deutschen Politiker, die ihr eigenes Wohlergehen im Alter durch die heutigen Alten gefährdet sehen. Nach einem Aufschrei der breiten Öffentlichkeit haben sie ihre kühnen Thesen mittlerweile zwar zurückgenommen; wie es in ihren Köpfen aussieht, weiss man dagegen nicht. Und so ist es kein Wunder, dass der heimliche Groll immer wieder in der öffentlichen Debatte auftaucht, wenn die Politik den Alten etwas mehr Rente, etwas finanzielle Erleichterung gönnen möchte.

Genau dieses Themas hat sich Miriam Magall angenommen, die heute beinahe 72-jährige Schriftstellerin, die es erst im zarten Alter von 63 Jahren gewagt hat, sich ausschliesslich auf das Schreiben zu verlegen. Davor hat sie in jahrzehntelanger Fleissarbeit rund 300 Bücher übersetzt und jedes Jahr an 60 bis 100 Tagen in der Dolmetscherkabine einer internationalen Organisation dafür gesorgt, dass sich Politiker, Wissenschaftler und Denker aus der ganzen Welt untereinander verständigen können.

Man ist sie gewöhnt, diese Familiengeschichten mit Mama und Papa, mit Omi und Opi, mit Hund und mit Katze, die in Hintertupfingen oder in Seldwyla spielen. Kleine, beschauliche Orte mit braun angehauchter Vergangenheit, was den Geschichten ein leicht verruchtes Gepräge verleiht. Die Verfasserinnen und Verfasser werden für ihre Mühen mit Preisen überhäuft. Denn man liebt sie doch so sehr, diese kleinen und kleinkarierten Geschichtchen, in denen sich jeder wiedererkennt.

Und dann kommt sie, Miriam Magall, und erzählt Verstörendes. Ihr erster Roman „Die Blut-Braut", damals noch verschämt unter Pseudonym Rachel Kochawi veröffentlicht, erzählt von einer anderen Idylle in einem fernen Land. Von „Siedlern" und von „Freiheitskämpfern", von geplantem Mord und tatsächlich ausgeführtem Massenmord. Darauf lässt Magall die romantische Liebesgeschichte zwischen einer jungen schönen Israelin und einem alternden Wissenschaftler auf dem noch ferneren Hokkaido folgen. Nein, keine ästhetische Teezeremonie und auch keine blühenden Kirschbäume. Am Ende das rätselhafte Verschwinden der Protagonistin. In ihrem dritten Roman plaudert Miriam Magall alias Rachel Kochawi aus ihrem Leben, genauer: sie berichtet von ihrem Leben von 0 bis 25 Jahren. Eine berührende Geschichte, wie selbst kritische Geister eingestehen müssen. Aber warum versteift sie sich darauf, das Ganze aus der Warte des allwissenden Erzählers zu berichten? Warum schreibt sie nicht „Und ich ... und ich ... und ich"? Das wäre, meinen viele, doch weitaus anrührender. Ja, und der Autorin viel zu nahe, meint diese. Denn für sie ist gerade diese Geschichte ihre Psychoanalyse, sie soll sie heilen vom Trauma ihrer Kindheit und Jugend.

Viel Mühe gibt sie sich mit dem Aufbau ihrer Geschichten: einmal konstruiert wie ein Brechtsches  Drama; in „Nakajima" Anklänge an den berühmten Film „Raschomon". „Das Brot der Armut. Die Geschichte eines versteckten jüdischen Kindes" ist angelegt wie die Pessach-Haggada, beginnend mit dem Kiddusch als Einleitung; darauf folgen Sklaverei und die Wanderung in der Wüste, um schliesslich zum Hallel, zum Lob zu gelangen.

Für ihren vierten Roman hat sich Magall - diesmal erscheint das Buch unter ihrem richtigen Namen - ein berühmtes Vorbild genommen: das „Dekameron" von Boccaccio. Zur Zeit der grossen Pest in Florenz flieht eine Gruppe junger Menschen in die sicheren Berge. Dort in der Abgeschlossenheit erzählen sie sich Geschichten, bis sie wieder zurück nach Hause können. In einem Dorf auf Nord-Honschu herrscht um 1700 eine bittere Hungersnot. Die Dorfbewohner beschliessen, ihre Alten auf dem Vulkan über dem Dorf auszusetzen, um sich überflüssige Esser vom Hals zu schaffen. Genau das geschieht auch in „Auf dem Obasute-Yama. Verwirf mich nicht in meinem Alter!" Mit einem Unterschied: Man wandelt zwischen den Zeiten, zwischen den Ländern und den Kontinenten. Die Alten bekommen ein modernes Altenheim auf dem Vulkan, werden mit modernsten Geräten behandelt und, vor allem, überwacht. Genau wie ihre Vorgänger in den Bergen vor Florenz 600 Jahre zuvor erzählen sich die Alten zum Zeitvertreib jeden Nachmittag Geschichten. Es sind, wie es im Pressetext heisst, Magalls eigene Alpträume der vergangenen dreissig, vierzig Jahre, gesammelt über einen langen Zeitraum und daher inhaltlich wie sprachlich sehr verschieden - und doch packend, fesselnd. Der Leser möchte wissen, wie es den Alten weiter ergeht, wer welche Geschichte wie erzählt. Wer das dicke Buch einmal in die Hand genommen hat, legt es nicht so schnell wieder weg.

„Auf dem Obasute-Yama" erinnert in seiner Struktur an die Zeit zwischen Pessach und Schawuot, dem Wochenfest. In diesen sieben Wochen bzw. fünfzig Tagen wird in jüdischen Kreisen „Omer" gezählt: „Der erste Tag der ersten Woche", „Der zweite Tag der ersten Woche" und so fort bis zum 49. Tag der siebten Woche. Auf dem Obasute-Yama geht die Omer-Zählung am siebenten Tag der vierten Woche jäh zu Ende.

Je mehr Romane Miriam Magall schreibt, desto anspruchsvoller wird ihre Sprache, wird die Struktur ihrer Romane verschlungener. Man darf gespannt auf ihren nächsten Roman sein.